31
Die Leichenhalle roch unnatürlich sauber. William ging mit deutlich schlurfenden Schritten den Korridor entlang, wobei seine Schuhsohlen ein leise quietschendes Geräusch auf den Fliesen machten. Einen Fahrstuhl konnte er nicht finden, deshalb quälte er sich die Treppen in den Keller zu Fuß hinunter.
Zwei Polizisten und ein Gerichtsmediziner erwarteten ihn. Sie standen vor einem Fenster, das von innen mit einem schwarzen Vorhang verdeckt war. Der große Polizist zog schwungvoll seine Visitenkarte aus der Tasche. »Ich bin Detective Markovic. Das ist meine Partnerin. Und das ist der Gerichtsmediziner.«
Verlegenes Nicken allerseits.
»Es tut mir leid«, sagte Markovic. »In solchen Situationen kann man nie irgendetwas Gutes sagen.«
»Nein«, meinte William, »da haben Sie recht.«
»Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?«, fragte die schwarze Polizistin.
»Ist schon Monate her.«
»Was hat er hier unten gemacht?«
»Hanley hat sich mehr oder weniger treiben lassen.«
»Ein Glück, dass Sie gerade in der Gegend waren.«
»Ich hatte geschäftlich in San Diego zu tun. Als Sie mich angerufen haben, bin ich sofort losgefahren.«
Sie hatten Williams Handynummer in Hanleys Brieftasche entdeckt. Für den Notfall trugen die Brüder jeweils die Nummer des anderen bei sich, weil sie schwer ausfindig zu machen waren, und das nicht ohne Absicht. Ihr Haus und das Grundstück waren immer noch auf den Mädchennamen ihrer Großmutter eingetragen, den sie mit Freuden wieder angenommen hatte, nachdem ihr Mann seiner Leberzirrhose erlegen war. Der Anruf, so sehr er sich auch vor ihm gefürchtet hatte, war kaum überraschend gekommen. William hatte sofort gewusst, dass etwas schiefgegangen war, aber da die ganze Kavallerie auf dem Weg zum Tatort war und Hanley sich telefonisch nicht meldete, hatten Dodge und er, die ein paar Straßen weiter in ihrem Van warteten, keine andere Wahl gehabt als wegzufahren.
»Wir haben Ihren Bruder in einem Haus gefunden. Neben einer schwer verletzten Frau, Annabel Wingate. Haben Sie irgendeine Idee, was für eine Verbindung er zu ihr gehabt haben könnte?«
»Er war schon immer ein bisschen ein Frauenheld«, meinte William.
Die schwarze Polizistin machte ein Geräusch in der Kehle, das sich so anhörte, als wäre sie kaum überrascht.
»Ist sie tot?«, fragte William. »Die verletzte Dame, meine ich?«
»Sie ist in kritischem Zustand.«
William kratzte sich die Stoppeln am Hals, dass es von den Betonwänden widerhallte. »Hm«, machte er.
Markovic nickte der Pathologin zu, die sich nervös räusperte. Sie war eine attraktive blonde Frau. »Ich drücke jetzt auf diesen Knopf, dann geht der Vorhang hoch. Die Leiche liegt in dem Zimmer auf einem Tisch. Ich möchte Sie vorwarnen, es hat da eine Kopfverletzung gegeben, die …«
»Drücken Sie«, sagte William.
Sie bediente den kleinen Hebel, und der Vorhang bewegte sich nach oben. Dort lag Hanley auf dem Rücken, wie auf einem feierlichen Teller präsentiert, und in seiner grauen Haut spiegelte sich stellenweise das Licht des Stahltisches. Er lag unter einer krankenhausgrünen Decke, die bis zur Brust zurückgeschlagen war. Obwohl sein Kopf richtig lag, sah das Bild irgendwie doch falsch aus, als wäre er abgegangen und dann schief wieder angeschraubt worden. Seine linke Gesichtshälfte war eingedellt, das Fleisch hing wie Pergament über die Stelle herab, an der eigentlich die Knochen eine Form hätten vorgeben sollen.
William streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen das kalte Glas. Obwohl ihm der Boss Hanleys Tod bereits bestätigt hatte, merkte William jetzt, dass er sich immer noch an die irre Hoffnung geklammert hatte, es könnte sich um eine Verwechslung handeln. Er brauchte einen Moment, bis er seine Stimme wiederfand. »Ja. Das ist Hanley.«
»Mein Beileid«, sagte Markovic.
»Ich möchte ihn anfassen.«
»Tut mir leid«, sagte Elzey. »Wir befinden uns in einer laufenden Ermittlung …«
William schwankte zur Tür. »Ich möchte ihn anfassen.« Seine Stimme zitterte. Er verharrte in pathetisch vorgebeugter Haltung vor der Tür.
Dröhnende Stille.
Schließlich schlug die Gerichtsmedizinerin vor: »Und wenn er Latexhandschuhe überziehen würde …?«
Man holte eine Schachtel, William zog die Handschuhe an und trat ein. Der Raum, der an die zehn Grad kühler war, roch nach Bleiche, Metall und Moschus, und die Gerüche schienen sich sofort in Williams Lungen festzusetzen. Die beiden Detectives und die Pathologin hielten respektvollen Abstand. Wenn es denn respektvoll war, ihm durch eine Glasscheibe zuzusehen, wie er seinem Bruder die letzte Ehre erwies. Er drehte ihnen den Rücken zu, so dass sie ihn nicht beobachten konnten, dann zog er einen Handschuh aus. Er streckte eine Hand aus und legte sie seinem kleinen Bruder ruhig auf die Wange. Es erstaunte ihn immer wieder, wie leblos sich totes Fleisch anfühlte.
»Hanley«, murmelte er.
Dann zog er mühsam wieder den Handschuh an.
Als er den Raum verließ, ging er wortlos an den anderen vorbei und humpelte den Flur hinunter. Auf der Treppe brach ihm der Schweiß aus. Seine Hand umklammerte das Geländer mit arthritischem Griff, und er zog seine Beine an den Hosenbeinen hoch, um die Stufen schneller hinaufzukommen.
Als er aus dem Krankenhaus trat, ließ er sich die nächtliche Brise übers Gesicht und bis in die Lungen wehen, damit sie die ganzen Gerüche tilgte. Dodge wartete im Van auf ihn. Seine Hände ruhten auf dem Lenkrad, und er starrte geradeaus, als würde er fahren.
William hangelte sich mühsam auf den Beifahrersitz und kurbelte dann sein Fenster herunter. Erst griff er nach den Sonnenblumenkernen auf dem Armaturenbrett, aber dann überlegte er es sich doch anders. Dodge steckte sich zwei Zigaretten zwischen die Lippen, holte ein billiges Plastikfeuerzeug aus der Brusttasche seines offen stehenden Hemdes, und zündete sie an. Eine davon reichte er William, der sie mit zitternder Hand entgegennahm. Sie inhalierten und atmeten den Rauch wieder aus. William ließ seine gelblichen Fingernägel gegeneinander schnipsen. Er rieb sich die Augen, dann blickte er schließlich zu Dodge hinüber und nickte.
»Wenn wir ihn kriegen«, sagte William, »dann lassen wir uns schön Zeit.«
Dodge legte an der Lenkschaltung den Rückwärtsgang ein. »’türlich«, sagte er.
Zehn Minuten später, als ihm die Autobahnluft ins Gesicht blies, hatte William immer noch das Gefühl, den Geruch nicht aus seinen Lungen zu bekommen.