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Schauen Sie sich das mal an. Kommen Sie mal her.« Dr. Cha winkte Shep näher heran. Ihr schwarzes Haar fiel ihr übers Gesicht, als sie sich über Annabel beugte und ihr zwei Fingerknöchel fest aufs Brustbein drückte. Annabel, die immer noch bewusstlos war, bewegte sich in ihrem Bett und verzog das Gesicht.
»Ich drücke ihr aufs Brustbein«, erklärte Dr. Cha, »da sitzt der Knochen nämlich nur einen Millimeter unter der Haut, deswegen weichen die Leute aus, wenn man dort massiven Druck ausübt. Besser gesagt, sie weichen aus, wenn sie zu Reaktionen in der Lage sind.«
Die chirurgische Intensivstation befand sich im Erdgeschoss des Ostflügels, so dass jetzt das erste Morgenlicht ins Doppelzimmer flutete. Der Vorhang in der Mitte war zurückgezogen, so dass man das unbelegte Bett nebenan sah. Man hatte das Gefühl, gleich etwas freier zu atmen in diesen beengten Räumlichkeiten.
»Und hier, schauen Sie mal hier.«
Shep blickte zu der Ärztin auf, ihre Gesichter waren jetzt ganz nahe beieinander. Dr. Cha zwickte Annabel in die Fingerkuppe und Annabels Hand zuckte zurück. Die Ärztin betrachtete sie mit Staunen. »Verdammt, ist das nicht ein wunderschöner Anblick?«
»Wunderschön«, bestätigte Shep.
Dr. Cha richtete sich wieder auf und Shep trat rasch einen Schritt zurück. Sie räusperte sich und rückte ihre Brille mit der schmalen Drahtfassung zurecht, jetzt wieder ganz geschäftsmäßig. »Sie atmet inzwischen mit, das ist ein gutes Zeichen. Wir haben vierzehn Atemzüge eingestellt, sie macht sechzehn. Wenn sie so weitermacht, können wir sie heute Nachmittag extubieren.« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Warum ziehen Sie so ein Gesicht? Das sind doch gute Neuigkeiten.«
»Es werden Leute kommen, um sie umzubringen«, sagte Shep.
»Um sie umzubringen? Was für Leute?«
»Dieselben, die sie so zugerichtet haben. Sie werden ihre Arbeit zu Ende bringen wollen.«
»Wir haben hier gute Sicherheitsvorkehrungen. Es ist nicht so, dass jeder x-beliebige Besucher in ein Patientenzimmer marschieren kann.«
»Nein.«
»Es war also nicht ihr Mann, wie die Polizei behauptet? Ihr Mann hat ihr das nicht angetan?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich einfach«, sagte Shep.
»Sind sie deswegen hier? Um die Leute aufzuhalten, die Ihrer Meinung nach hier ankommen werden?«
»Ja.«
»Aber glauben Sie denn wirklich …«
»Könnten wir sie nicht in ein anderes Krankenhaus verlegen? An einen geheimen Ort?«
»Nein. Dafür ist ihr Zustand noch nicht stabil genug, sie hat sehr starke Blutdruckschwankungen. Außerdem verschließt sich gerade langsam aber sicher diese Verletzung in ihrer Arterie. Ein bisschen Geruckel auf der Fahrt und sie könnte wieder aufgehen.«
»Könnte ihr Ehemann nicht eine Verlegung erzwingen? Hat er denn gar kein Mitspracherecht?«
»Sie sind ein treuer Freund«, stellte sie fest. »Aber es bleibt beim Nein. Ich werde nicht erlauben, dass sie bewegt wird. Nicht, bis sie einen stabileren Zustand erreicht hat.«
»Zum Beispiel heute Nachmittag, wenn sie von dem Ventilator abgekoppelt worden ist?«
»Zum Beispiel in einer Woche.«
Bevor Dr. Cha weitersprechen konnte, ging die Tür auf, und Elzey und Markovic betraten mit Annabels Schwester, einer grobknochigen, attraktiven Frau, den Raum. June hatte eine umfangreiche Handtasche dabei. Sie blieb zitternd ein paar Schritte vor dem Bett stehen und betrachtete ihre Schwester. Dann gewann sie ihre Fassung zurück und die Anwesenden wurden einander vorgestellt.
June wandte ihre Aufmerksamkeit Shep zu. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Shep«, sagte er.
Sie sah Dr. Cha an. »Der gehört nicht zur Familie.«
Dr. Cha klopfte sich mit ihrem Klemmbrett auf die Hand. »Man hatte mir gesagt, dass er zur Familie des Ehemannes gehört.«
»Annabels Ehemann hat keine Verwandten.«
»Wir waren Pflegebrüder«, erklärte Shep.
Junes Mund öffnete sich ganz leicht. »Ich dachte immer, nur echte Verwandtschaft hat Besuchsrecht.«
»Echte Verwandtschaft«, wiederholte Dr. Cha mit ruhiger Stimme. »Es ist die Politik unseres Krankenhauses, auch Pflegegeschwister als …«
»Wie können Sie in Anbetracht der Geschehnisse irgendeinen Menschen, der mit Mike zu tun hat, zu meiner Schwester vorlassen?«
»Was ist denn jetzt passiert?«, fragte Dr. Cha. Sie wartete und die Schweigepause dauerte eine geraume Weile. »Mir war nicht bewusst, dass Anklage erhoben worden ist.«
June starrte Shep an. »Würde es Ihnen was ausmachen, mich eine Weile mit meiner Schwester allein zu lassen?«
»Was?«, fragte Shep.
»Würde. Es Ihnen. Was Ausmachen. Mich eine Weile. Mit meiner Schwester. Allein zu lassen.«
Shep ging auf den Korridor, gefolgt von den beiden Detectives.
»So«, sagte Markovic, »Sie kennen Ms. Andrews also sehr gut?«
»Wen?«, fragte Shep.
»Annabel«, erklärte Elzey. »Das ist ihr Mädchenname. Der Ihnen natürlich bekannt ist, nachdem Sie mit der Familie ja auf so vertrautem Fuß sind.«
»Natürlich«, sagte Shep. »Klar.«
Dr. Cha stand ein paar Schritte entfernt. Sie kritzelte energisch etwas auf die Karte und schob sie dann in ein Acrylgestell an der Tür. Die Detectives machten keine Anstalten, ihre Stimmen zu senken.
»Shepherd White. Tresorknacken. Einbrüche. Sie sind ja eine ganz schöne Berühmtheit.« Markovic grinste. »Sie sind in sämtlichen Datenbanken verzeichnet.«
»Aber gefahndet wird nicht nach mir«, sagte Shep.
»Momentan nicht, nein«, meinte Elzey.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir Sie nach Waffen durchsuchen?«, fragte Markovic.
Shep hob die Arme seitlich hoch. Markovic drehte ihn um, stellte ihn an die Wand und begann seine Beine von unten nach oben abzutasten. »Sie wissen nicht zufällig, wo sich Ihr Pflegebruder aufhält, oder?«
Shep drehte sich um, strich sich die Kleidung glatt und nickte Dr. Cha über die Schulter des Detectives herzlich zu. »Nein.«
»Sollten Sie mit ihm sprechen, dann richten Sie ihm Folgendes aus: Wenn er sich nicht binnen kurzem stellt, wird er wegen Mordes an Hanley Burrell und versuchten Mordes an Annabel Wingate angeklagt. Annabels Vater hat bereits die gerichtliche Unwirksamerklärung der Vorsorgevollmacht Ihres Freundes beantragt. Kein Richter wird einem flüchtigen Verbrecher die Kontrolle über das Leben einer Frau belassen, die durch seine Schuld ins Koma gefallen ist.«
»Sie ist nicht durch seine Schuld ins Koma gefallen. Und er ist auch kein flüchtiger Verbrecher.«
»Ab morgen früh«, verkündete Markovic, »gilt er als flüchtiger Verbrecher.«