35
Mike musste sich zwingen, nicht zu Cayanne zurückzusprinten. Ihm blieben vielleicht noch vier Minuten, bis Graham die Lobby durchquert und die Treppen bis zu ihnen zurückgelegt hatte. Mike ging ganz gleichmäßig und nickte Kat beruhigend zu, als er die Glastür passierte.
»Alles in Ordnung mit Ihrer Frau?«, erkundigte sich Cayanne.
»Ihr Zustand hat sich schlagartig verschlechtert. Es sieht schlecht aus für sie.« Mike ging davon aus, dass er tatsächlich erschüttert genug aussah, um glaubwürdig zu wirken. Was für eine List konnte er innerhalb der nächsten dreißig Sekunden aushecken, damit sie ihn mit Kat allein ließen? »Haben Sie hier irgendwo eine Toilette? Ich brauche einen Moment, bevor ich es meiner Tochter sagen kann.«
»Natürlich. Um die Ecke, zweite Tür links.«
Mike lief zurück und suchte panisch nach dem Weg nach draußen. Ein Büro schloss sich ans nächste an, ein Korridor an den nächsten, und durch versetzt eingestreute Zwischenfenster war das gesamte Stockwerk mehr oder weniger transparent. In der Toilette suchte Mike unter dem Waschbecken und hinter der Tür – nichts. Er räumte das Toilettenpapier aus der morschen Holzkommode und warf die Rollen auf den Boden, bis er schließlich ganz hinten einen Erste-Hilfe-Kasten entdeckte. Er kippte ihn aus, wischte die ganzen Gazeverbände und Tablettenschachteln beiseite und griff sich eine Spritze für Wundspülungen. Er schlidderte über den verstreuten Inhalt des Verbandskastens, als er zum Waschbecken stürzte, und füllte die Spritze mit Wasser.
Es sah ein bisschen dubios aus, aber jetzt ging es eben nicht anders.
Auf dem Weg nach draußen fummelte er den Kolben in die Spritze und schob sie sich in den Hosenbund. Bevor er um die Ecke bog, verlangsamte er seine Schritte und versuchte, wieder ganz ruhig zu atmen. Cayanne stand neben seiner Tür und sah besorgt aus.
Mike trat neben ihn und senkte den Kopf. »Kann ich einen Moment allein mit Kat sprechen? Damit ich es ihr beibringen kann?«
»Natürlich. Wir lassen Sie in meinem Büro allein.«
Das hatte Mike befürchtet. Er musste Kat komplett aus diesem Gewirr von Büros herausholen, um zum Ausgang zu kommen. Graham war inzwischen wahrscheinlich im zweiten Stock und auf dem gewundenen Weg zu Cayannes Büro.
Also doch Plan B: Mit Hilfe seiner Requisite ausbrechen.
Mike trat zu Kat, ging vor ihr in die Hocke und ließ die Spritze in ihre Brusttasche gleiten – ihn hatten sie vorhin durchsucht, seine Tochter hingegen nicht. Mit verblüfftem Blick und gerunzelter Stirn schaute sie auf ihre Tasche herab.
»Mein Gott, Schätzchen, wie blass du bist! Hab ich heute Morgen etwa vergessen, dir dein Insulin zu spritzen?«
»Was …«
»Mein Schatz, ich weiß, dass du Spritzen hasst, aber das ist jetzt nicht der richtige Augenblick, um Zirkus zu machen.« Er drückte ihre Schulter mit der Hand: Bitte spiel das Spiel mit.
Ein vertrautes Glänzen erschien in ihren glasigen Augen. Sie nickte.
Er machte eine dramatische Inszenierung daraus, wie er ihr die Stirn befühlte. Zwischendrin drehte er sich nervös um, denn er befürchtete, dass Graham schon um die Ecke kommen könnte, aber da waren nur Cayanne und ein paar andere Polizisten, die sich mit besorgten Mienen näherten.
Mike schlüpfte in die Rolle der Couch-Mutter. »Wenn dir kühl wird, brauchst du was Süßes, fühlst du eher Hitze, brauchst du eine Spritze.« Er betastete demonstrativ ihre Taschen. »Wo ist dein Insulin? Hast du dein Insulin dabei?«
Kat zog die Spritze aus der Tasche. Rasch griff er danach und versuchte sie weitgehend in seiner Hand verschwinden zu lassen, um die breite Plastikspritze zu verbergen. Kat machte ein paar Schritte mit wackligen Knien und trug vielleicht etwas zu dick auf, aber Mike fasste sie am Arm und stützte sie. Während er nach Grahams Schritten horchte, fiel es ihm nicht schwer, besorgt zu klingen: »Ich muss ihr eine Spritze in den Oberschenkel geben. Dürfte ich sie auf die Toilette mitnehmen, damit wir kurz ungestört sind?«
»Natürlich«, sagte Maxwell. »Meine Schwiegermutter hat auch Diabetes. Ich weiß, wie das ist.«
Mike dankte ihm mit einem Nicken und schob Kat vor sich her, zwischen den Polizisten hindurch und um die Ecke. Sie umklammerte krampfhaft ihren Eisbären. »Dad, was sollte da–«
Sie rannten jetzt den Flur entlang und an der Toilette vorbei. »Du musst mir jetzt unbedingt folgen, damit ich uns hier rausbringen kann.« Er ließ die tropfende Spritze in einen Abfalleimer an einer Tür fallen. »Deine Fragen werde ich dir alle hinterher beantworten. Abgemacht?«
Durch die offene Tür und ein Zwischenfenster in einem der Büros war jetzt Graham zu sehen, der parallel zu ihnen den Flur auf der anderen Seite des Stockwerks entlanglief.
»Abge …«
Mike legte Kat die Hand auf den Mund und riss sie zurück, um sich mit ihr flach an die Wand zu drücken. In den umliegenden Büros wimmelte es nur so von Polizisten. Früher oder später würde einer aus seiner Tür treten und sehen, dass sie sich hier versteckten.
Er hörte Grahams erhobene Stimme: »… ein bekannter Terrorist in Ihrem Gewahrsam. Vielleicht können Sie mir ja erklären, wie ein Angestellter des Krankenhaus mir seinen Aufenthaltsort verraten konnte, bevor Sie daran dachten …«
Eine aggressiv ruhige Antwort: »Er ist hier, gleich den Flur runter, Sir.«
Während Grahams Stimme durch Cayannes Büro dröhnte, schob Mike seine Tochter weiter den Flur hinunter. Es schien, als wären ihre Bewegungen direkt an die von Graham gekoppelt, wie die zwei Enden eines Seilzugs, die sich immer in entgegengesetzte Richtungen bewegen.
Sie erreichten den Endpunkt des Stockwerks und betraten ein Durchgangsbüro, das sie hinter dem Rücken von zwei Detectives durchquerten, die ihre Aufmerksamkeit gerade ausschließlich ihren Burritos zuwendeten. Mike huschte durch Türen und Korridore, Kat immer neben sich. Jeden Moment rechnete er damit, dass ein rotes Licht aufflammte, ein Alarm losging, Sicherheitsschranken heruntergingen.
Schließlich standen sie in einem Treppenhaus. Hastig liefen sie die Stufen hinunter und betraten eine offene Garage, in der diverse Polizeiautos auf eine Inspektion oder eine Wäsche warteten. Rechts führte eine breite Auffahrt zu dem seitlichen Parkplatz, auf dem Graham noch vor wenigen Momenten gestanden hatte.
Ein schwaches Ding-ding-ding kam aus dieser Richtung, aber es war zu gedämpft, als dass es ein Alarmton hätte sein können.
Der übergewichtige Polizist, den Graham vorhin zurechtgestutzt hatte, kam geradewegs auf sie zugetrottet, in der Hand seine kugelsichere Weste und seine Waffe.
Mike erstarrte und seine Hand, die er Kat um den Nacken gelegt hatte, verkrampfte sich.
»Na, verlaufen?«, fragte der Polizist.
»Nein. Ich muss hier was arbeiten«, sagte Mike.
»Ja?« Das Lächeln wirkte freundlich. »Was denn?«
Das Ding-ding-ding wollte einfach nicht aufhören, wie ein Vogel, der auf Mikes Rückgrat herumpickte. Die Pause zog sich so in die Länge, dass sie ihm minutenlang vorkam.
»Das flackernde Neonlicht in der Lobby«, erklärte Kat.
Mike kratzte sich mit dem Daumen die Stirn und ergriff die Rettungsleine, die seine Tochter ihm zugeworfen hatte. »Genau. Wahrscheinlich bloß ein Wackelkontakt, aber man hat ja doch immer Angst, dass es am Ende noch einen Kurzschluss geben könnte, nicht wahr? Deswegen sind wir runtergekommen, um mal kurz einen Blick auf die Sicherungen zu werfen.« Er machte eine vage Handbewegung Richtung Auffahrt.
Der Mann deutete mit dem Kinn auf Kat. »Ihre Assistentin?«
Mike warf einen raschen Blick zur Tür, die ins Treppenhaus führte. »Heute ist Nimm-dein-Kind-mit-in-die-Arbeit-Tag.«
»Ich dachte, der ist im April.«
Unfassbar – der hatte tatsächlich davon gehört?
»Sie haben das Datum geändert«, behauptete Mike. »Hat sich nämlich mit dem Rede-wie-ein-Pirat-Tag überschnitten.«
Der Mann musterte ihn mit schräg gelegtem Kopf, dann löste sich sein ernsthafter Gesichtsausdruck und er brach in schallendes Gelächter aus. Er trat beiseite und wies auf die Auffahrt.
Mike lockerte seine Muskeln und steuerte aufs Tageslicht zu. Das Ding-ding-ding wurde immer lauter, während er Kat die Auffahrt hochscheuchte. Sie traten jäh in die Helligkeit hinaus, und die Sonne zwinkerte ihnen grell von der Dominoreihe der Windschutzscheiben entgegen. All die identischen Streifenwagen, säuberlich aufgereiht wie zum Verkauf. In der Mitte des Ganges stand Grahams Mercury Grand Marquis, dessen Fahrertür immer noch offenstand, womit die Ursache für das nervenaufreibende Ding-ding-ding geklärt war. Ein Zaun, dessen Oberkante mit Stacheldraht besetzt war, umgab das Gelände. Auf dem Boden vor der Ausfahrt lag ein dickes schwarzes Sensorkabel. Das Gewicht eines Autos war erforderlich, um das mächtige elektronisch betriebene Tor zu öffnen.
Über ihnen wütendes Klopfen.
Mike blickte nach oben. Graham stand im zweiten Stock, hämmerte gegen das Fenster und brüllte irgendetwas zu ihnen hinunter. Er stand dort, wo vor wenigen Minuten noch Mike gestanden hatte – tatsächlich hatten sie ganz exakt ihre Positionen getauscht. Grahams Lippen bewegten sich, Speicheltropfen sprenkelten das Glas, aber von unten war sein Wutausbruch völlig geräuschlos. Neben ihm stand Cayanne, der gar nicht mal hundertprozentig verärgert aussah.
Mike blickte von Graham zu dem elektronischen Tor und dann zu dem schwarzen Mercury. Wenn der Türalarm an war, musste das bedeuten, dass der Zündschlüssel noch steckte. »Los«
Bevor Kat die Beifahrertür hinter sich zumachen konnte, schoss Mike schon auf die Ausfahrt zu. Während sich das Gatter mit arthritischem Rattern öffnete, holte er seine eigenen Autoschlüssel aus der Tasche. Er gab quietschend Gummi und lenkte das Auto mit einer Faust durch die Öffnung, als diese noch ziemlich schmal war, und tatsächlich schrammte die Kante des Tors seitlich am Mercury entlang, dass die Funken sprühten. Mit kreischenden Reifen schlidderte er quer über die Straße auf den großen Parkplatz und riss die Reifen auf, indem er das Auto in falscher Richtung über die Sicherheitsspikes lenkte. Das Gummi ging in Fetzen, Grahams Wagen brach funkensprühend seitlich aus und kam schließlich knirschend zum Stehen. Mike und Kat sprangen aus dem Mercury und in ihren Pick-up, und dann rasten sie mit Vollgas davon. Mikes Augen zuckten nervös zwischen Rück- und Außenspiegel hin und her. Der Rucksack, der ihr ganzes Bargeld und ein paar Plastiktüten mit ihren Sachen enthielt, rollte zwischen Kats Füßen über den Boden. Die Dämmerung kündigte sich bereits an, verschlechterte die Sicht und gab ihm von Minute zu Minute ein Gefühl steigender Sicherheit. Er gab Gas, überfuhr eine rote Ampel, fuhr eine Straße hoch und auf den Freeway. Kats Augen leuchteten, und Mike wurde bewusst, dass das Ganze auf eine gewisse Art auch aufregend für sie war.
Als sie wieder durch die immer dunkler werdenden Straßen einer Wohnsiedlung fuhren, hielt er nach Beute Ausschau wie früher als Teenager. Die deutschen Fabrikate ließ er von Vornherein außer Acht, denn er hatte gehört, dass die neuesten Modelle über ausgeklügelte Sicherheitssysteme verfügten, die automatisch die Bremsen aktivierten und das Lenkrad blockierten, bevor man auch nur losfahren konnte. Und selbst, wenn man das Handschuhfach knackte und mit etwas Glück den Ersatzschlüssel fand, gab es immer noch das Problem mit GPS. Er brauchte etwas aus seiner Ära, ein Auto, das er routiniert bedienen konnte wie einen Zauberwürfel.
Ein brauner Honda Civic mit typischem Spätachtziger-Design stand am Bordstein neben einer hohen Hecke. Das nächste Haus war ein ganzes Stück von der Straße zurückgesetzt und schien völlig ruhig. Mike parkte hinter dem Auto und sprang aus seinem Pick-up. Ihm schoss durch den Kopf, dass er mit jedem neuen Auto, das er sich für die Flucht besorgte, einen Schritt weiter in die Vergangenheit tat.
»Nimm deine Sachen.«
Aber Kat war zu fasziniert, um seine Anweisungen zu befolgen. Während er in seinem Werkzeugkasten kramte, beobachtete sie ihn vom Gehweg aus, schwang ein Bein hin und her und kaute auf der Innenseite ihrer Wange. Das Stemmeisen konnte er nicht finden, aber dafür ein Stück festen Elektrodraht, den er zusammenlegte, um am Ende eine Schlinge zu bilden. Seine Hände schienen den Draht wie von selbst zu biegen, sein motorisches Gedächtnis arbeitete wie auf Autopilot. Am Ende fasste er den Draht mit den Zähnen, schob sich einen Hammer in die Hosentasche und ging mit zwei Schlitzschraubenziehern auf den Honda zu. Auf der Fahrerseite rammte er die zwei Schraubenzieher in einem Abstand von ungefähr fünf Zentimetern zwischen die Oberkante des Fensters und die Gummidichtung, und öffnete so einen schmalen Spalt.
»Dad?«
Der Draht glitt durch den Spalt, die Schlinge legte sich um den Kopf des Türknopfes, und im nächsten Moment war das Auto offen.
»Dad?«
Mit drei Hammerschlägen entfernte er das Plastikzündschloss und der breitere Schraubenzieher passte genau ins entstandene Loch. Mit einer Drehung seines Handgelenks brachte er den Motor zum Schnurren.
»Dad?«
Schließlich drang Kats Stimme zu ihm durch, und er blickte auf. Sie stand mit verschränkten Armen ein, zwei Meter neben dem Fenster auf der Fahrerseite. Ihr Mund stand vor Staunen leicht offen.
»Wo hast du das gelernt?«