42

Blinzelnd kam Mike in einem Motelzimmer zu sich. Er hatte noch eine vage Erinnerung daran, wie er stundenlang gefahren war, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Jocelyn Wilders Pflegeheim zu legen. Der räumliche Abstand würde auch die Versuchung verringern, hoffte er. Er zerquetschte Snowball II in der Faust, und zwischen seinen Beinen steckte eine Flasche Jack Daniel’s in der obligatorischen braunen Papiertüte, obwohl er sich gar nicht entsinnen konnte, dass er vorgehabt hatte, sich zu betrinken. Er saß vor dem Fernseher, der sein flackerndes Licht auf sein Gesicht warf, nahm einen Schluck aus der Flasche und sehnte sich nach Betäubung. Doch er hatte noch keine zwei Schlucke genommen, als er sich auch schon übergeben musste. Er konnte sich geradezu von außen sehen: ein Schuh abgestreift, der Gürtel geöffnet, er selbst auf dem Boden zusammengerollt. Und dann erschien Annabel, kniete neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Schon gut, ich bin hier. Wir stehen das zusammen durch. Aber als er sich umdrehte, zerfloss sie in einem überraschend grellen Lichtball aus dem weit oben eingelassenen Fenster.

Er fror bis ins Mark, wohin kein Sonnenstrahl vordringen konnte. Als er daran dachte, dass er duschen sollte, merkte er, dass er bereits unter der Dusche stand. Das brühheiße Wasser floss ihm über Brust und Arme und rötete seine Haut, aber das Zittern wollte und wollte nicht aufhören. Er schloss die Augen und flüchtete sich in die ausgeblichenen Erinnerungen an seine Mutter. Die Küche mit den gelben Fliesen. Wie er zu ihr aufblickte, als sie ihn badete, ihr schwarzbraunes Haar, das auf einem ihrer gebräunten Arme lag. Patschuli und Salbei, der hautwarme Geruch von Zimt. Dieser Blutfleck – ihr Blut? – auf dem Hemd seines Vaters.

Eine tote Zeitspanne.

Und dann wurde das Zimmer dunkel, und er zitterte unter einem eisigen Strahl, weil das heiße Wasser längst aufgebraucht war.

Im nächsten Moment lag er in ein Laken gewickelt auf dem Boden und umklammerte die Einkaufstasche mit der Waffe und dem verbliebenen Bargeld. Das Zimmer war ein einziges Chaos – ein Kotzfleck, ein umgestürzter Stuhl, das auf den Boden gezerrte Bettzeug, in dem er sich schlafen gelegt hatte.

Die Tür ging auf, ein Lichtspalt fiel vom Korridor herein und landete auf seinem Gesicht, so dass er nur noch hilflos blinzeln konnte. Dann ging die Tür wieder zu, schwere Schritte näherten sich und der Schatten eines Mannes verdunkelte ihm die Sicht.

Jetzt waren sie also endlich hier. Um ihn zu töten.

»Steh auf«, sagte Shep.

Eine Hand senkte sich in Mikes ausgefranstes Blickfeld. Mike überlegte angestrengt, aber seine Verständnislosigkeit siegte.

Seine Stimme hatte er so lange nicht benutzt, dass sie im ersten Moment ganz heiser klang: »Wie hast du mich gefunden?«

»Du hast mich angerufen. Und hast mir erzählt, was du tun musstest. Jetzt steh auf.«

Mike ergriff seine Hand, und Shep zog ihn auf die Füße.

Shep durchquerte das Zimmer und stellte eine abgegriffene braune Papiertüte auf die schäbige Küchenarbeitsplatte. Er zog ein flaches schwarzes Handy hervor, das nächste Batphone, und warf es Mike zu. Es folgte ein 45er Colt und ein Polizeifunkgerät, das Shep in die Steckdose neben der Mikrowelle einsteckte. »… 1080, können Sie uns Ihren Standort durchgeben? Ja, ich bin jetzt vor Ort, in Elwood 1601, das Fenster auf der Rückseite scheint zerbrochen zu sein. Wie viele Einheiten haben wir in der Gegend?« Er drehte die Lautstärke herunter, so dass man das Geschehen noch mit einem Ohr verfolgen konnte, dann packte er eine Dose Ravioli nach der anderen aus und reihte sie neben der Spüle auf.

»Was … was für ein Tag ist heute?«

»Montag. Acht Uhr siebzehn, abends. Du bist wieder in Kalifornien – Redlands.«

Hatte er Kat tatsächlich erst gestern zurückgelassen?

»Ihre Brille«, murmelte Mike. Er schlug sich mit der Faust auf die Stirn und wiegte sich vor und zurück. »Ich hab vergessen, dass sie eine neue Lesebrille braucht …«

Mit einem Taschenmesser machte Shep eine Dose Ravioli auf, steckte eine Plastikgabel hinein und reichte sie Mike. »Iss. Morgen früh haben wir Programm, ich hab keine Lust, dass du mir dann blass und zittrig durch die Gegend läufst.«

»Annabel könnte jetzt schon tot sein«, sagte Mike.

»Iss.«

»Sag mir, in welchem Krankenhaus sie liegt. Ich muss anrufen und …«

»Du kannst nicht …«

»… nur damit ich Bescheid weiß.«

»Das heißt, dass du bereit bist, sie zu töten. Und uns. Und Kat.« Shep schnappte sich das Telefon vom Nachttisch, zog die Schnur, so weit es ging, und hielt es Mike hin. Eine Herausforderung.

Mike starrte den Apparat hasserfüllt an. Aber er griff nicht danach.

Shep stellte das Telefon wieder zurück und reichte ihm stattdessen wieder die Konservendose.

Mike nahm sie und tat sein Bestes. Kauen. Schlucken. Von vorne.

Unterdessen blickte er sich im Zimmer um und betrachtete das Chaos mit Sheps Augen. Der ganze Raum war mit Trübheit durchtränkt, als hätte man ihn in Grau getaucht. Die Ravioli hatten sich in seinem Mund in sauren Brei verwandelt. Er würgte sie herunter und wischte sich wütend den Mund ab. »Warum bist du hier?«

»Was?«, fragte Shep.

»So, wie wir beim letzten Mal auseinandergegangen sind, hättest du mir eine Absage hinknallen können, gleich bei meinem allerersten Anruf. Aber irgendwie wusste ich, dass du mich nicht sitzenlassen würdest. Ich wusste, dass du sofort da sein würdest, wenn ich dich brauche.« Das Gefühl brach sich jetzt Bahn, wenn auch absurderweise in Form von Ärger, einer verhalten köchelnden Feindseligkeit. Mike hatte gar nicht gewusst, dass so etwas in ihm geschlummert hatte. »Vielleicht willst du ja, dass ich wieder ein Krimineller werde. Vielleicht warst du einsam.«

Shep kaute seine Nudeln. Schaufelte sich die nächste Fuhre aus der Dose in den Mund. Wartete. »Vielleicht«, sagte er.

»Du bist mir nichts schuldig«, fuhr Mike fort. »Nicht für eine dreimonatige Gefängnisstrafe, die ich für dich abgesessen habe.«

»Glaubst du, deswegen mach ich das alles hier?« Shep war extrem, geradezu aufreizend ruhig, er klang fast ein wenig nachdenklich. »Weil ich dir was schuldig wäre?«

»Warum sonst?« Mike knallte seine Ravioli auf den Fernseher, so dass ein blutiger Sprühregen aus der Dose schoss und seinen Arm mit kleinen Pünktchen überzog. Es verschaffte ihm eine gewisse Erleichterung, seiner Wut freien Lauf zu lassen, seine alten Muskeln auf die alte Art einzusetzen. Er musste irgendetwas angreifen und verletzen und anknurren. »Warum sonst

Shep nahm noch eine große Gabelvoll. Sorgfältig kratzte er die Reste vom Dosenboden. »Hab ich nie groß drüber nachgedacht«, meinte er dann mit vollem Mund.

»Natürlich nicht.« Mike spürte, wie sich seine Oberlippe verzog. »Das wäre ja unter deiner Würde. Denn du wirst ja von deinem unfehlbaren Instinkt geleitet …«

»Ist das wieder eins von deinen auswendig gelernten Fremdwörtern?«

»Du bist zu rein, um zu denken. Du hast immer gewusst, wer du bist. Im Gegensatz zu mir.«

»Keine Vergangenheit«, erwiderte Shep.

»Aber ich habe eine Vergangenheit. Ich hab sie nie hinter mir gelassen. Die Zukunft, in die ich aufbrechen wollte, war eine Lüge. Diese falschen Rohre, die ich da vertuscht hab, diese Drecksauszeichnung, die sie mir verliehen haben – ich wusste, dass das falsch war. Aber ich hab mitgespielt. Und jetzt.« Mike stöhnte zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Scheiße, ich weiß nicht, wie du es ertragen kannst, mir überhaupt noch ins Gesicht zu sehen.«

»Du hast es eben nie gelernt«, stellte Shep fest.

»Was?«

»Die Dinge zu akzeptieren.« Shep zuckte mit den Schultern. »Es ist, wie es ist.«

»Was ist, wie es ist?«

»Alles.«

»Was zum Teufel soll das denn jetzt heißen?«

»Nehmen wir doch mal deinen Vater. Wie viele Jahre bist du dem jetzt schon böse? Du lebst in deiner Schwarz-Weiß-Welt, und er hat eine schwarze Rolle. Was bleibt da für dich?« Shep kurbelte die nächste Dose auf und hieb mit der Gabel in die Nudeln. Sein Appetit schien nicht im Geringsten gelitten zu haben. »Der Verrat deines Vaters – das war dein Polarstern. Und jetzt? Wo du selbst dein Kind verlassen hast?« Er hob die Hände, eine ebenso seltene wie überflüssige Geste. Seine Gabel ragte aus der Konservendose wie eine kleine weiße Fahne. »Heute ist Schwarz nicht Schwarz. Weiß ist nicht Weiß. Vielleicht war es das nie. Vielleicht ist das ganze Leben nur ein einziges Scheißchaos, und wir schlagen uns, so gut es geht.«

»So nennst du das, was du getan hast? Du hast dich geschlagen, so gut es ging?«

»Es gab mal ’ne Zeit, da war das nicht so. Da lag ich am Boden und kam nicht mehr hoch. Aber du hast dafür gesorgt, dass ich wieder hochkam. Und in dem Moment hab ich mir geschworen, Ich werde nie wieder am Boden liegen bleiben.« Shep wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und starrte Mike an, als wäre ihm nicht klar, dass er ihn herausgefordert hatte.

Aber in diesem Augenblick verschwand die ganze hitzige Wut aus Mike. Er machte einen wackligen Schritt nach hinten und ließ sich aufs Bett sinken. Dann legte er die Wangen auf seine Hände und füllte die Handflächen mit seinem Gesicht. »Ich weiß noch, wie wir mal nach Ventura Harbor gegangen sind, zum Karussellfahren«, sagte Mike. »Kat war drei und wollte auf dem Hühnchen reiten. Aber das haben sich die ganze Zeit die anderen Kinder geschnappt. Um Gedeih und Verderb musste es dieses Hühnchen sein, von den anderen Tieren wollte sie nichts wissen. Was ist das überhaupt für ein Blödsinn, ein Hühnchen auf einem Karussell? Na ja, wir haben jedenfalls gewartet und gewartet, aber ich hab’ s einfach nicht geschafft, dieses Hühnchen für sie zu ergattern.«

»Was willst du mir eigentlich sagen?«, fragte Shep.

»Ich stell sie mir in diesem Pflegeheim vor, und was mit ihr passieren wird, wenn ich versage«, sagte Mike. »Und allein der Gedanke bringt mich um.«

Er konnte nicht aufblicken, aber er hörte, wie Shep die Dose abstellte und sich einen Stuhl heranzog. Er atmete hörbar aus, als er sich setzte.

»Ich war mein ganzes Leben lang noch nie für jemand verantwortlich«, sagte Shep. »So eine Verantwortung zu übernehmen, ist wahnsinnig mutig. Aber in diesem Moment geht das eben nicht. Nicht bei dem, was uns jetzt bevorsteht.«

Er beugte sich vor, so dass sein Kopf gegen den von Mike stieß.

In derselben Stellung und derselben Haltung saßen die beiden da und starrten auf den fadenscheinigen Teppich.

»Du willst sie zurückhaben«, sagte er.

»Ja«, erwiderte Mike.

»Unverletzt.«

»Ja.«

»Dann darfst du jetzt nichts sein. Nichts wollen. Du kannst dir Kat und Annabel nicht zurückholen, solange du dich nach ihnen sehnst und sie brauchst. Du bist kein Ehemann. Du bist kein Vater. Du bist nur noch ein Mann mit einer Aufgabe. Verstanden?«

»Ja.«

»Jetzt sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf kriegst. Wir müssen morgen früh raus.«

Mike räumte das Zimmer ein wenig auf und legte sich dann ins Bett. Neben ihm lag Shep mit geschlossenen Augen und atmete gleichmäßig, aber Mike hätte nicht sagen können, ob er schlief oder nicht.

Die Risse in der Decke bildeten ein endloses Muster, wie ein Gewirr aus Baumwurzeln.

»Ich werd mich nie wieder von dir abwenden«, sagte er.

Stille. Mike nahm an, dass Shep tatsächlich schon schlief, aber dann antwortete Shep: »Bist du jetzt immer noch nicht fertig mit deinem Gewissen? Wo wir hingehen, wird dir das nämlich bloß im Weg sein.«

Sie lagen nebeneinander in der Dunkelheit. Mike war nicht sicher, wann er in Schlaf sank, aber als er vom Geräusch der Dusche geweckt wurde, war es 4.14 Uhr. Wenige Minuten später kam Shep aus der Dusche. Er hatte sich ein Handtuch umgebunden und das Wasser laufen lassen, wie damals, als sie jeden Morgen sechs, sieben Körper durch die Dusche jagen mussten, bevor das heiße Wasser ausging.

»Ich schätze, ich sollte das gestohlene Auto loswerden«, meinte Mike.

Shep warf ihm die Schlüssel zu, dann ging er durchs Zimmer und machte die Gardinen auf. Auf dem Parkplatz direkt vor dem Zimmer glänzte ein waldgrüner Saab.

Widerwillig musste auch Mike grinsen. Er suchte kurz, dann wischte er den beschlagenen Spiegel ab. Aus Sheps Kulturbeutel, der auf der schmalen Metallablage stand, ragte der Elektrorasierer heraus. Mike nahm ihn, drehte und wendete ihn, als würde er ein altes Foto betrachten. Die Plastikklingen lagen lose in Sheps Kulturtasche. Mike suchte nach dem richtigen Aufsatz und ließ ihn einrasten.

»Bist du fertig?«, rief Shep durch die Tür.

Der Rasierer lag schwer in Mikes Hand, wie eine Waffe. Der Spiegel war schon wieder beschlagen, also wischte er ihn mit einem Waschlappen noch einmal ab und musterte sein Spiegelbild.

Dann schaltete er den Scherapparat ein und rasierte sich die Haare auf Pflegeheimlänge. Die verbliebenen Stoppeln rubbelte er kurz mit dem Handtuch trocken und kam zurück ins Zimmer.

»Fertig«, sagte er.

Schulter an Schulter traten sie auf den Parkplatz hinaus.