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Mike lag in der Dunkelheit und fixierte das Babyphone auf dem Nachttisch. In drei Stunden musste er schon wieder aufstehen, aber er konnte wie immer nicht einschlafen. Außerdem kreiste eine Schmeißfliege in unregelmäßigen Abständen über dem Bett, damit er auch ganz bestimmt wach blieb. Seine Mutter hatte immer gesagt, wenn man eine Schmeißfliege im Haus hat, bedeutet das, dass die Familie Pech haben wird – eines der wenigen Dinge, die er von ihr in Erinnerung hatte.

Er braucht einen Moment, um sich ein paar weniger morbide Erinnerungen an seine frühen Kinderjahre ins Gedächtnis zu rufen. Die wenigen Details, die er behalten hatte, waren kaum mehr als flüchtig aufblitzende Sinneseindrücke. Der Geruch von langsam abbrennenden Salbeisträußchen in einer gelb gekachelten Küche. Seine Mutter, wie sie ihn badete. Ihre Haut, die immer aussah wie von der Sonne gebräunt. Und ihr zimtartiger Geruch.

Die roten Balken leuchteten auf dem Monitor auf. Vermutlich nur statisches Rauschen. Oder hatte Kat gerade gehustet?

Er stellte den Empfänger leiser, um Annabel nicht zu wecken, aber sie drehte sich schon unter der Decke um und meinte heiser: »Schatz, dieses Ding heißt nicht ohne Grund Baby-phone.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte was gehört.«

»Sie ist acht. Und reifer als wir beide zusammen. Wenn sie etwas braucht, wird sie sich schon melden.«

Es war ein alter Streitpunkt, und Annabel hatte ja auch recht, also stellte er das Gerät stumm, nur um dann missmutig aufs Display zu starren. Es ganz abzuschalten, brachte er einfach nicht über sich. Ein kleines Plastikding, das die schlimmsten Elternängste verwaltete. Ersticken. Krankheit. Einbrecher.

Normalerweise waren die Geräusche, die man hörte, nur Interferenzen oder der Säugling des Nachbarn, der mit seiner Schnupfennase vor sich hinschniefte. Manchmal hörte Mike zwischen dem ganzen statischen Rauschen sogar Stimmen. Er hätte schwören können, dass in diesem Gerät Geister wohnten. Gemurmel aus der Vergangenheit. Ein Tor zum Unterbewusstsein. In dieses Phantomgeflüster konnte man alles hineininterpretieren, was man nur wollte.

Aber wenn er das Babyphone nun gerade in der Nacht ausstellte, in der Kat sie doch brauchte? Wenn sie nach einem Alptraum verängstigt und verwirrt aufwachte, oder plötzlich gelähmt wäre, der Fluch der Schmeißfliege, und dann stundenlang verlassen daliegen und mit ihren Ängsten allein sein würde? Wie bestimmt man, wann die erste Nacht sein soll, in der man dieses Risiko eingeht?

 

In den frühen Morgenstunden begannen Logik und Verstand einzuschlafen, bevor er selbst es schaffte. Und ihm schien auf einmal alles möglich, aber im negativen Sinne.

Endlich begann er wegzudämmern, aber schon startete die Schmeißfliege ihre nächste Runde um das Nachtlicht, und einen Moment später flammten wieder die roten Balken auf dem stumm gestellten Gerät auf. Hatte Kat aufgeschrien?

Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht.

»Es geht ihr prima«, stöhnte Annabel.

»Ich weiß, ich weiß.« Trotzdem stand er auf und tapste den Flur entlang.

Kat lag aufgedeckt in der Nachtkühle. Einen ihrer schlanken Arme hatte sie um einen Stoffeisbären geschlungen, ihr Mund stand leicht offen. Kastanienbraunes Haar umrahmte ihr ernstes Gesicht. Sie hatte die weit auseinanderstehenden Augen ihrer Mutter, eine kecke Nase und eine volle Unterlippe. Aufgrund ihres Aussehens und ihres altklugen Benehmens war es manchmal schwer zu sagen, ob Kat eine achtjährige Version von Annabel war oder Annabel eine sechsundzwanzigjährige Version von Kat. Das einzige Merkmal, das Kat von Mike geerbt hatte, war ein ziemlich auffälliges: Sie hatte ein blaues und ein braunes Auge. Heterochromie nannte man das. Woher die Locken kamen, war und blieb ihm jedoch ein Rätsel.

Mike lehnte sich über sie und horchte auf das leise Pfeifen ihrer Atemzüge. Dann setzte er sich in den Sessel in der Ecke und sah Kat beim Schlafen zu. Er spürte einen stolzen Stich, als er daran dachte, was für eine Kindheit Annabel und er ihrer Tochter geschenkt hatten, dieses Gefühl von Geborgenheit, das sie so tief schlafen ließ.

»Schatz.« Annabel stand auf der Schwelle und schob sich das strähnige Haar aus der Stirn. Sie trug ein Top und ein Paar seiner Boxershorts und sah darin so gut aus wie vor zehn Jahren in ihren Flitterwochen.

»Komm ins Bett. Morgen ist ein großer Tag für dich.«

»Ich komm gleich.«

Sie trat an seinen Sessel und küsste ihn leise, dann trottete sie wieder ins Schlafzimmer.

Seine Gedanken kreisten immer wieder um das ungelöste Problem, das ihn am Morgen erwarten würde. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er jetzt sowieso nicht mehr einschlafen würde, also ging er in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Als er wieder im Sessel saß und zufrieden an seinem Becher nippte, betrachtete er die blassgelben Wände, die Puppen auf dem Hängeregal und seine Tochter in ihrem engelsgleichen Schlaf. Die einzige Unterbrechung kam vom gelegentlichen Summen der Schmeißfliege, die ihm durch den Flur hierher gefolgt war.