36

Mit steifem Rücken, den Blick konstant auf die Tür gerichtet, saß Shep an Annabels Seite. Ihr Brustkorb hob und senkte sich inzwischen wieder aus eigener Kraft, ihre Atemzüge waren tief und geräuschvoll. Ihre Augen waren verquollen, die Flüssigkeit, die sie über den Tropf bekam, ließ sie aufgedunsen wirken. Auf dem Monitor zeichneten sich Berge und Täler ab.

Der Türknauf drehte sich, und Dr. Cha trat ein. Nur Sheps Augen bewegten sich.

Es war schon spät, und auf den Fluren war es ganz still.

»Es tut mir leid, Shep«, sagte sie, »aber die Besuchszeit ist seit einer Dreiviertelstunde vorbei. Sie müssen jetzt wirklich gehen.«

»Ich kann nicht.«

»Ich kann nichts für Sie tun. Diese Krankenzimmer sind wirklich nur für die Patienten gedacht.«

Shep griff nach einem Glasbehälter, der auf einer Abstellfläche stand, und zerbrach ihn mit der Hand. Tupfer und Scherben fielen zu Boden. Mit einer Scherbe fügte er sich einen fünf Zentimeter langen Schnitt im Unterarm zu. Das Blut schlängelte sich in Rinnsalen bis zu seiner Hand, tropfte ihm von den Fingerspitzen und hinterließ ein Sprenkelmuster auf den Fliesen.

Er zog den Trennvorhang auf, legte sich in das leere Bett neben Annabel und erklärte: »Ich muss genäht werden.«

»Sie Idiot! Ich sollte die Security rufen.«

»Nach allem, was ich von denen so gesehen habe, können Sie sie ruhig rufen.«

Sie trat ein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Die beiden maßen sich mit Blicken. »Sie sind wirklich anstrengend, wissen Sie das?«

»Wie bitte?«

»Oh, Sie haben mich schon ganz genau verstanden.«

»Ich bezahl auch für das Zimmer«, sagte Shep. »Bar – ohne den ganzen Krankenkassenscheiß. Aber ich will dieses Bett.«

»Das ist hier ein Krankenhaus, kein Hotel.« Sie nahm den Hörer von der Wand und drückte einen Knopf. »Security bitte.«

Shep zeigte mit einem blutigen Finger auf Annabel. »Ihre Patientin ist in Gefahr.«

Auf dem Gesicht der Ärztin zeichnete sich ihre Verunsicherung ab. Die aber gleich darauf ihrem Ärger wich. »Das können Sie überhaupt nicht wissen. Die Polizisten haben gesagt, dass alles in Ordnung ist. Und dass vielmehr Sie hier der Kriminelle sind.«

»Ich bin auch ein Krimineller. Aber Sie möchten morgen früh bestimmt nicht aufwachen und erfahren, dass man sie umgebracht hat.«

Sie drückte sich den Hörer ans Ohr. »Selbst wenn ich Männer und Frauen im selben Zimmer unterbringen dürfte, würden Ihnen ein paar Stiche noch keine Unterbringung in der Intensivstation erkaufen. Dafür kriegen Sie zehn Minuten mit einem Medizinstudenten in der Notaufnahme.«

Am anderen Ende der Leitung meldete sich jetzt eine schwache Stimme, die von den glatten Flächen im Zimmer aber deutlich zurückgeworfen wurde. »Security, hier Security. Haben Sie ein Problem?«

Shep hob die glänzende Scherbe an sein Gesicht. »Gut. Dann sagen Sie mir, was ich abschneiden muss.«

 

Auf dem Weg ins Landesinnere. Mit einem Honda Civic, seiner achtjährigen Tochter, einem nicht registrierten Revolver und einem Rucksack, der eine knappe Viertelmillion Bargeld enthielt. Der violette Himmel, der von der untergehenden Sonne noch halb erleuchtet war, schimmerte unheilverkündend. Auf einer elektronischen Anzeigetafel am Straßenrand wurde eine Kindesentführung gemeldet, aber sie waren schon daran vorbei, als Mike klar wurde, dass er gerade Kats Beschreibung gelesen hatte. Er wechselte die Kennzeichen und behielt die, die er vom Mazda von Jimmys Freundin abgeschraubt hatte, damit er mit seinem gestohlenen Auto kein Aufsehen erregte. Über ihm blinkten die Freeway-Schilder, Stationen auf dem Weg ins Nirgendwo. Als er an einem Artischockenfeld vorbeischoss, erhob sich ein biblischer Schwarm von Heuschrecken, die gegen die Windschutzscheibe prallten. Kat nahm jedes zerplatzende Insekt mit einer Mischung aus Ekel und Vergnügen auf.

Mike hatte ihr nach bestem Wissen und Gewissen zu erklären versucht, in was für einer Situation sie steckten, aber sie wollte vor allem darüber reden, wie er das Auto geknackt hatte.

»Und dann kamst du da mit deinem Hammer, bäng!, und dann sprang das Auto einfach an. Und dann schraubst du auch noch die Kennzeichen ab, wie so ’n Bankräuber. Das war echt cool!«

Ihre manische Beschäftigung mit ausgewählten Aspekten ihrer schrecklichen Erlebnisse war wahrscheinlich reiner Selbstschutz, nahm er an, also ließ er sie reden, wie ein Spielzeug zum Aufziehen, das aber einfach kein Ende fand. Sie stellte das altmodische Autoradio an und drehte an dem Knopf, bis sich verzerrte Stimmen aus dem Rauschen lösten. Amy Winehouse wollte nicht in die Entzugsklinik und blieb bei ihrem hartnäckigen no no no, und Kat wühlte im Handschuhfach, fasziniert von Lippenstift, Pfefferminzbonbons und einer halbgerauchten Schachtel Mentholzigaretten. Sie posierte mit einer Zigarette im Mund, um zu sehen, ob er etwas sagen würde, aber er merkte es kaum, bis sie anfing, gespielt zu inhalieren. Sie legte es auf einen Streit an, damit er ihr endlich einen Vorwand lieferte, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und loszuweinen. Aber er brachte es in diesem Moment einfach nicht über sich, also ließ er sie Luft paffen, bis es sie selbst langweilte.

An der nächsten Raststelle stieg er aus, griff sich den Rucksack und ging zum Münztelefon. »Bleib ganz in der Nähe!«

Kat nahm Snowball II mit und setzte sich an einen Picknicktisch in der Nähe. Mike benutzte eine Telefonkarte, um Hank auf seinem Handy anzurufen.

»Hank …«

Doch Hank fiel ihm sofort ins Wort. »Ich bin in der Nähe eines Münztelefons. Ruf mich dort an.« Er wiederholte die Nummer zweimal.

Mike wählte die neue Nummer, und als Hank abnahm, zitterte seine Stimme. »Es geht dir gut. Du konntest also fliehen.«

»So gerade eben. Was soll das mit dem Telefon, wirst du überwacht?«

»Keine Ahnung. Aber in meinem tiefsten Inneren bin ich eben doch ein paranoider Bulle. Und bei dem, was die da gegen dich auffahren …«

»Wer zur Hölle ist dieser Rick Graham?«, fragte Mike.

»Ein Leiter der nationalen Antiterrorismusbehörde.«

»Dann bin ich jetzt also ein Terrorist?«, fragte Mike. »Das wird ja immer besser.«

Kat beobachtete ihn von ihrer Parkbank aus.

»Das ist auch der Grund, weswegen ich nicht rausfinden konnte, was es mit dem Befehl, dich im Auge zu behalten, auf sich hat«, fuhr Hank fort. »Die Anfrage war unglaublich kompliziert – der ganze Scheiß unterliegt der Geheimhaltung. Am Ende hab ich den Sohn eines ehemaligen Partners erreichen können, einen Staatsanwalt, der mir erklärt hat, was da los ist.«

»Was ist das für eine Antiterrorismusbehörde? Warum hab ich von der noch nie gehört?«

»Das ist so ein Ding, an dem mehrere Behörden zusammenarbeiten. Graham stammt aus dem Zentralbüro in Sacramento. Sie nennen es ›Fusionszentrum‹, damit es beeindruckender klingt.«

»Es klingt beeindruckend.«

»Die holen sich die Besten und Klügsten von der California Highway Patrol, vom kalifornischen Justizministerium, aus dem Büro des Gouverneurs – die haben den ganzen verdammten Staat im Griff. Der Sheriff agiert auf staatlicher Ebene, deswegen waren seine Jungs auch die Ersten, die hinter dir her waren.«

Ein ungesundes Pfeifen markierte jeden von Hanks Atemzügen. Das Ausmaß von dem, was Mike hier erfuhr, raubte ihm aber genauso den Atem. Graham war persönlich nach L.A. gekommen, um ihn zu fassen.

Ein bitteres Lachen kam über seine Lippen. »Grüne Häuser.« Er versetzte der Wand in Zeitlupe einen Faustschlag und drückte seine Knöchel ins splitternde Holz. »Als das Ganze anfing, dachte ich noch, dass es um die betrügerischen Grünen Häuser geht.«

Am anderen Ende des Rastplatzes stieg gerade eine Familie aus einem Kombi. Sie vertraten sich die Beine, und reichten sich leere Tassen und Verpackungen zu, die der letzte in der Kette in den Abfalleimer warf. Ein Golden Retriever hüpfte aus seinem Transportkäfig und pinkelte, sichtlich erleichtert, auf die dafür vorgesehene Rasenfläche. Die Tochter, ein Teenager, erwachte aus ihrer iPod-Trance, um ihrem kleinen Bruder eine Ohrfeige zu verpassen. So banal die Szene war, es kam Mike vor, als würde er eine Traumwelt durch einen Spiegel beobachten.

Hank sprach weiter. »Graham ist aus Sacramento, und Burrells letzte Adresse war in Redding. Die zwei Städte sind – wie viel wird das sein? – vielleicht zwei Stunden voneinander entfernt. Diese Gegend in Nordkalifornien sieht mir sehr interessant aus, aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wo ich ansetzen soll.«

Mike konzentrierte sich wieder. »Aber wenn das eine staatliche Behörde ist, kann ich dann nicht das FBI um Hilfe bitten?«

»Vergiss es«, erwiderte Hank. »Diese Typen arbeiten eng mit dem FBI zusammen, und auch mit Homeland Security. Sie sind wahrscheinlich die einzige staatliche Behörde, die diese Art von übergreifendem Einfluss hat.«

»Aber das ist doch alles total lächerlich.« Mike versuchte, seine Stimme zu dämpfen. »Graham kann doch nicht im Ernst glauben, dass ich ein Terrorist bin!«

Hinter ihm schlug eine Tür zu, und er merkte, dass Kat wieder ins Auto gestiegen war. Sie saß auf dem Fahrersitz, wirkte sichtlich aufgewühlt und hatte die Hände aufs Lenkrad gelegt, als wollte sie gleich losfahren.

»Nein«, meinte Hank. »Aber indem er dich als Terroristen bezeichnet, kann er dich verfolgen, als wärst du einer. Dein doppelter Hintergrund passt prima ins Bild. Und jetzt noch ein paar Leichen dazu – nicht unbedingt schwierig, dir eine Anklage anzuhängen. Oder einen Unfall zu konstruieren.«

»Er braucht also für irgendwas einen Sündenbock?«

»Vielleicht. Aber in Anbetracht deiner Familiengeschichte sagt mir mein Bauchgefühl, dass er eher versucht, eine alte Angelegenheit auszuräumen.«

»Was für eine alte Angelegenheit? Mein Vater war ja wohl kaum ein Staatsfeind. Mann, damals gab es noch gar keine Terroristen. Und selbst, wenn er einer war – ich war vier, als sich unsere Wege trennten. Was könnte ich schon wissen?«

»Wenn ich mir so anschau, wie Graham die Drecksarbeit von Roger Drake und den Burrell-Jungs erledigen lässt, ist mir klar, dass das keine offizielle staatliche Angelegenheit ist. Die Terroristenkarte zu spielen, ist einfach nur die effektivste Art, dich dranzukriegen.«

»Irgendjemand hat ihn also völlig in der Hand«, sagte Mike.

»In Anbetracht seines Postens in einer Polizeibehörde muss das eine ganz schön große Hand sein.«

»Aber er hat doch überhaupt keine Beweise gegen mich. Wie stellt er es an, dass alle brav mitspielen? Ich meine, Elzey und Markovic zum Beispiel – erst setzen sie mir zu, dann sind sie plötzlich im Krankenhaus. Sind die beiden auch korrupt? Hat er sie bestochen?«

»Du kapierst es immer noch nicht, Mike. Wenn du erst mal ein Verdächtiger warst, bleibst du ein Verdächtiger. Schau, die Sheriffs von Lost Hills sind zuständig für einen Bereich von … sagen wir mal 180 Quadratmeilen. Da sind zum einen die reichen Arschlöcher in Calabasas, Hidden Hills, Malibu, Westlake, und zum andern die weiße Unterschicht, Crackraucher und die Cowboys in Chatsworth. Dann bekommen sie eine Mitteilung von einer staatlichen Behörde, dass du ein Terrorist bist, den sie im Auge behalten sollen – na, was meinst du wohl, was sie da tun? Werden sie sich reinhängen, um zu beweisen, dass du in Wirklichkeit ein netter Kerl bist? Nein. Die wollen dich festnehmen, den Fall an die staatlichen Stellen weitergeben und sich dann wieder über den Stapel aus Beschwerden hermachen, deren Stimmen der Sheriff bei der nächsten Wahl braucht. Bei ganz offenkundig illegalen Dingern würden sie natürlich nicht mitmachen, aber sie werden trotzdem verdächtigen, wen sie verdächtigen sollen, und beobachten, wen sie beobachten sollen. Das ist keine Verschwörung – das nennt sich Delegieren und Personalmanagement.«

»Aber es muss doch irgendjemand geben, dem ich meine Geschichte erzählen kann.«

»Was für eine Geschichte, Mike? Dass du unschuldig bist?« Hank war weniger wütend als gestresst. »Ich glaube, das ist eine Geschichte, die sie in Abständen immer mal wieder zu hören kriegen.«

Mike blickte zu Kat in ihrem gestohlenen Civic. Das Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos machte die Fenster jedes Mal undurchsichtig, wenn das Licht direkt darauffiel. Im einen Moment war sie zu sehen, dann wieder weg, wieder zu sehen, wieder weg. Während er beobachtete, wie sie so geisterhaft zwischen Existenz und Nicht-Existenz wechselte, verhärtete sich der Knoten in seinem Magen – all die tiefsten, dunkelsten Ängste, die er im Laufe der Jahre geschluckt hatte, nahmen jetzt körperliche Form an. Er dachte an den Morgen, als er in seinem Auto saß und ihr zusah, wie sie die Kletterstange auf dem Spielplatz hochkletterte, wie sie mit ihrer winzigen Faust auf die oberste Stange schlug.

Er fühlte sich wie ein unbeteiligter Dritter, als er seine eigene Stimme hörte. »Was soll ich also tun?«

Die Verbindung schien eine plötzliche Klarheit zu erlangen, das Rauschen setzte für einen Moment völlig aus. Das Heulen der vorüberbrausenden Autos auf dem Freeway war ebenso hypnotisch wie erschöpfend. Wann hatte er zum letzten Mal geschlafen? Er befeuchtete sich die Lippen und wartete.

»Hank. Was soll ich tun?«

»Ich weiß nicht, was ich dir antworten soll, Mike.«

Unter allgemeinem Gezanke stieg die Familie wieder in ihren Kombi und fuhr weiter, um ihre fröhliche Reise fortzusetzen. Mike atmete Abgase und den Geruch von heißem Teer ein und sah ihnen nach, bis ihre Rücklichter sich in den Verkehrsfluss mischten und verschwanden.

»Mike? Mike? Bist du noch dran?«

Eine Stimme echote durch seinen Kopf – Sheps Antwort, als Mike meinte, dass sie als Heranwachsende derart viel Durchhaltevermögen gehabt hatten. Ja, aber auch bloß, weil wir sonst nichts hatten.

»Ja. Ich bin hier.« Seine Stimme war roboterhaft flach. »Ich hab schon mit Shep gesprochen.« In ihrem Telefonat hatte Shep sich nicht viel mehr abringen können als ein »Ich hab’s dir doch gleich gesagt«. Er hatte Mike auf den neuesten Stand gebracht, was Annabels Verfassung anging, und hatte versucht, neue Pläne zu schmieden, wie es Mike jetzt auch tat. Er musste sich irgendwie weiterkämpfen, und sei es auch nur zentimeterweise. »Er glaubt, dass Kiki Dupleshney momentan unsere beste Option ist.«

»Mike, du kannst nicht …«

»Das ist seine Welt. Er hat in seinem Netzwerk bekanntgegeben, dass er eine Frau braucht, die bei einem geplanten Raubüberfall als Bauernfängerin mitspielen soll. Er wird versuchen, sie zu ködern.«

»Mike. Diese Männer wollen dich töten. Du kannst Kat nicht die ganze Zeit auf der Flucht mitzerren.«

Keine Antwort. Nur der leise fallende Regen, der eingesetzt hatte, ohne dass es Mike aufgefallen war.

»Mach’s gut, Hank.« Er hängte den Hörer behutsam auf die Gabel.

Dann trottete er zu seinem Pick-up hinüber. Kat hatte die Fahrertür abgesperrt. Er klopfte, aber sie würdigte ihn keines Blickes, sondern starrte weiter geradeaus auf die Regentropfen, die auf die Motorhaube fielen. Er ging ums Auto herum, stieg auf der Beifahrerseite ein, nahm den Rucksack auf den Schoß und blieb tropfnass so sitzen. Die beiden starrten ins Nichts, auf dem Weg nach Nirgendwo. In einem gestohlenen Auto auf einem Rastplatz an einem Freeway, dessen Namen Mike nicht hätte nennen können.

Als Kat das Schweigen brach, war er überrascht von der Intensität ihrer Stimme. »Was war da mit ›Green Valley‹?«

Er senkte den Kopf. Das Wasser tropfte ihm von der Stirn auf die Oberschenkel.

»Betrügerische Grüne Häuser.« Mit einer wütenden Bewegung wischte Kat sich eine Träne weg, die sich auf ihre Wange verirrt hatte, aber ihre Stimme hatte sich überhaupt nicht verändert. »Du hast was von ›betrügerischen Grünen Häusern‹ gesagt. Darüber habt ihr auch auf der Polizeistation geflüstert, Mama und du.«

»In Anbetracht der ganzen Dinge, die uns gerade passieren, ist das in diesem Moment nicht besonders wichtig.«

»Mir ist es aber wichtig. Und zwar in diesem Moment.«

Ihm wurde klar, dass er jetzt nicht mehr auskonnte und ihm nichts anderes übrig blieb, als die Wahrheit auf den Tisch zu legen, schnell und brutal. Trotzdem brauchte er zwei Anläufe, bis er die Worte über die Zunge brachte. »Die Häuser waren nicht wirklich grün. So ein Typ hat die falschen Rohre verlegt. Und ich hab es vertuscht.«

Sie war ganz bleich und zitterte. »Und der Preis, den du bekommen hast?«

»Den hatte ich nicht verdient.«

Auf einmal klang ihre Stimme nur noch schwach und kläglich. »Du hast mich angelogen?«

Seine Hände zitterten, und sein Gesicht fühlte sich ganz taub an. »Ja.«

Sie würgte einen Schluchzer hervor, und im nächsten Moment hatte sie die Tür aufgerissen und war im Regen verschwunden. Er rannte ihr nach, ohne darauf zu achten, ob er in Pfützen trat. Sie hatte einen kleinen Vorsprung, ein Gespenst im heftigen Regen, und sie war schneller, als er erwartet hätte. Als sie die grasbewachsene Anhöhe hinter den Toiletten erklommen hatte und gerade auf der anderen Seite wieder hinunterrennen wollte, bekam er sie zu fassen und umschlang sie fest mit beiden Armen, damit sie nicht beide den Abhang hinunterfielen.

Sie trat nach ihm, um sich aus seiner Umklammerung zu befreien, und schrie ihn an: »Was für Lügen hast du mir sonst noch erzählt? Was noch?« Sie schlug immer noch wild um sich, und er verlor das Gleichgewicht und rutschte auf seinem Hintern übers Gras. Das Regenwasser drang sofort durch seine Jeans. »Ich hasse dich!«, brüllte sie. »Du kannst mich nicht für den Rest meines Lebens in Motels und Autos wohnen lassen. Ich will zur Schule gehen, und ich will mein Zimmer zurück, und Mom auch

Er hielt ihren zerbrechlichen kleinen Körper fest, bis sie erschlaffte und nur noch schluchzend an ihm lehnte.

Dann sagte er in ihre nassen Haarsträhnen: »Ich werde nie wieder ein Wort brechen, das ich dir gegeben habe. Nie wieder.«

Ohne ihr Gesicht von seinem Brustkorb zu nehmen, murmelte sie, halb Stöhnen, halb Mantra: »Ich will meine Mom ich will meine Mom ich will meine Mom

Er stand mit ihr im Regen und hielt sie im Arm.

 

Auf dem Krankenhausflur hörte man langsame, schwere Schritte. Einen Moment lang hielten sie inne. Zwei dunkle Flecken unterbrachen den Lichtstreifen, der unter der Tür zu sehen war. Die Klinke ließ sich lautlos herunterdrücken, und auch die Türangeln protestierten nicht.

Ein Lichtspalt fiel vom hell erleuchteten Flur in das dunkle Krankenzimmer und verbreiterte sich wie ein aufklappender Fächer, als die Tür nach innen aufging.

Die verzerrte, massive Gestalt eines Mannes erstreckte sich als Schatten über den Boden und als schwarzer Scherenschnitt im Rahmen eines hellgelben Rechtecks. Im Zimmer lag die schlafende Annabel. Ihre Arme lagen kraftlos auf einer ausgewaschenen Krankenhausdecke, ihre Lippen waren leicht geschürzt. Die Hände der Scherenschnittfigur zuckten ungeduldig. Dann hörte man zwei schlurfende Schritte, und die Tür schloss sich langsam wieder, bis das letzte bisschen Licht verschwunden war. Schmutzige Stiefel bewegten sich über die sterilen weißen Fliesen.

Sein Gesicht wurde vom Zickzack der EKG-Linie auf dem Monitor erleuchtet, als Dodge auf Annabels ruhiges Gesicht herabblickte.