34
Kat hatte sich in einen Deckenhaufen gewickelt und sah sich mit glasigen Augen Zeichentrickfilme an. Geistesabwesend bearbeitete sie den Rücken von Snowball II mit dem Daumen, als wäre der Mini-Eisbär eine glücksbringende Kaninchenpfote. Mike hatte sich Mühe gegeben, ihr einen Pferdeschwanz zu machen, aber ein paar Strähnen hatte er nicht erwischt, und der Zopf saß auch nicht so richtig in der Mitte. Das gehörte zu den Dingen, die er einfach nie ordentlich hinkriegte.
»Die Schule fehlt mir.«
»Ich weiß.« Mike hatte sich einen Stuhl ans Bett gezogen und sich neben sie gesetzt. Seine Ellbogen klebten an den Knien, sein Blick hing am Handy.
»Die Sonne fehlt mir.«
»Mir auch.«
»Mein Bett fehlt mir.«
»Ich weiß.«
»Meine Mom fehlt mir.«
Mike machte den Mund auf, brachte aber keine Silbe heraus.
Kat hatte denselben Gesichtsausdruck wie beim letzten Mal, als er sie angeschaut hatte. Da klingelte das Telefon, und er musste sich auf andere Dinge konzentrieren. Hastig nahm er das Gespräch an.
»Um die Sheriffs machen wir einen Bogen, weil wir wissen, dass sie in deine Beobachtung involviert waren. Aber ich hab beim Los Angeles Police Department jemand für dich gefunden. Dieser Fall entwickelt sich zu einem Riesending, und ich setze darauf, dass das LAPD ihn in seiner Zuständigkeit halten will, wenn du zu ihnen gehst. Außerdem können sie grundsätzlich mehr ausrichten als die Sheriffs.«
»Und an wen genau soll ich mich da wenden?«
»Jason Cayanne, einen Hauptkommissar in der Polizeistation North Hollywood.«
»Kann ich ihm trauen?«
»Mike, dieser Mann wird dir zuhören. Das ist das Beste, was du im Moment kriegen kannst. Wenn du die Sache jetzt noch mal vierundzwanzig Stunden einfach weiterlaufen lässt, dann darfst du nicht auf mehr hoffen als auf eine saubere Gefängniszelle.«
»Ich brauche die Garantie, dass Kat sicher ist.«
»Das LAPD wird sie besser beschützen, als du es kannst.«
Mike legte auf und drückte eine Faust gegen die Schreibtischkante, bis ihm die Knöchel weh taten. Dann zog er das Batphone aus der Tasche und rief Shep an. »Wie geht es ihr?«
»Ein bisschen besser. Sie bewegt sich ganz leicht, reagiert auf Schmerz. Die Ärztin ist davon anscheinend total begeistert.«
»Bewegen. Bewegen ist gut. Schmerzreaktion ist gut.« Mike merkte, dass er faselte und auf seinem Daumen herumkaute.
»Aber sie ist noch nicht über den Berg. Es könnte auch immer noch ganz schnell bergab gehen.«
Mike schluckte. »Wie sieht es mit ihrer Sicherheit aus?«
»Im Moment lassen sie mich bei ihr bleiben«, sagte Shep. »Aber um acht endet die Besuchszeit.«
»Und was machst du dann?«
»Ich denk mir was aus.«
»Okay.« Mike atmete tief durch. Es war so unglaublich, dass er in dieser Situation nicht an der Seite seiner Frau sein konnte. »Können wir sie verlegen?«
»Die Ärztin stellt sich quer. Sie sagt, Annabels Zustand ist noch nicht stabil genug. Übrigens, die Detectives waren hier, Markovic und Elzey. Sie sagen, wenn du dich bis morgen früh nicht stellst, wirst du wegen Mordes angeklagt.«
»Mor…« Mike konnte sich gerade noch zurückhalten und seine Stimme senken. »Wegen Mordes? An diesem Scheißkerl, der meiner Frau eine Klinge in die Brust gerammt hat?«
»Und wegen versuchten Mordes an Annabel«, fuhr Shep fort. Mike fühlte eine Welle der Wut in sich aufsteigen, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Shep schon fort. »Sie haben auch gesagt, dass Annabels alter Herr jetzt versucht, die medizinischen Entscheidungen für sie zu treffen. Irgendwas mit ›gegen die Vorsorgevollmacht Klage einreichen‹. Er steigt gerade ins Flugzeug.«
»Und dann wäre er derjenige, der grünes Licht für irgendwelche OPs gibt?«, sagte Mike. »Beziehungsweise die Geräte abschalten lässt? Das kann er nicht machen. Das kann er nicht machen.«
»Er versucht es aber.«
Mike warf einen Seitenblick auf Kats schlafendes Gesicht, über das der blaue Schein des Fernsehers huschte. Vom Fruchtsaft hatte sie einen roten Fleck am Kinn, und sie nuckelte durch ihren Ärmel am Daumen, eine Angewohnheit, die sie eigentlich schon vor vier Jahren abgelegt hatte. Er konnte sich jetzt ja schon kaum um sie kümmern, wie sollte er sich um sie kümmern, wenn sie wirklich auf der Flucht wären?
Als hätte er Mikes Gedanken gelesen, sagte Shep: »Tu’s nicht.«
»Es wird doch immer bloß schlimmer.«
»Du wirst ins Gefängnis wandern«, prophezeite Shep. »Hilflos. Und Rick Graham, William Burrell und Roger Drake werden hier draußen sein.«
»Tut mir leid.«
Er beendete das Gespräch. Shep rief sofort wieder an, aber Mike drückte ihn weg. Dann stand er auf und begann zu packen.
»Fahren wir irgendwohin?«, fragte Kat.
»Ich weiß noch nicht.«
Sie beluden das Auto und standen dann eine Weile mit laufendem Motor auf dem Parkplatz. Mike starrte mit leerem Blick geradeaus. Die staubige Windschutzscheibe dämpfte das Licht des frühen Nachmittags. Kat, die angeschnallt auf dem Beifahrersitz saß, beobachtete ihn, er konnte ihren forschenden Blick spüren. Der Rucksack mit dem Geld lag in einem kakifarbenen Haufen zu ihren Füßen. Snowball II guckte aus ihrer Faust hervor, und auch die Knopfaugen des Stofftiers schienen auf Mikes Entscheidung zu warten. Die Panik stieg ihm in die Kehle wie Galle, aber er rührte sich nicht, während er sie wieder herunterschluckte. Irgendwann legte sich das schwere Grau des Nachmittags über ihn wie eine Decke, die jedes Gefühl aus ihm heraussaugte, und dann fühlte er nicht mal mehr Panik, sondern nur noch das düstere, tote Gewicht der Luft, die er atmete.
Nach einer Weile meinte Kat: »Was tun wir, wenn wir Angst haben?«
Er brauchte einen Moment, bis er kapierte, dass sie das Schlechte-Eltern-Spiel mit ihm spielte. Aber er brachte es nicht über sich. »Ich weiß nicht, Kat.«
»Was tun wir, wenn wir Angst haben?« Jetzt klang sie schon eindringlicher.
Er dachte an Annabel, wie sie auf ihrem Krankenhausbett lag, mit ihrem dunklen Zigarrenbrandloch zwischen den Rippen. Seine Tochter, die neben ihm saß, musste eigentlich in ihr altes Leben zurückkehren, in das er ihr aber nicht zurückhelfen konnte.
»Wir rollen uns zusammen und geben uns auf«, sagte er schließlich. Er legte den Gang ein und fuhr los Richtung Polizeistation.
Mikes Nerven wollten ihm einfach keine Ruhe lassen. In dem Moment, als er die Polizeistation North Hollywood betrat, war er überzeugt, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Doch es war zu spät.
Eine flackernde Neonröhre über ihren Köpfen, die eine Seite des Eingangsbereichs mit wechselnden Schattierungen von Blassgelb beleuchtete, schien den unheilvollen Grundton vorzugeben. Der Beamte am Empfang hatte gerade erst Mikes und Kats Gesichter gesehen, als sich hinter ihm auch schon eine Tür öffnete und ein uniformierter Polizist erschien, der Mike abtastete. Natürlich fand er nichts, denn Mike hatte seine Smith &Wesson wohlweislich beim Bargeld in seinem Toyota auf der anderen Straßenseite gelassen. Shep konnte den Rucksack abholen, für den Fall, dass er Geld für Annabel brauchte.
Mike stand mit den Händen auf dem Tresen und leicht gespreizten Beinen da und murmelte seiner Tochter die ganze Zeit beruhigend zu: »Keine Sorge, mein Schatz. Alles wird gut. Alles wird gut.«
Sie umklammerte ihren Miniatur-Eisbären wie eine Schmusedecke.
Bevor der Beamte ganz mit Mike fertig war, erschien Hauptkommissar Jason Cayanne, ein männlicher, sehniger Typ mit dichtem Schnurrbart, und entschuldigte sich für die Durchsuchung. Er ging sogar vor Kat in die Hocke, um ihr zu sagen, wie sehr er sich freute, dass sie mitgekommen war.
Cayanne führte sie die Treppe hinauf, durch ein Gewirr aus Fluren und Büros. Er bewegte sich leichtfüßig, wie ein Tänzer oder ein Boxer. Die Art, wie er die Kurven nahm – mit scharfen Wendungen auf den Zehenballen – verriet, dass er früher beim Militär gewesen war. Je weiter sie kamen, umso misstrauischer wurde Mike. Er musste sich selbst ermahnen, Kats Hand nicht zu sehr zu drücken. Sie glitt stumm und vertrauensvoll neben ihm her. Brach er mit seiner Anwesenheit in dieser Polizeistation nicht sein Versprechen an Annabel, dass er Kat von allem weit wegbringen würde?
Cayanne ging immer weiter, und bis sie an seinem Büro waren, verriet er mit keiner Miene, ob er merkte, dass Mike der Schweiß von der Stirn rann. Ein großer Holzschreibtisch, vor dem zwei Sessel standen. Plaketten des Rotary Clubs, ein Streifenbarsch auf einem Stück Treibholz.
Zwei Beamte gesellten sich zu ihnen. Mike ließ den Blick argwöhnisch vom einen zum andern wandern und suchte nach Anzeichen von Verrat. Er setzte sich auf einen Sessel, zog Kat auf seinen Schoß und faltete seine Hände beschützend vor ihrem Bauch.
»Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen lassen?«, fragte Cayanne.
Mike schüttelte den Kopf.
»Vielleicht wäre es besser, wenn Katherine mit Officer Maxwell rausgehen würde?«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, erwiderte Mike.
Nachdenklich fuhr sich Cayanne mit den Fingerspitzen durch den blonden Schnäuzer. »Wir müssen uns über den Tatort unterhalten, und ich glaube, vielleicht wäre es besser für sie, wenn sie nicht jedes Detail davon mitanhört. Wie wäre es, wenn wir sie dort reinsetzen …« Er deutete durch die Glastür zum benachbarten Büro. »… wo Sie sie die ganze Zeit im Auge behalten können?«
Kat machte Anstalten, von Mikes Schoß zu klettern, doch er ließ sie nicht los. »Ist schon okay, Dad«, sagte sie und befreite sich aus seinen Armen.
Sie setzte sich im Nebenzimmer auf einen Stuhl und winkte ihm aufmunternd zu. Cayanne wartete hinter dem Schreibtisch. Ein Bild der Geduld.
»Sie haben ja eine ganz schön beeindruckende Flucht hingelegt«, stellte er fest. »Einfach vom Radarschirm verschwunden.«
»Es sind mehrere Leute hinter uns her«, sagte Mike. »Zwei Ex-Knackis – Roger Drake und William Burrell, der Bruder des Mannes, der meine Frau mit dem Messer angegriffen hat.«
Cayanne notierte die Namen auf einem Notizblock. »Der Bruder des Mannes, den Sie getötet haben.«
»Ja«, sagte Mike.
»Ich verstehe das Ganze nicht so richtig. Warum sind diese Leute hinter Ihnen her?«
»Ich weiß es nicht.«
Cayannes hellblaue Augen blickten kurz von seinem Block auf und musterten Mikes Gesicht einen Moment, bevor er den Blick wieder senkte.
»Außerdem gibt es noch mindestens eine Person aufseiten der Polizei, die es auf mich abgesehen hat«, sagte Mike. »Rick Graham.«
»Es scheint eine Menge Leute aufseiten der Polizei zu geben, die Sie suchen.«
»Nicht suchen. Jagen. Dieser Typ arbeitet mit den Gangstern zusammen, die hinter mir her sind.«
Cayannes Stift hörte auf zu kritzeln. »Er arbeitet mit den Gangstern zusammen?«
»Ja.«
»Böse Jungs und korrupte Bullen, das wäre eine echte Verschwörung. Und Sie haben keine Ahnung, warum Sie das Opfer dieser Verschwörung sind?«
»Hören Sie, ich weiß, wie sich das alles anhört. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe keine Ahnung, warum diese Leute hinter mir her sind, aber ich werde mit Ihnen zusammenarbeiten und tun, was ich kann, um herauszufinden, was hier eigentlich los ist.«
Cayanne legte seinen Notizblock auf den Tisch und faltete die Hände auf der ledernen Schreibtischunterlage. »Und was bekommen Sie im Gegenzug?«
»Ich muss meine Tochter beschützen. Ich möchte das Recht behalten, die medizinischen Entscheidungen für meine Frau zu treffen. Das ist das Einzige, was mir wichtig ist – dass die beiden in guten Händen sind. Sonst nichts. Verstehen Sie mich?«
»Ja.«
Bei dieser Antwort entspannte sich Mikes Kehle ein wenig, als hätte er eine zu enge Krawatte gelockert. »Ich habe Ihnen meine Familie anvertraut. Werden Sie sie beschützen, egal, was mir passiert?«
»Natürlich werden wir für ihre Sicherheit sorgen.«
Die Muskeln an Mikes Hals entkrampften sich. Er senkte mit Gewalt die Schultern und streckte seinen Hals. Irgendwie unterstrich das Brennen seiner Muskeln seine Erleichterung.
Da kam Maxwell wieder ins Zimmer. »Mr. Wingate, ein Anruf für Sie.«
»Ein Anruf? Woher sollte jemand wissen, dass ich hier bin?«
»Wir haben das Krankenhaus davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie kommen. Ich befürchte, das ist gerade einer der Ärzte, der da anruft. Es geht um Ihre Frau. Sie meinten … sie meinten, dass es dringend ist.«
Schlichtes, ungefiltertes Grauen.
Nebenan streichelte Kat beruhigend das Fell von Snowball II. Ihre Füße baumelten ein paar Zentimeter über dem Boden. Ihre Lippen bewegten sich, und nach einem Moment ging ihm auf, was sie dem Bären ins Ohr flüsterte: Alles wird gut. Alles wird gut.
Als Mike sprach, kam nur ein Krächzen. »Okay.«
»Sie können das Gespräch an meinem Schreibtisch annehmen.« Maxwell wies auf sein Büro auf der anderen Seite.
Mike durchquerte den Raum auf tauben Beinen. Um die fünf Leitungen führten in das Telefon, aber nur ein Knopf blinkte. Er legte die Hand auf den Hörer, atmete tief durch und nahm ab. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst und drehte sich zum Fenster, denn er wollte nicht, dass Kat seinen Gesichtsausdruck sah, wenn er die Neuigkeiten hörte. »Hier ist Mike Wingate.«
Unten auf dem Parkplatz sah er lauter schwarz-weiße Polizeiautos. Als er darunter plötzlich einen schwarzen Mercury entdeckte, gefror ihm das Blut in den Adern. Die Scheibe beschlug von seinem Atem. Die Fahrertür stand offen. Er scannte den Parkplatz ab, und sein Blick blieb an einem breitschultrigen schwarzen Polizisten hängen, der ihm den Rücken zudrehte und ihm die Sicht auf die Person verstellte, mit der er sich gerade unterhielt.
Mike brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass er Hanks Stimme hörte. »Mike. Mike. Mike.«
»Hank? Was ist mit Annabel?«
An der ganzen Körperhaltung des Polizisten auf dem Parkplatz sah man, dass er gerade in demütiger Haltung einen Tadel entgegennahm.
Prickelnde Hitze kroch Mikes Hals empor.
»Vergiss es«, sagte Hank. »ich musste behaupten, dass ich Arzt bin, damit sie dich an die Strippe holen. Hör zu, du weißt doch, diese Sache, dass sie dich besonders im Auge behalten sollen? Das kommt von übergeordneter Ebene. Eine nationale Antiterrorismus-Behörde. Die können dich und deine Tochter verhaften und hinbringen, wo immer es ihnen passt. Und rate mal, wer einer der Leiter ist?«
Unten trat der Polizist demütig beiseite, und gab den Blick frei auf Rick Graham, der jetzt mit forschem Schritt auf den Eingang zusteuerte.
Während das Telefon in Mikes zitternder Hand herabsank, hörte er noch ganz schwach das blecherne Quäken von Hanks Stimme, die ihm zurief: »Du musst da raus!«