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Mike und Kat warteten am Eingang der Minigolfanlage, als der pickelgesichtige Manager eintraf, um das Tor aufzusperren. Mike hatte den Camry am Rand des Parkplatzes abgestellt. Das zerbrochene Fenster war wieder repariert und er hatte neue Nummernschilder von einem Jetta geklaut.
In einer Videospielhalle wechselte er vierzig Dollar in 25-Cent-Stücke und bezog Stellung vor einem Münztelefon, während Kat in einem Gang ganz in der Nähe, wo er sie gut im Auge behalten konnte, vor einem Videospiel saß. Die Dunkelheit und die blinkenden Lichter wirkten desorientierend, wie eine Verlängerung der endlosen Nacht, aus der sie gerade gekommen waren. War es draußen wirklich schon Morgen?
Ohne seine Augen länger als eine Sekunde von Kat zu nehmen, machte er einen Anruf nach dem anderen, begann mit den Freephone-Telefonnummern und ließ sich von einer Stelle zur nächsten weiterverbinden. Da er lauter Notdienste anrief, erreichte er ziemlich viele, obwohl heute Samstag war. Kat trottete von Spiel zu Spiel und kratzte sich den Kopf. Ihr maskenhaft leeres Gesicht wurde vom fahlen Schein der Bildschirme beleuchtet. Die Spielhalle füllte sich, bis es in den Gängen von Kindern nur so wimmelte – Süßigkeiten und Farben und vergnügtes Gelächter brandeten um Kat wie eine höhnische Erinnerung an die Wochenenden ihrer Vergangenheit. Mike musste sich zusammenreißen, um sich auf seine Telefonate konzentrieren zu können. Nachdem er Unmengen von Vierteldollarmünzen in das Münztelefon geworfen hatte, sortierte er fünfzig Möglichkeiten aus und probierte es noch einmal mit fünfzig anderen, in der Hoffnung, irgendwann doch noch auf eine gangbare Option zu stoßen.
Als er fertig war, war das Telefonbuch mit den schmierigen Abdrücken seiner verschwitzten Finger übersät. Was, wenn ihnen jemand folgte und die Fingerabdrücke untersuchte? Konnten Graham, Dodge oder William diesen Gelben Seiten eine Spur entlocken, die sie wieder zu Kat führte? In einem Anfall zugespitzter Paranoia schmuggelte Mike das Telefonbuch mit hinaus und verbrannte es neben der Mülltonne auf dem Hinterhof.
Kat saß hinter ihm im Auto und sah zu, als würde sie im Autokino einen Film anschauen. Er krümmte sich in der kalten Morgenluft, wärmte sich die Hände an dem Minischeiterhaufen und merkte, dass er kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, so sehr graute ihm vor dem, was er jetzt vorhatte.
Er fuhr durch den Nachmittag Richtung Osten. Kat hatte das Gesicht abgewandt und sah zu, wie die Wüste an ihrem Fenster vorbeizog. Wacholdersträucher schwankten im leichten Wind, Lavendelgestrüpp schüttelte violetten Staub von sich und Josuabäume schraubten sich in die Höhe wie Grabsteine anonymer Gräber.
Warum sollte eine Achtjährige das Ziel von Auftragskillern sein? Letzte Woche hatten William und Dodge Mike so erschreckt, dass er Kat von der Schule holte und nach Hause brachte. Blitzartig kam ihm wieder Hanley in den Sinn, dessen Finger obszön an Annabels BH-Träger herumfummelten. Das ist eine Schweinerei, eine echte Schweinerei. Wir hätten warten sollen. Nicht nur auf Mike warten, sondern auch auf Kat.
An jenem Morgen vor Jahren in ihrem Kombi war das Grauen in der Stimme von Mikes Vater greifbar gewesen. Vielleicht hatte er um Mikes Leben gebangt, wie Mike jetzt um Kats bangte. Aber warum? Sein Vater war verantwortlich für das Chaos, in das er das Leben der Familie gestürzt hatte, zumindest legten die Blutflecken auf seinen Manschetten diese Schlussfolgerung nahe. Doch da schoss Mike ein ganz ähnliches Bild durch den Kopf – wie er selbst in der dämmrigen Garage stand und sich mit einem Lappen Annabels Blut vom Arm wischte. Vielleicht war Mike von seinem Vater ja gar nicht verlassen, sondern gerettet worden? Vielleicht hatte Mikes Vater die einzige Chance ergriffen, ihn zu beschützen – indem er ihn in ein neues Leben schickte?
Aber Mike wollte – beziehungsweise konnte – dieser Erklärung nicht trauen. Sie klang zu sehr nach einem Wunschtraum, einer Herkunftsgeschichte à la Superman, der per Rakete von Krypton auf die Erde geschickt worden war. Aber was noch schlimmer war: Sie schien sich aus seiner Hoffnung zu speisen, aus seiner Sehnsucht, und was seine Kindheit anging, hatte er irgendwann beschlossen, dass Hoffnung und Sehnsucht Sackgassen waren.
Trotzdem – wie konnte er weiter an dieser lebenslangen Wut festhalten, angesichts dessen, was er jetzt selbst vorhatte?
»Arizona«, sagte Kat verträumt, als das Schild am Freeway an ihnen vorüberglitt. »Hier wollte ich schon immer mal hin.«
Als sie die Ortschaft Parker erreichten, ging Mike mit Kat in ein Schnellrestaurant. Sie bestellten sich einen Stapel Käsetoasts mit Pommes und dazu einen Schoko-Shake.
»Magst du denn gar nichts essen?«, fragte sie mit vollem Mund, aber er schüttelte bloß den Kopf.
Während er bezahlte, rannte sie nach draußen. Als er ihr in gelinder Panik nachrannte, fand er sie vor einem Schaufenster. Sie hatte eine Hand auf die Scheibe gelegt und starrte fasziniert auf die Auslage. Ein Kleid in gelbem Vichy-Karo, das an Schnüren vor einem Urlaubsfoto-Hintergrund schwebte – ein Kleid ohne dazugehöriges Mädchen. Mike ging mit Kat hinein und kaufte ihr das Kleid, dazu neue Schuhe und ein paar T-Shirts.
Danach gingen sie ins Kino, und wie immer, begleitete Kat mit rudernden Armbewegungen die hüpfende kleine Lampe aus dem Pixar-Vorspann. Zwei Stunden lang saß Mike zurückgelehnt auf seinem Kinositz und betrachtete statt der Leinwand seine Tochter. Wie sie lächelte, plötzlich loskicherte und zwischendurch Schnorchelatmung durch ihre Erdbeerschnüre praktizierte. Einen Moment kam es ihm vor, als wären sie in die Vergangenheit gereist und alles wäre wieder normal.
Er fand ein kleines, feines Hotel, das auch Bargeld anstelle einer Kreditkarte akzeptierte. Das Country-Dekor war vielleicht ein bisschen zu rüschig, aber es war doch wesentlich hübscher als die Motels, in denen sie in letzter Zeit gewohnt hatten. Er badete Kat und manövrierte sie mit zurückgelehntem Kopf unter den Hahn, um ihr die Haare gründlich auszuspülen. Die Läuse waren natürlich immer noch da, aber er brachte es nicht übers Herz, diesen Abend mit einer chemischen Spülung enden zu lassen.
Als sie gerötet und blitzsauber unter der Decke lag, sagte Kat: »Erzähl mir eine Geschichte.«
Mike merkte, dass er sich seinen geblümten Sessel ans Bett geholt hatte, wie eine Pflegerin am Sterbebett eines Patienten. »Wovon soll sie denn handeln?«
»Von nächstem Monat. Wie wir nach Hause fahren.« Sie blinzelte jetzt immer länger. »Mama hat den ganzen Tag gekocht. Du weißt schon, wie sie sich zu Thanksgiving halt immer reinsteigert. Und dann gibt’s Truthahn. Und Kürbis. Und diese Orangen, in die wir Nelken stecken. Und dann setzen wir uns alles zusammen an den Tisch und …«
Sie schlief.
Mike dachte an den Moment im Krankenhaus zurück, als man sie ihm zum ersten Mal in die Arme gelegt hatte, ein flaumiges Bündel mit rosarotem Gesicht, wie er auf sie heruntergeblickt und gedacht hatte: Alles, was du brauchst, sollst du von mir bekommen, ein Leben lang. Er legte ihr den Kopf auf die Brust, horchte auf das leise Klopfen und atmete im Rhythmus ihrer Atemzüge mit.
Er trat auf den Balkon. Der Smog hatte die Sterne völlig ausgelöscht. Er fragte Annabel, ob ihm jemals verziehen werden konnte, was er jetzt tun würde, aber das Firmament schwieg ihn nur an.
Am Morgen schlang Kat einen Riesenstapel Pfannkuchen herunter und unterbrach ihr Frühstück immer nur kurz, um sich am Kopf zu kratzen. Oben packte Mike ihre paar Habseligkeiten in den Rucksack. Seine Waffe und einen Stapel Bargeld legte er beiseite. Vor dem Badezimmerspiegel bürstete er ihr das Haar langsam und sorgfältig und schaffte es zum ersten Mal, ihr einen perfekten Pferdeschwanz zu binden.
Lächelnd schnipste sie gegen den Zopf. »Gut gemacht, Dad!«
Dann verschwand sie eine geraume Weile im Badezimmer, um schließlich in ihrem neuen gelben Kleid herauszukommen. Mit gespielter Theatralik hob sie den Rock zwischen Daumen und Zeigefinger auf beiden Seiten ein Stückchen hoch. »Na, was sagst du?«
Er schluckte. »Wie für dich gemacht.«
Er fuhr die Strecke, die man ihm am Vortag telefonisch beschrieben hatte. Die Kette der Gesprächspartner, die schließlich zu dieser Adresse geführt hatte, war zu kompliziert, als dass er sich an alle hätte erinnern können – von einer Dame vom Jugendamt über einen Sozialarbeiter bis zu einer persönlichen Empfehlung – aber das war im Grunde ja auch beabsichtigt. Irgendwie hatte er es geschafft – nach langem Schmeicheln und Betteln und nicht zuletzt Verdrehen der Tatsachen –, dass man ihm den Namen einer Person nannte, der er vertrauen zu können glaubte.
Er starrte durch die Windschutzscheibe geradeaus, hielt mechanisch das Lenkrad umklammert und richtete seinen Blick stur auf die Mittellinie, gelbe Streifen auf schwarzem Teer. Ein-, zweimal spürte er, wie Kats Blick zu ihm glitt und auf ihm ruhte, und er merkte, wie seine Entschlossenheit wieder ins Wanken geraten wollte. Doch dann waren sie am Ziel und parkten gegenüber. Sie schaute aus dem Fenster und sah das große einstöckige Haus und den Garten mit den Klettergerüsten, in dem sich mehrere Mädchen tummelten.
Sie schnappte hörbar nach Luft. »Warum sind wir hier.« Das war keine Frage.
Er konnte nicht sprechen. Er konnte ja kaum atmen. Es gibt keine Entschuldigung für Eltern, die einem Kind so was antun.
»Warum sind wir hier«, wiederholte sie.
Er zwang die Worte durch seine zugeschnürte Kehle. »Ich brauche jetzt deine Hilfe, mein Schatz.«
»Dad?«
»Mommy schwebt in Gefahr, und ich muss … ich muss mit Shep zu ihr, um ihr zu helfen.« Er brachte es nicht fertig, sie anzusehen. »Und das kann ich nicht machen, wenn ich gleichzeitig auf dich aufpassen muss.«
»Nein, Dad. Nein, nein, nein. Das kannst du nicht machen.«
»Ich muss zuallererst dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist. Bevor ich überhaupt irgendwas anderes machen kann.«
Sie weinte jetzt wie ein kleines Mädchen. »Was hab ich denn gemacht? Ich kann doch nichts dafür, dass ich Läuse gekriegt hab.«
»Nein, mein Schatz, du bist an überhaupt nichts schuld. Das darfst du niemals vergessen. Überhaupt gar nichts …«
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid, dass ich Läuse gekriegt hab.« Sie presste ihre eine Hand mit der anderen zusammen und drehte und zerrte daran, als wäre sie ein nasser Lappen. »Bitte, Dad. Bitte. Du kannst mir auch den Kopf rasieren, wie Shep gesagt hat. Es ist mir egal.« Sie kniete sich auf den Sitz und flehte mit weit aufgerissenen Augen. »Du kannst mich doch beschützen.«
»Ja, indem ich das hier tue.«
»Aber du beschützt mich doch schon die ganze Zeit. Ich bin doch sicher bei dir. Du kümmerst dich doch um mich.«
Er schlug aufs Lenkrad. »Ich kann es nicht.« Seine Worte echoten durchs Auto. Seine Faust pochte. Würgend versuchte er seine Panik wieder herunterzuschlucken, während er nach den richtigen Worten suchte, um es ihr sanft beizubringen. Oh, Gott, wie konnte er das so formulieren, dass sie es verstand? »Auf diese Art … auf diese Art kannst du Mommy im Moment am allerbesten helfen.«
Kat sank in sich zusammen. »Wie lange?«
Er nahm die Hände vom Lenkrad, spreizte die Finger und ließ sie wieder sinken. »Egal was passiert, für dich wird am Ende alles gut werden. Vielleicht wird es dir manchmal nicht so vorkommen. Aber am Ende wird für dich alles gut werden.«
»Was meinst du mit ›egal was passiert‹? Was soll das heißen? Wenn Mom … wenn Mom stirbt und sie dich auch noch kriegen, muss ich … muss ich dann …?« Sie atmete einmal zitternd durch, dann saß sie einen Moment völlig reglos neben ihm und hielt den Bauch mit beiden Armen umschlungen. »Ich bin acht«, sagte sie. »Ich bin doch erst acht.«
Er bemühte sich verzweifelt, einen Ton hervorzubringen, ohne aufzuschluchzen. Sein Mund blieb geschlossen, er spürte, wie die Muskeln an seinem Kiefergelenk pulsierten. Aber ansehen konnte er Kat immer noch nicht. Das Schweigen dauerte zehn Sekunden. Oder zehn Minuten.
»Wenn das passiert …« Seine Finger, die das Lenkrad umklammerten, waren inzwischen ganz weiß. »… dann wirst du dir eines Tages denken, dass ich nie erfahren habe, was für eine tolle Frau aus dir geworden ist und was für eine wundervolle Familie du gegründet hat. Aber ich weiß es trotzdem. Ich weiß es nämlich jetzt schon.«
»Nein. Nein nein nein nein nein.«
Aber er musste es jetzt alles aussprechen, bevor ihn der Wille wieder verließ. »Egal, wie lang du hier bist, Kat – verrate niemals einer Menschenseele deinen Nachnamen.« Ein Echo aus seiner Kindheit bohrte sich in ihn. »Du bist Katherine Smith. Hör mir zu, Kat. Du bist jetzt Katherine Smith, verstehst du? Sag ihnen nicht, wie ich heiße. Sag ihnen auch nicht, wie Mom heißt. Sag ihnen nicht, woher du kommst. Du musst dir was ausdenken und es auswendig lernen und darfst es nie vergessen.«
Jedes seiner Worte zerschnitt ihm die Kehle, während er es aussprach.
Sie hatte ihr Gesicht jetzt in seinen Armen vergraben und schüttelte vehement den Kopf.
Ich bin ein Scheusal, dachte er. Für diese Worte gehe ich geradewegs in die Hölle. Das Herz wird mir aus dem Brustkorb fallen und sich in eine kleine Aschewolke auflösen.
»Du musst jetzt ganz stark sein. Dein Leben steht auf dem Spiel. Niemand darf irgendetwas über dich erfahren.«
Lauter Dinge, die er ihr niemals hatte beibringen wollen. Die Karikatur sämtlicher Schlechte-Eltern-Spiele. Aber er straffte den Rücken und hielt geradewegs darauf zu. »Schwör mir das, Kat.«
»Nein.«
»Du musst. Sonst finden sie dich.«
»Ich geh da nicht rein.«
»Kat, wir haben keine andere Wahl.«
Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesicht. Durch ihre Schluchzer hörte er die verzerrten Worte: »Dann musst du mir auch was schwören. Wenn ich hier bleibe und kein Wort darüber sage, wer ich bin, dann musst du überleben und zu mir zurückkommen. Das musst du. Versprich es mir. Sonst geh ich nicht. Sonst geh ich einfach nicht da rein.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Abgemacht?«
Er starrte auf ihre zitternden Finger. Das Blut rauschte ihm so schnell und heftig durch die Adern, dass sein ganzes Blickfeld zu vibrieren schien.
War das ein Versprechen, das er ihr geben konnte? Hatte er eine andere Wahl?
Sie hielt ihm immer noch die Hand hin, während ihr verletzter Blick an seinem Gesicht hing.
Er atmete tief aus, kniff die Augen zu, dann gab er ihr auch die Hand. »Abgemacht.«
Ihre Hand war warm, und sie zitterte.
»Du kommst zurück und holst mich.«
»Ich komm zurück und hol dich.«
»Jetzt hast du’s mir geschworen«, sagte sie. »Du hast es geschworen.«
Er nahm den Rucksack vom Rücksitz, und sie gingen gemeinsam auf das Haus zu.
Eine dickliche Frau machte die Tür auf und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. Hinter ihr klebten vier Mädchen, die alle älter als Kat waren, vor dem Fernseher und schauten einen Zeichentrickfilm, während ein kleines Kind mit einer einbeinigen Barbie spielte. Die Geräusche der spielenden Kinder im Garten kamen durch ein offenes Fenster herein – Gelächter und ein Rums, und dann weinte jemand. Sein Innerstes geriet in Aufruhr, es war wie ein Reflex. Rasch sah er sich um, um die Umgebung in sich aufzunehmen, aber Vergangenheit und Gegenwart schienen ineinanderzufließen. Da saß die Couch-Mutter auf ihrem Sofa und fächelte sich mit der Fernsehzeitung das Gesicht. Da war das gelbe Kissen, das so nach Katzenpisse roch. Klar, du kleiner Scheißer. Meine Mom auch. Unsere Eltern kommen alle zurück.
Mike fühlte das Stechen in seinen Augen, und er blinzelte sich in die Gegenwart zurück. Hier war keine Couch-Mutter und auch kein Geruch nach Katzenpisse, aber es gab ein Erkerfenster, das geradezu dafür gemacht schien, die Kinder zum Hinausschauen und Warten zu verleiten. Die Armlehnen am Sofa waren durchgewetzt, die Wände abgestoßen und zerkratzt, aber die Pflegekinder sahen gesund aus, und der leckere Geruch von Tomatensuppe zog durchs ganze Haus.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er schon so vor ihr stand. »Sind Sie Jocelyn Wilder?«
Die Frau drehte ihr graues Haar zu einem Dutt zusammen. »Ja?«
»Könnte ich einen Moment unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«
Kat wischte sich die Nase mit einem Ärmel ab. Sie starrte auf ihre Schuhe. Jocelyns Blick wanderte kurz zu Kat, dann zurück zu Mike. »Möchtest du vielleicht draußen spielen gehen, mein Herz?«
Mit gesenktem Kopf ging Kat durch die Hintertür nach draußen und setzte sich auf eine Bank. Mit einer müden Geste deutete Jocelyn zur Küche, und er folgte ihr durch eine Schwingtür. Sie standen sich auf dem gelben, ausgetretenen Linoleumboden gegenüber und musterten einander. Ihrem hübschen Gesicht war anzusehen, dass sie eine Szene wie diese schon ein- oder zweimal erlebt hatte.
»Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte er. »Ich muss mich um gewisse Dinge kümmern.«
»Sir, ich betreibe hier kein …«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß. Aber wenn sie an offizieller Stelle geführt wird, ist sie in akuter Gefahr.«
»Viele Kinder sind in akuter Gefahr.«
»Nicht so wie in diesem Fall.«
Sie blinzelte. »Was soll das heißen? Dass sie umgebracht wird oder so was?« Obwohl sie das Wort selbst ausgesprochen hatte, machte es gewaltigen Eindruck auf sie. »Warum sollte sie jemand umbringen wollen? Sie ist doch noch ein kleines Mädchen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mike. »Das muss ich eben herausfinden. Ich muss weg. Ich muss unbedingt weg. Mein Auto darf nicht noch länger draußen stehen bleiben. Wenn sie das Auto sehen, werden sie auch wissen, dass sie hier ist.«
Jocelyn beäugte ihn skeptisch, aber er sah, wie sich unter der Oberfläche echte Besorgnis abzeichnete.
»Es tut mir so leid, Ihnen so etwas auf die Schultern zu legen«, sagte er.
Sie machte ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Lachen angesiedelt war. »Sie werden mir überhaupt nichts auf die Schultern legen, Mr. …?«
Sie verschränkte ihre beträchtlichen Arme und stemmte die Beine fest in den Boden. Eine unüberwindliche Macht. Das war die Art von Pflegemutter, die einen am Ohr packte und zum Spirituosengeschäft schleifte, damit man den Diebstahl von Jack-Daniel’s-Fläschchen gestand. Mike kannte sie, wie er die Couch-Mutter gekannt hatte, und das bedeutete auch, dass er in ihrem Gesicht lesen konnte. Die wässrig blauen Augen. Die feinen Runzeln an ihren Schläfen. Die Freundlichkeit, die in jede Falte ihres ehrwürdigen Gesichts eingeschrieben war.
Er hob eine Hand, die Handfläche nach unten gedreht – er hätte selbst nicht sagen können, ob er sie beschwichtigen oder einfach nur das Gleichgewicht halten wollte. »Glauben Sie nichts, was Sie in den Nachrichten hören. Glauben Sie niemandem. Niemandem, egal, für wen er sich ausgibt. Wenn Sie das Mädchen abgeben, wenn Sie die Polizei oder das Jugendamt anrufen, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie sie finden.«
»Na, das ist ja ein ganz schön dickes Ding, was?« Sie schluckte ärgerlich und schaute weg.
»Sie kennen sich aus mit Kindern. Sprechen Sie mit meiner Tochter und Sie werden merken, dass ich Ihnen die Wahrheit sage.«
»Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«
Schwungvoll nahm er den Rucksack von der Schulter und ließ ihn mit einem dumpfen Geräusch auf den Küchenboden fallen. »Hier drin sind zweihunderttausend Dollar in bar. An diesem Geld klebt kein Blut. Das sind unsere gesamten Ersparnisse aus der Zeit, bevor das alles passierte. Sie können es als anonyme Spende deklarieren, Steuern davon zahlen, egal. Ich möchte, dass Sie es behalten. Geben Sie es auch für die anderen Kinder aus, damit sie nicht eifersüchtig werden.«
»So funktioniert das nicht mit Spenden. Ich will ihr Geld sowieso nicht.«
»Behalten Sie es für den Fall, dass Sie es doch brauchen.«
»Sie haben mir nicht zugehört.«
»Würden Sie es dann bitte einfach für mich aufbewahren?«
»Wie – als Pfand?« Sie spuckte die Worte geradezu aus.
»Ich werde zurückkommen.«
»Wann?«
»Bald.«
»Ich mach das nicht«, erklärte sie in todernstem, endgültigem Ton.
»Das werden Sie schon«, sagte er sanft. »Ich weiß, dass Sie es machen werden.«
»Zweihunderttausend.« Sie stützte die Hände in die Hüften und das Fleisch an ihren Armen wabbelte leicht. »Warum so viel Geld, wenn Sie doch zurückkommen?«
Es kam ihm vor, als gehörte sein Gesicht nicht ihm, als wäre es eine abgetrennte Einheit, eine Steinmaske. Wenn sie zerbrach, würde sie zerkrümeln und spurlos verschwinden. Er hörte, wie seiner Kehle ein Geräusch entwich.
Jocelyns Haltung wurde weicher, sie ließ die Hände herabsinken. Offenbar hatte sie Mitleid mit ihm, wie er hier stand und um Fassung rang.
»Damit sie alles hat, was sie bis dahin braucht.« Er deutete auf den Rucksack. »Da sind auch ihre Sachen drin. Das sind ihre Sachen. Wenn sie für die anderen was brauchen, kaufen Sie ihnen bitte …«
»Meine Mädchen haben alle ihre eigenen Sachen«, unterbrach sie beleidigt.
»Außerdem«, fügte er leise hinzu, »hat sie Kopfläuse.«
»Na toll.«
»Ich hab’s schon mit Mayonnaise probiert …«
»Das funktioniert nicht. Da hilft nur das harte Zeug.«
Er bohrte seine Schuhspitze ins Linoleum. Er hatte kein Recht mehr, Einwände zu erheben. »Okay.«
»Sonst noch irgendwelche Probleme? Resistente Tuberkulose vielleicht?«
»Nein.«
»Ich kann das … ich werde das nicht lange machen«, sagte sie. »Es ist illegal, und damit gefährde ich die ganze Familie. Ich hab nicht mal eine Geburtsurkunde von ihr. Was soll ich tun, wenn …«
»Sie haben nicht siebzehn Jahre lang ein Heim für misshandelte Frauen und Kinder geführt, ohne irgendwann rauszukriegen, wie man jemand eine neue Identität verschafft.«
Ein langer Blick. »Anscheinend haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht.« Sie atmete tief durch. »Das ist alles schon sehr lange her.«
»Nicht so lang, dass sie nicht die richtigen Leute in den richtigen Büros anrufen könnten. Wenn es so weit kommen sollte.«
»Wenn es so weit kommen sollte«, wiederholte sie in scharfem Ton.
Sie gab ein verärgertes Lachen von sich, und da sah er wieder den Stahl in ihrem Blick, der ihm verriet, dass sie zu der Sorte Frauen gehörte, die so ziemlich alles bewerkstelligen konnte, wenn sie beschlossen hatte, dass es nötig war.
»Und warum sollte ich Ihnen glauben, dass Sie zurückkommen?«, fragte sie.
»Weil ich es ihr versprochen habe.«
»Dann wäre es wohl das Beste, wenn Sie wirklich zurückkommen, hm?«
»Ja, Ma’am.«
Sie drehte sich zum Herd und entließ ihn mit einem Wink.
Er ging durch die Schwingtür auf den Flur. Sie saßen immer noch alle so da wie vorher – die Mädchen klebten vorm Fernseher, das Kleinkind drehte der einbeinigen Barbie die verbliebenen Gliedmaßen in alle möglichen und unmöglichen Richtungen, und sein Tochter saß auf der Bank direkt neben der offenen Hintertür. Ihre offenen Schnürsenkel hingen auf den Zementboden. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und fummelte mit autistischer Konzentration an ihren Fingern herum. Ihre Lippen hatte sie vorgeschoben, um ja nicht in Tränen auszubrechen. Er stand in der Tür. Er wollte nicht blinzeln – er hatte nur diesen einen Moment, um sie zu sehen, um ihr Bild in sich aufzunehmen, dann war er vorbei. Einen Augenblick lang dachte er, es müsste ihn an Ort und Stelle zerreißen wie in einem billigen Horrorfilmeffekt.
Schließlich blickte Kat auf und fixierte ihn mit ihren zweifarbigen Augen. »Bitte, Daddy.«
Er riss den Blick von ihr los und wandte sich um.
Wie betäubt stolperte er durch die Haustür und zu seinem gestohlenen Camry. Snowball II stand immer noch auf dem Armaturenbrett, wo Kat ihn zurückgelassen hatte. Er hielt das winzige Stofftier in der Hand und sah zum Haus hinüber, aber er brachte es nicht mehr über sich, zurückzugehen und es ihr zu geben. Er stellte es auf den Beifahrersitz und fuhr los. Nach ein paar Kilometern fiel ihm das Babyphone ins Auge, das er nach der Verfolgungsjagd in den Fußraum geworfen hatte.
Er warf es aus dem Fenster.