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Mikes Beine fühlten sich an wie Stelzen, als er aus der Indianerausstellung wieder auf den Treppenabsatz hinaustrat, wo die frische Luft der Klimaanlage wohltuend auf sein heißes Gesicht traf. Als er sich die Stirn abwischte, war sein Ärmel ganz feucht.
Seine Gedanken kreisten immer noch um das Foto der Sue Windbird. Auf einem Messingschild unter ihrem Porträt war ihr Namen angegeben, als Geburtsdatum ein Fragezeichen und als Todesdatum der 10. August 1982.
Doch Sue Windbird war offensichtlich doch nicht die Letzte ihres Stammes gewesen.
Obwohl sie schon seit Jahrzehnten tot war, waren ihre verschiedenfarbigen Augen wie ein Pfeil, der von ihr über ihn auf Kat verwies. Wie hatte William sie genannt? Katzenaugen.
Mike konnte sich nicht erinnern, ob seine Mutter dieselbe Iris-Heterochromie gehabt hatte, aber er hatte noch ein sehr genaues Bild von ihr, wie sie aussah, wenn er von ihr gebadet wurde und dabei zu ihr aufblickte: Ihr schwarzbraunes Haar, das ihr über den braunen Arm fiel. Ihre ausgeprägten Wangenknochen. Die goldbraune Haut, die auch im Winter ihren Farbton behielt. Die verschüttete Verbindung zu einer Kultur, über die er nicht mehr wusste als über die Maya oder die Pennsylvania Dutch. Nichtsdestoweniger hatte er dieses Geburtsrecht in den Adern. Und Kat ebenfalls.
Die Implikationen wirbelten ihm durch den Kopf, dass ihm ganz schwindlig wurde. Solange es keine lebenden Mitglieder des Deer-Creek-Stammes mehr gab, konnte die Geschäftsführung des Casinos das Unternehmen alleine leiten und die Gewinne für sich behalten.
Und daher waren diese Leute bereit, mehrere Generationen einer Familie zu töten, um sicherzustellen, dass dieser Stamm auch wirklich ausgestorben blieb.
Ein paar vorbeilaufende Collegestudenten, die schlaue Sprüche rissen und Cocktails in sich hineinschütteten, rissen Mike aus seinen Gedanken. Er musste sich anstrengen, um wieder in die richtige Welt zurückzufinden. Fest umklammerte er das Geländer, als er die Treppe hinunterging, um wieder ins Chaos des Casinos einzutauchen. Die blinkenden Lichter und schweißglänzenden Gesichter schienen ihn geradezu anzufallen, aber er hielt sich am Rand des Saals, setzte einen Fuß vor den anderen und hielt den Blick fest auf den Ausgang gerichtet.
Deswegen sah er auch die Schulter nicht, bis sein Gesicht mit ihr zusammenstieß. Eine Lederjacke aus weichem Kalbsleder, schwarz mit einem aufgenähten roten Ducati-Logo.
Eine Hand schob ihn beiseite. »Passen Sie auf, wo Sie hinlaufen.«
Aus der Ferne hätte der Mann wesentlich jünger ausgesehen, doch Mike stand direkt vor ihm, so dass er die falsche Glätte des gelifteten Gesichts und das etwas zu schwarz gefärbte Haar bemerkte – wahrscheinlich war er schon Mitte sechzig.
Er hatte perfekte weiße Zähne und die entspannte Haltung eines Mannes, der sich seiner Stellung in der Welt sicher ist. Er hatte Mike nur einen flüchtigen Blick geschenkt, denn seine ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Blackjack-Tisch auf der anderen Seite, an dem mit den höchsten Einsätzen gespielt wurde.
Ebenso verhielt es sich bei William und Dodge, die direkt hinter ihm standen.
Mikes Beine verspannten sich so jäh, dass er einen Muskelkrampf bekam. Er senkte den Kopf, um sein Gesicht unter dem Schirm des Käppis zu verbergen, und konnte sich noch rechtzeitig abwenden. Die drei Männer standen jetzt an der Tür, die in die rückwärtigen Büros führte – dieselbe Tür, aus der kurz zuvor die Kellnerin herausgekommen war.
Während Mike davonging, hörte er den Mann in der Lederjacke noch sagen: »Ich will Resultate sehen, Jungs. Und zwar bald.«
Und Williams heisere Stimme, die Mike wie ein Fingernagel übers Rückgrat kratzte: »Die werden wir präsentieren, Boss.«
Mike hastete über den Angestelltenparkplatz und Shep folgte ihm.
»Indianer? Indianer wie in Wigwam, Büffeljagd und Großer Manitu?«
Mike spuckte aus und der Sonnenblumenkernbrei klatschte mit einem satten Geräusch auf den Asphalt. »Ganz genau. Indianer. Wie in Wigwam.«
»Wie in Friedenspfeife und Manhattan-für-eine-Handvoll-Perlen?«
»Ja, Shep. Genau so.«
»Du?«
Auf dem Chefparkplatz direkt am Casino stand eine Ducati, passend zur Bikerjacke des Mannes. Die Maschine war schlank und muskulös zugleich, teils Kampfjet, teils gepanzerte Actionfigur. Mike ging in die Hocke, um die Beschriftung des Parkplatzes zu lesen.
Brian McAvoy.
Der Boss.
»Und, wo fahren wir als Nächstes hin, Großer Häuptling Hockende Kuh?«, fragte Shep.
»Rick Graham.« Mike dachte an den Zeitungsartikel im Schaukasten über den Lokalmatador von Granite Bay. »Lass uns doch mal nachgucken, ob der gute Junge im Telefonbuch steht.«