44

Wo sind wir?«

Die Stimme des Bosses kam so klar durchs Telefon, als würde er neben William auf der Veranda des mit Holzschindeln verkleideten Häuschens sitzen. Der Geruch von heißem Öl zog vom Schrottplatz herüber. Als der Großvater von William und Hanley sein Haus baute, hatte er die vorherrschende Windrichtung nicht mit einkalkuliert. Daher schienen an manchen Tagen die Wände mit dem Gestank von verbrannten Reifen und Batteriesäure durchtränkt zu sein. Der höllisch klare Nachmittag gewährte einen Blick bis zum Mount Shasta, der mit den Spuren der ersten frühen Schneefälle in der Ferne aufragte.

»Wingate selbst wird von der Polizei gesucht«, sagte William. »Sämtliche Behörden haben ihn im Visier. Egal, wo er auftaucht, die schnappen ihn und liefern ihn ohne Umschweife an Graham aus.«

Hinter ihm knallte die wackelige Fliegengittertür zu und die Bodendielen knarzten unter schweren Schritten. Dodge brachte den Moschusgeruch aus dem Keller mit. Seine massigen Schultern spannten sich zu einem breiten Bogen. Er ging die Stufen herunter und legte irgendetwas auf das knochentrockene Gras des Vorgartens. Dann schlurfte er neben das Haus, so dass William die aufgereihten Werkzeuge betrachten konnte. Schlosserhammer. Spitzzange. Metallene Fußfesseln.

»Ganz egal, wie hoch seine Position ist, zaubern kann Graham auch nicht«, bemerkte der Boss. »Je auffälliger die ganze Geschichte wird, umso mehr hat er zu vertuschen. Und umso mehr kostet es ihn.«

»Tja, dafür hat Graham ja Dodge und mich, oder? Sobald er Wingate und das Mädchen in seinem Fadenkreuz hat, werden wir dafür sorgen, dass sie gründlich vom Erdboden verschwinden.«

Dodge kam zurück und zog einen schwarzen Gartenschlauch hinter sich her. Dann ging er zum Hahn, um das Wasser aufzudrehen.

»Ihr habt euren demolierten Van am Unfallort zurückgelassen«, sagte der Boss. »Kann der zu euch zurückverfolgt werden?«

»Nee«, sagte William. »Alte Nummernschilder, nicht gemeldet, außerdem hatten wir den Aufkleber mit der Fahrzeugidentifikationsnummer vom Armaturenbrett abgezogen. Wenn wir eines können, dann das – ein Auto völlig unidentifizierbar machen.«

»Aber das ist nicht der Grund, weswegen ich euch angeheuert habe.«

Dodge legte den Daumen auf die Mündung des Schlauches, um den Wasserstrahl feiner zu verteilen, und begann seine Werkzeuge abzuspritzen.

»Nein, Sir.« William befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze. »Wingate wird bald auftauchen. Mit einem Kind kann man sich nicht verstecken. Er hat schon versucht, sie in einen Flieger zu ihren …«

»Ihr hättet sie töten sollen, als ihr sie in der Hand hattet«, kam es vom Boss.

»Wir wollten sie erst als Köder benutzen.«

»Dein Onkel hätte sich sofort um sie gekümmert«, unterbrach ihn der Boss.

William biss sich auf die Lippe. Seine überlangen Bartstoppeln standen in alle Richtungen ab. Am Hals spürte er seinen Pulsschlag, der die fahle Haut neben seinem Kehlkopf flattern ließ. Sein rechter Arm zuckte ein wenig. »Wenn sein Vater ein etwas geschickterer Stratege gewesen wäre, könnte er heute vielleicht in Palm Springs Golf spielen, statt langsam in der Hölle zu schmoren.«

Doch der Boss interessierte sich nicht für die Wingate’sche Familiengeschichte. »Was ist mit der Frau?«, wollte er wissen. »Sie ist unser bester Weg, zu ihm und dem Mädchen.«

»Die wurde verlegt.«

Eine verstimmte Pause. »Wohin?«

»Wir haben überall gesucht. Nichts. Graham hat eine Computersuche gestartet, angefangen in Los Angeles und dann in konzentrischen Kreisen nach außen, er hat jedes Krankenhaus …«

»Sie befand sich in einem kritischen Zustand. Man kann sie nicht weit weggebracht haben. Nehmt euch jedes Krankenhaus in der Nähe vor, das sich in halbwegs akzeptabler Zeit mit dem Auto erreichen lässt. Jedes. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

Dodge war offensichtlich zufrieden mit seinem Werk, denn gerade rollte er den Gartenschlauch wieder an der Hauswand zusammen. Er ließ sein Werkzeug zum Trocknen auf dem Rasen liegen, setzte sich neben William auf die Verandastufen und las weiter in dem Comicheft, das er zuvor umgedreht und aufgeschlagen hier hatte liegen lassen. Der birnenförmige Bluterguss seitlich an seinem Hals verfärbte sich von blau zu violett.

»Wo seid ihr?«, fragte der Boss.

»Wir sind zurück zu unserer Basis, um ein paar Dinge vorzubereiten, aber wir sind einsatzbereit, sobald der große Gong ertönt.«

»Ich würde sagen, ihr lasst euch was einfallen, damit ihr den großen Gong selber schlagen könnt.«

Freizeichen.

William legte das Telefon aus der Hand und ließ einen Regen aus Sonnenblumenkernen über die Verandastufen niedergehen. Der Wind frischte auf und blies raschelnd ein paar verwelkte Blätter über die unebenen Holzbohlen. Abgesehen davon war es völlig still. Ohne Hanley war dieses Haus nicht mehr, was es einmal gewesen war.

Dodge, der immer noch völlig in seinen Comic vertieft war, blätterte um. Ein seltenes Lächeln kräuselte seine Lippen. William warf einen Blick auf das Titelbild, auf dem ein dünner Mann im Feinrippunterhemd zu sehen war, der mit leer blickenden Augen ausruft: »Das Messer ins Auge!«

William dachte daran, was er gerade zum Boss gesagt hatte:

Mit einem Kind kann man sich nicht verstecken. Er fasste nach dem Geländer und hievte sich mühsam auf die Füße. »Wingate hat die Akte, der weiß, dass wir jeden überwachen, der auch nur im Entferntesten mal was mit ihm zu tun hatte. Ich tippe ja, dass er das Mädchen irgendwo hingebracht hat, wo es erst mal sicher ist. Lass uns doch mal beim Jugendamt nachgucken.«

Dodge blinzelte zweimal und steckte seine Nase wieder in sein Heft.

»Nein, Moment«, sagte William. »Das wäre zu offensichtlich. Und er will ja, dass sie nicht auf dem Radar auftaucht.« Hinter ihnen raschelten die Blätter auf den Holzbrettern.

Dodge legte den Comic beiseite, polterte die Stufen hinunter und begann sein Werkzeug mit dem riesigen Taschentuch abzutrocknen, das er immer in der Tasche hatte. Er arbeitete mit liebevoller, absoluter Aufmerksamkeit.

Inzwischen hatten sich dünne Wolkenfetzen aus dem Nichts materialisiert und bildeten jetzt einen Heiligenschein um den prächtigen Gipfel von Mount Shasta. »Er war selbst ein Pflegekind«, sinnierte William. »Er wird zu seinen eigenen Wurzeln zurückkehren.« Er spuckte auf den Rasen und wandte sich zur Tür. »Komm, wir fangen mit den Pflegeheimen an.«