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Wieder zuckten Dodges Hände. Eine bewegte sich zu dem Durcheinander aus Schläuchen auf dem fahrbaren Gestell neben Annabels Bett, die andere glitt in die Tasche auf dem Oberschenkel seiner Cargohose.
Da glitt der Vorhang, der das andere Bett verbarg, mit einem grellen Quietschen zurück. Es klang wie ein kurzer, schriller Schrei. Dodge hatte kaum genug Zeit herumzufahren, da traf ihn Shep auch schon seitlich am Hals. Der überrumpelte Dodge ging in die Knie und griff mit seinen dicken Fingern hilflos in die Luft. Sein Mund stand offen, und eine seiner Hände krallte sich in die Decke auf Annabels Bett und knüllte sie zu einem wirbelnden Knäuel zusammen. Selbst neben dem knienden Dodge nahm sich Shep noch zwergenhaft aus, und er wirkte absurd durchschnittlich gebaut.
Bevor Dodge sich wieder sammeln konnte, packte Shep ihn am Hemdkragen und am Arm und rannte mit ihm auf die Tür zu, als wollte er ihn als Rammbock einsetzen. Dodge krümmte sich jedoch jäh zusammen, ließ sich fallen, und auf einmal hatte er seinen Schlosserhammer in der Hand, dessen Stahlkopf um Haaresbreite an Sheps Schläfe vorbeifuhr. Der Zusammenstoß dieser Gegner hatte etwas Titanenhaftes, und die beiden Männer wurden von der Wucht in den Raum zurückgeschleudert. Die Tür knackte, gab aber nicht nach. Stattdessen ging sie zitternd auf.
Dodges Atem hörte sich an wie ein heiseres Krächzen, ein hauchdünner Luftstrom, der es kaum durch seine Kehle schaffte. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab. Trotzdem rappelte er sich wieder auf die Füße und hielt seinen Hammer locker in der Hand, wie Thor. Er stand jetzt mit dem Rücken zur Tür, einen ganzen Kopf größer als Shep.
Shep hatte sich seinen St.-Jerome-Anhänger vom Hals gerissen. Die scharfkantige Seite ragte zwischen seinen Fingern hervor wie ein Messer. Mit seiner nächsten Bewegung rammte er das Metall in die obere Mitte von Dodges Brustkorb, in einer groben Variante von Dr. Chas induziertem Schmerzreiz. Dodge flog rückwärts durch die Türöffnung, wobei seine Arme und Beine wie schwerelos durch die Luft ruderten.
Rasch warf Shep die nicht abschließbare Tür zu und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Ein Donnerschlag erschütterte die Tür, als wäre von der anderen Seite ein Truck dagegengefahren.
Sheps Sneakers verloren kurz die Bodenhaftung, um dann mit einem leise quietschenden Geräusch wieder auf den Fliesen zu landen. Er schob die Tür wieder zu. Der nächste Donnerschlag, unter dem sich die Tür einen halben Meter weit öffnete, bevor sie wieder zuknallte.
Stille. Shep schnaufte und wartete, die Schulter gegen die Tür gestemmt. Die Wunde an seinem Unterarm war an den Stichen wieder aufgerissen.
Da hörte man in allernächster Nähe ein Krachen. Auf dem Flur fing irgendjemand an zu schreien. Etwas weiter weg gab es einen Knall. Schritte und panische Stimmen.
Dann bewegte sich die Klinke, die Shep immer noch umklammerte, und jemand drückte von außen gegen die Tür. Nach Dodge fühlte es sich so an, als würde ihm ein Welpe die Handfläche beschnüffeln.
Shep trat einen Schritt zurück und Security-Männer und Krankenschwestern kamen ins Zimmer und stürzten zu Annabel. Zwei Wachleute machten Anstalten, Shep zu schnappen, doch Dr. Cha rief ihnen zu: »Nein, nein, der ist okay!«
Shep schob sich durch das Gewühl und spähte über die Schwelle. Dodge hatte bei seiner Flucht ein Bild der Zerstörung hinterlassen – ein umgerannter Patient hatte sich in seinem Krankenhausgewand und dem Infusionsständer verheddert, eine blutende Krankenschwester krabbelte unter einer umgeworfenen Transportliege hervor, ein Security-Mitarbeiter, der einen Schuss ins Knie bekommen hatte, stöhnte und umklammerte sein Bein mit beiden Händen, als wollte er es am Explodieren hindern. Und ganz hinten, am Ende des Korridors, fiel gerade die Tür zum Treppenhaus ins Schloss.
Dr. Cha saß in der Stille von Annabels Krankenzimmer und nähte den Schnitt auf Sheps Arm ein zweites Mal. Blut floss aus der Wunde und tropfte ihm vom Ellbogen. Ihre Finger bewegten sich flink, man konnte nur mit Mühe Nadel und Faden verfolgen. Vor der Tür waren zwei Wachmänner postiert. Die Stille tat ihnen gut.
»Ein Unfallchirurg kann seine Zeit wahrlich besser anwenden, als so einen Ritzer zweimal zu nähen«, bemerkte sie.
»Tut mir leid, dass ich nicht schlimmer verletzt worden bin«, sagte Shep.
»Mir auch.« Sie grinste, dann rückte sie seinen Arm zurecht wie ein Stück Fleisch auf dem Grill.
Sie hatten die offizielle Version immer und immer wieder erzählen müssen. Wie besprochen, hatte Dr. Cha den Polizisten erklärt, dass sie Shep erlaubt hatte, noch einmal ins Zimmer zurückzugehen, um seinen Anhänger zu holen, den er dort vergessen hatte. Was für ein glückliches Timing, dass er gerade im Raum gewesen war, als der Eindringling hereinkam!
Annabel bewegte sich ganz leicht in ihrem Bett und verzog das Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. Fortschritt.
Dr. Cha merkte auf und hielt kurz inne, aber dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Als sie fertig war, wischte sie Shep das Blut mit einem Stückchen nasser Gaze vom Arm.
Er fädelte die dünne Silberkette wieder durch seinen Anhänger und senkte kurz den Kopf, um sie überzustreifen. Dabei blieb sein Blick an einem kleinen Stück Elektrodraht hängen, das sich hinter einem der Räder des Krankenbettes verbarg. Er zog es hervor und hielt es ans Licht. Als er merkte, wie sie ihn beobachtete, erklärte er:
»Ein Signaldraht. Für einen digitalen Transmitter – also eine Wanze.«
»Wozu?«
»Um gleich zu erfahren, wenn Mike zu Besuch kam. Das hier ist der einzige Ort, an dem er ihrer Meinung nach vielleicht aufgetaucht wäre. Und wo sie ihn in einem geschlossenen Raum gehabt hätten.«
Dr. Cha ließ die Fingerknöchel knacken und schüttelte den verkrampften Nacken. Ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar umrahmte einen Schwanenhals. Nach einem Moment des Schweigens sagte sie: »Dieses Krankenhaus ist nicht sicher, solange sie hier ist.«
»Stimmt«, sagte Shep.
»Ich hab heute Abend gleich nach seiner Landung mit Annabels Vater gesprochen. Ich nehme an, dass die Anhörung wegen der Übertragung der Verfügungsvollmacht gleich morgen früh stattfinden wird.« Sie warf einen müden Blick auf ihre Breitling, obwohl die Wanduhr unübersehbar Viertel nach vier anzeigte. »So etwas wird nur ganz selten übertragen, nicht ohne einen langen Rechtsstreit, aber ich habe schon erlebt, dass das Recht auf Ausübung der Vollmacht ausgesetzt wurde.«
Shep sah sie geduldig an.
»Wenn Mike Wingate eine Verlegung seiner Frau beantragen will, muss er mir innerhalb der nächsten sechs Stunden ein Schriftstück mit seiner Unterschrift zukommen lassen.«
»Ich dachte, sie darf nicht bewegt werden«, meinte Shep.
Diesmal hatte Dr. Chas Lächeln etwas Verschlagenes. »Darf sie auch nicht.«