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Er konnte sich erinnern, dass er 911 angerufen hatte und gebrüllt hatte, dass die Polizei zur Grundschule von Lost Hills fahren sollte, obwohl sein Büro nur sieben Blocks entfernt lag und er wusste, dass er vor ihnen da sein würde. Er konnte sich erinnern, dass er zwei, drei Mal auf dem Anrufbeantworter der Schule gelandet war und die elektronische Stimme anschrie, die ihm endlose Wahlmöglichkeiten herunterleierte. Er konnte sich erinnern, dass er instinktiv Annabels Handynummer gewählt hatte. Als die Mailbox ansprang – »Hallo, hier ist Annabel. Wahrscheinlich suche ich mein Handy gerade in dem Spalt zwischen …« – fiel ihm wieder ein, dass sie ihn ja gerade von eben diesem Telefon angerufen hatten, das er jetzt anwählte.

Er verfluchte seine Dummheit und wählte ihre Festnetznummer, während er die Hupe gedrückt hielt und eine rote Ampel überfuhr. Aber auch zu Hause ging nur der Anrufbeantworter an. War Annabel denn noch nicht von ihrem Praktikum zurück? Nach dem Piepston hörte er sich selbst sagen: »… sie haben sie in der Schule gekriegt ich hab 911 angerufen ich bin nur noch drei Blocks weit weg zwei verdammt ich hab doch gleich gewusst dass wir sie nicht in die Schule lassen sollten …« Er war wütend auf sich selbst, dass er Kat aus den Augen gelassen hatte, dass er auf Annabel gehört hatte, und seine ganze blinde Angst und Wut suchten sich ein Ventil, durch das sie aus ihm herausbrechen konnten.

Er schlidderte auf den Schulparkplatz, verpasste haarscharf eine Mutter, die gerade einen Geburtstagskuchen aus dem Kofferraum nahm, und Kats Lehrerin aus der ersten Klasse, die ihm nachstarrte, nachdem er mit zwei Rädern auf der Bordsteinkante geparkt hatte und aus dem Wagen sprang, ohne die Autotür wieder zuzumachen. Sie schwang noch leicht hin und her, während er bereits durch das Sekretariat sprintete – »Wo ist Katherine Wingate meine Tochter wo ist meine« – und durch die Seitentür auf den Pausenhof, hinter sich ein Panorama verblüffter Gesichter. Keine Kinder weit und breit – die Pause war bereits vorbei.

Das bunte Springseil lag auf dem Asphalt, schlaff und schlangenartig.

Sein schweißgetränktes Hemd klebte ihm am Körper, als er zu der Stelle schoss, im Kreis lief und den Namen seiner Tochter schrie. Dann ließ er sich auf die Knie fallen, wo das Springseil lag, auf dem harten Boden schlug er sich ein Loch in die Jeans, und er senkte den Kopf.

Durch die Kakophonie in seinem Gehirn meinte er ihre Stimme zu hören, hell und rein. Daddy?

Da war es wieder. »Daddy?«

Er drehte sich um. Sie saß auf einer Bank am Rand des Pausenhofs und ließ sich von der vor ihr kauernden Schulkrankenschwester das blutige Knie verarzten.

Das konnte nicht wahr sein.

Er rannte zu ihr, konnte es aber erst fassen, als er sie berührte.

Die Krankenschwester stand verwirrt auf, als er neben sie trat.

»Hallo, Dad – du hast dir ja das Knie aufgeschlagen, genau wie ich.«

Er packte Kat an den Armen und riss sie an sich.

»Aua. Dad. Dad. Mein Knie. Das tut weh.«

»Wie ist das passiert?«, fragte er.

»Die Kinder schlagen sich beim Spielen schon mal ein Knie auf«, antwortete die Krankenschwester trocken.

»Nein, hier war ein erwachsener Mann, der sie zu Boden geschubst hat.«

»Wie konntest du das sehen?«, wollte Kat wissen. »Der war riesig. Und er ist einfach weitergegangen. Der hat nicht Entschuldigung gesagt und nichts.«

»In der Sporthalle werden gerade ein paar Reparaturen durchgeführt«, erklärte die Krankenschwester. »Ich bin sicher, dass einer der Arbeiter versehentlich …«

Mike zog Kat eilig mit sich, fort vom Pausenhof, durch das verblüffte Schweigen im Sekretariat und um sein quer über den Gehweg geparktes Auto herum zur Beifahrertür.

Neben ihnen kam mit quietschenden Reifen ein Wagen zum Stehen. Mike brachte Kat hinter sich in Sicherheit und streckte die Hand gegen den Kühler aus, als wäre er Superman, der mit einer Hand einen Hochgeschwindigkeitszug aufhält. In der Luft der beißende Gestank von verbranntem Gummi. Der Kühlergrill eines Lieferwagens heiß unter seiner Handfläche. Ein Meter weiter, und er wäre überfahren worden.

Die Farbe des Wagens – weiß – drang ihm mit Verzögerung ins Bewusstsein. In langsam brennendem Grauen hob Mike den Blick zur Windschutzscheibe. William mit seinen zuckenden Pupillen saß am Steuer, und ein Lächeln klaffte im fahlen Oval seines Gesichts. Auf dem Beifahrersitz saß Dodge, der sich, ohne die Augen von Mike zu nehmen, zwei gespreizte Finger an die Kehle hielt und sie in die blasse Haut über seiner Luftröhre bohrte.

Der Motor heulte auf, und Mike hob Kat mit einem Arm auf den Gehweg. Als sich der Kühlergrill auf ihn zubewegte, ließ er sich zur Seite rollen und konnte aus dem Augenwinkel noch einen Blick auf Dodge erhaschen, der ihn mit ausdrucksloser Miene anstarrte.

»Verdammte Scheiße, Dad. Der Typ hätte uns beinahe umgebracht.«

Kat, die hinter seinem Rücken stand, hatte nicht gesehen, wer am Steuer saß.

»Ab ins Auto«, befahl er. »Wir müssen los.«

»Es ist doch bloß ein Knie, Dad. Deswegen muss ich nicht nach Hause.«

»Wir nehmen uns den Tag frei, mein Schatz.«

»Ist das wieder so ein …«

»Du musst mir jetzt unbedingt vertrauen. Später werd ich dir alles erklären.«

Er stieg aufs Gas, schoss aus dem Parkplatz und wählte dabei ihre Festnetznummer. Anrufbeantworter.

Im Rückspiegel beobachtete er Kats Gesichtsausdruck, während sie zunächst noch über die Geschehnisse nachgrübelte, dann aber zu anderen Gedanken überging. »Du, stell dir vor, heute im Unterricht wollte Kyle Safranski einfach nicht still sein, als wir laut vorgelesen haben. Der hat die ganze Zeit weitergeredet, und irgendwann sagt Bahar so: ›Halt die Klappe, Safurzki!‹«

Wiederwahl. Anrufbeantworter. Als er Annabels ruhige Stimme hörte, überfluteten ihn die Schuldgefühle, seine Aufregung vorhin an ihr ausgelassen zu haben – Verdammt, ich hab doch gleich gewusst, dass wir sie nicht in die Schule lassen sollten.

»Ich hab sie«, sprach er ins Telefon. »Es geht ihr gut, wir kommen jetzt nach Hause.«

»Wie Safranski, bloß mit furz in der Mitte.«

Er spähte auf die Straße und warf Kontrollblicke in alle Spiegel, aber der weiße Van war verschwunden. »Ja, mein Schatz, ich hab schon verstanden.«

Das Bild wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen: Dodge, der sich zwei Finger in den Hals bohrte, sie fest ins Fleisch drückte, während seine unergründlichen schwarzen Haifischaugen auf ihn gerichtet waren. Das war unter Gefängnisinsassen eine bekannte Geste, deren Bedeutung nicht misszuverstehen war: Du bist dran.

Er rückte den Rückspiegel zurecht und checkte den Gegenverkehr. Er konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen, die Türen abzuschließen, Shep zu rufen und weiter an ihren Verteidigungsstrategien zu arbeiten.

»… ihren ganzen Traubensaft über Sages Bein verschüttet. Oder?«

Er wühlte in der Mittelkonsole und reichte ihr die Kopfhörer. »Schätzchen, möchtest du dir nicht eine Show angucken?«

»Wie – erst holst du mich zu früh aus der Schule ab und jetzt darf ich auch noch Hannah Montana gucken?« Sie setzte sich den Kopfhörer auf und lehnte sich zufrieden zurück.

An der roten Ampel trommelten seine Hände aufs Lenkrad. Zu guter Letzt bog er endlich in ihre Straße ein und lenkte den Wagen auf ihre Auffahrt. Annabels Auto stand in der Garage. Sie musste gerade heimgekommen sein. Wahrscheinlich hörte sie gerade seine Nachrichten ab.

Er wartete, bis sich die Garagentür hinter ihnen geschlossen hatte, dann drehte er sich zu Kat um. »Magst du sitzen bleiben und dir die Sendung zu Ende angucken?« Er wollte nicht, dass sie Angst bekam, wenn er Annabel alles erklärte.

»Was?«

Er beugte sich nach hinten, zog ihr den Kopfhörer von einem Ohr weg und stellte seine Frage noch einmal. Sie nickte nur und glitt wieder in ihre Fernsehtrance.

Mike stieg aus, wischte sich die Handflächen an der Jeans ab und überlegte, wie er Annabel das alles beibringen sollte. Die Tür, die von der Garage in die Küche führte, schwang in den wohlgeölten Angeln auf.

Er nahm die ganze Szenerie auf einmal in sich auf.

Die Handtasche und die Büchertasche seiner Frau lagen auf der Arbeitsplatte neben der Omelette-Pfanne. Vor dem Kamin im Wohnzimmer kauerte ein Mann, der Mike den gebeugten Rücken zuwandte und ihn noch gar nicht bemerkt hatte. Ein blutüberströmtes Messer zitterte in seiner Faust. Ein schreckliches Keuchen. Ein blasses Frauenbein schaute hinter der linken Hüfte des Mannes hervor, mit einer vertrauten braunen Sandale am Fuß.

Es war Annabel, die auf dem Wohnzimmerboden lag und verblutete.