48

Im silbernen Mondschein, der durch das Oberlicht fiel, sah das weiße Bettzeug aus wie Zuckerguss. Das riesige, im Blockhüttenstil gebaute Haus war teuer und geschmackvoll ausgestattet – Giebelfenster, Geweihlampen und ein steiles Dach, das für mehr Raum im ersten Stock sorgte. Das Haus war um einiges zu kostspielig für ein Polizistengehalt, selbst wenn man mit einrechnete, dass der betreffende Polizist der Antiterrorismuszar einer staatlichen Behörde war. Das ganze bewachte Viertel, das eine halbe Stunde nördlich von Sacramento lag, sah mehr nach Partnern von Anwaltskanzleien und Weingutbesitzern aus.

Eine kühle Brise zog durch die offene Tür herein, die auf den unbeleuchteten Balkon hinausführte. Sie strich durch Rick Grahams graumeliertes Haar auf dem Kissen, und er gab ein schläfriges Brummen von sich, während seine Hand auf dem Nachttischchen nach dem Lichtschalter tastete. Es klickte, und im nächsten Moment stieß er einen Schrei aus.

Neben ihm auf einem rustikalen Sessel saß Mike. Die Smith&Wesson lag lässig auf seinem Schoß, den Lauf hatte er freilich auf Grahams Oberkörper gerichtet. Seine Hände in den schwarzen Lederhandschuhen waren in der Dunkelheit unsichtbar.

»Ist Ihnen klar, in wessen Haus Sie …« Da schlug die Erkenntnis durch. Graham setzte sich ganz auf. Er trug einen Flanellpyjama, vielleicht passend zur Einrichtung gewählt. Der oberste Kopf war offen und ließ einen Streifen graues Brusthaar sehen. »Lassen Sie mich raten – Sie sind zurückgekommen, um mir die Reifen noch mal zu zerstechen.«

Mike schloss die Finger etwas fester um seinen Revolver.

»Wie sind Sie durch das Tor gekommen?« Grahams Hand bewegte sich weiter langsam zu dem Kissen neben ihm. »Dieses Haus hat eine Hightech-Alarmanlage. Ihr Eindringen ist komplett aufgezeichnet worden.«

Mike deutete auf die Kamera, die über der offenen Tür angebracht war und deren Linse auf sie beide gerichtet war. »Und die da schickt eine elektronische Kopie auf die Festplatte Ihres Dell-PCs im Arbeitszimmer.«

Grahams Adamsapfel zuckte nervös auf und ab.

»Ihre Verbindung zu Deer Creek scheint ja keine ganz neue zu sein«, stellte Mike fest.

Graham machte eine rasche Bewegung und hielt im nächsten Moment eine 38er Special in der Hand, mit der er auf Mikes Kopf zielte, bevor der seine Waffe vom Oberschenkel heben konnte.

Graham verzog die Lippen zu einem halben Grinsen, und zog mit dem Daumen den Hahn zurück.

Mike deutete mit einem sparsamen Nicken auf Grahams Pyjamaoberteil. »In Ihrer Brusttasche.«

Graham zielte weiter auf Mike, fasste mit der anderen Hand aber an seine Brusttasche. Metallisches Klirren. Eine der Patronen mit den Messinghülsen fiel auf seine Bettdecke, und Graham starrte sie hilflos an.

Mike stellte die Ferse auf die Sesselkante und legte seine Waffe auf das erhobene Knie.

Graham schluckte erneut und ließ die Hand mit der ungeladenen Waffe auf die Bettdecke sinken. »Wenn ich Ihnen alles erzähle«, sagte er, »werden Sie mich dann nicht töten?«

Mike nickte kurz.

»Geben Sie mir Ihr Wort.«

»Sie haben mein Wort.«

Das schien Graham ein wenig zu entspannen. »Wenn man das Profil von jemand kennt, weiß man so viel über ihn, wie man nur über einen Menschen wissen kann. Ich kann Leute nach den Datenspuren beurteilen, die sie hinterlassen. Und Ihre Spuren sagen mir, dass Sie kein Lügner sind.«

Mike hob die Waffe ganz leicht, und Grahams Augen weiteten sich ein wenig, als sie der Bewegung folgten. »Im Prinzip nicht«, bestätigte Mike.

»Was wollen Sie wissen?«

»Wie Ihre Verbindung zu Deer Creek aussieht.«

Graham befeuchtete sich nervös die Lippen. »Brian McAvoy und ich kennen uns seit Ewigkeiten. Er war junger Absolvent der Hotelschule. Altes Geld und schlaues Köpfchen, und ganz erpicht drauf, beides einzusetzen. Ich war ein junger Polizist im Sacramento Police Department und suchte nach einer Gelegenheit aufzusteigen. Wir fanden einander nützlich. McAvoy gründete ein Komitee, das nach Möglichkeiten suchen sollte, das Glücksspiel jenseits von Las Vegas zu etablieren.«

»Und dabei ist er über Sue Windbird gestolpert.«

»Und dabei ist er über ein atmendes Lotterieticket gestolpert. Andere Stämme geben ein Vermögen für Petitionen, Lobbyisten, Anwälte, Vertragsexperten, Historiker und Genealogen aus – nur, um zu kriegen, was Sue Windbird bereits hatte.«

»Und das wäre?«

»Sie haben keine Vorstellung, was für Riesenausmaße diese Sache hat, oder?« Graham kicherte leise und ließ sich Zeit. Natürlich versuchte er Zeit zu schinden, aber es war nicht zu übersehen, dass er seine Geschichte auch genoss. »Die Behörde für Indianische Angelegenheiten dachte, dass Ihr Stamm bereits ausgestorben ist. In den siebziger Jahren konnte Deer Creek also die ganzen verschärften Regelungen umgehen. Aber nur, weil es ein überlebendes Mitglied eines Stammes gibt, bedeutet das noch lange nicht, dass sämtliche Rechte des Stammes unangetastet sind. Es sei denn …« An dieser Stelle glänzten seine Augen mit einer Art von Heiterkeit auf. »… es sei denn, das Stammesgebiet wurde nie geräumt. Und jetzt raten Sie mal, was hier passiert war? In all den Jahren, als das Land am Deer Creek zerstückelt und peu à peu verscherbelt wurde, hat die gute alte Sue sich in ihrer schäbigen kleinen Hütte auf vierzig Hektar eines offiziell ausgewiesenen Indianerreservats versteckt. Ein staatlich anerkannter Stamm auf unabhängigem Land, wenngleich nur noch ein Stammesmitglied am Leben war, und das nicht mehr allzu lang. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«

»Erzählen Sie’s mir.«

»Dieses Land …« Graham breitete die Hände aus. »Diese vierzig Hektar stellen eine winzige unabhängige Nation dar, mitten in Kalifornien. Die den Gesetzen der Vereinigten Staaten von Amerika nicht unterworfen ist.« Er legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »Wir reden nicht nur darüber, dass hier jemand das Glücksspielmonopol hat, während es ansonsten im ganzen Staat verboten ist. Wir reden davon, dass es hier auch keine Baugesetze und keine staatlichen Kontrollmechanismen gibt. Verdammt, die Vereinigten Staaten dürfen hier zwar Verbrecher verfolgen, aber auf Stammesgebiet steht die Staatsgerichtsbarkeit auf verdammt dünnem Boden. Und wissen Sie, was das Beste ist? Jeder Dollar Profit ist hundert Prozent steuerfrei.«

Mike dachte an die Demonstranten vorm Casino: WARUM ZAHLEN WIR STEUERN, WÄHREND SICH DIE CASINOS IN ALLER RUHE WEITER BEREICHERN KÖNNEN?

»Und die Lage!«, fuhr Graham fort. »Fünfzehn Kilometer weiter die Straße runter ist der Bau einer Rentnersiedlung geplant – das ist der Einnahmenhimmel, lauter Leute mit gesichertem Einkommen. Das werden siebentausend Haushalte mit eins Komma acht Bewohnern pro Haus. Die Alten könnten ihre Rente im Grunde gleich an Deer Creek überweisen lassen.«

Mike dachte an die ganzen Senioren, die er im Casino gesehen hatte, wie sie die Hebel an den Spielautomaten betätigten und Chips auf den Tisch warfen.

»Das Glücksspiel im Indianerreservat wirft fünfundzwanzig Milliarden im Jahr ab – das ist mehr als die Einnahmen von Las Vegas und Atlantic City zusammengenommen. Die haben dem Gouverneur seine Position mit ihren Schmiergeldern buchstäblich gekauft. Mann, Deer Creek hat fünfunddreißigtausend Dollar für die Tickets zu Obamas Amtsantritt hingeblättert.« Graham hielt kurz inne und befeuchtete sich die Lippen. »McAvoy hat eigentlich mit einem Bingo-Palast angefangen. Das hat er ausgebaut mit Lotterie und Spielautomaten. Das war nicht dasselbe Geld wie heute – damals musste man mit den Gerichten immer noch um jeden Automaten und jeden Spieltisch streiten. Dann kam 1987 das Cabazon-Urteil des Obersten Gerichtshofs, und alle Türen standen weit offen. Eine völlig neue Welt. Können Sie sich dran erinnern, wie vor ein paar Jahren hundert Millionen Dollar im kalifornischen Staatshaushalt fehlten?«

Mike nickte.

»Da ist damals Deer Creek eingesprungen. Die haben das einfach so auf den Tisch geblättert. Das ist zwar im Grunde ein Almosen im Vergleich zu dem, was sie im Laufe der Jahre an Steuern hätten zahlen müssen, aber das war schon ein kluger Schachzug. Sie haben Absprachen mit den richtigen Leuten getroffen. Sie haben weniger Geld gezahlt, aber dafür ist es in die richtigen Taschen geflossen.«

»Aber wie …?« Mike hatte so viele Fragen, dass er den Überblick verlor. »Wie konnten sie das durchkriegen, auf dem Rücken einer neunzigjährigen Frau, die schon mit einem Fuß im Grab steht?«

»Na, wie kriegt jemand irgendwas durch?«, gab Graham zurück. »Mit schlauen Anwälten natürlich. McAvoy hat irgendeinen alten Paragraphen ausgegraben, nach dem alle Verkäufe von Reservatsland ungültig sind, wenn sie nicht vorher von der Staatsregierung genehmigt wurden. Tja, wollen Sie raten, was dann geschah? Als das ursprüngliche Deer-Creek-Reservat verkauft wurde, hat sich niemand diese staatliche Genehmigung besorgt. Also drohte McAvoy, Tausende von Grundstücksverkäufen – und die damit verbundenen Eigentumsrechte – anzufechten. Wir reden hier von achthundert Hektar Land in Nordkalifornien. Wir reden hier von Anwälten, die einflussreiche Grundbesitzer und Immobilienfirmen anrufen und ihnen erklären, dass ihnen ihr Land eventuell gar nicht mehr gehört. Jede Bautätigkeit kam zum Erliegen. Die Banken genehmigten keine Kredite mehr. Es dauerte nicht lange, bis McAvoy Sue Windbird zu ihrem Recht verholfen hatte.«

»Und er hat seine eigenen Interessen geschützt, indem er versprach, alles treuhänderisch für ihren Stamm zu verwalten«, ergänzte Mike. »Und sobald Sue Windbird gestorben war, baute er sich seinen eigenen steuerfreien Geldautomaten.«

»Warum sollte er auch nicht? Glauben Sie, dass die Uromi sich selbst ein Milliarden-Dollar-Unternehmen aufgebaut hätte? Als wir sie fanden, hat sie noch Beeren im Wald gesammelt und ins Plumpsklo geschissen. Die Frau hat ihre letzten Jahre wie eine Königin gelebt. Sie haben sie in lächerlicher Stammestracht durch die Gegend chauffiert, damit sie hier beim ersten Spatenstich dabei war und dort bei einer Einweihung ein Band durchschnitt. Die hat Single Barrel Whisky getrunken und Chateaubriand gegessen.«

»Wann hat McAvoy rausgefunden, dass sie ein Kind hat?«, fragte Mike.

»Jeder wusste, dass sie ein Kind hat. Einen Trinker – der typische Vollblutindianer. Kam ’59 bei einem Autounfall ums Leben. Was eben nicht jeder wusste, war, dass er ein weißes Mädel geschwängert hatte.«

»Und das haben Sie entdeckt, als sie die Stammbäume rekonstruierten? Um Windbirds Rechtsanspruch auf das Land nachzuweisen?«

Graham wirkte beeindruckt. »Genau. Wir dachten, wir haben’s geschafft, und dann – peng! Stellt sich raus, dass es da ein kleines Mädchen Jahrgang 51 gibt. Es dauerte eine Weile, aber dann haben wir sie aufgespürt.«

»›Wir‹«, sagte Mike. »Sie sprechen immer von ›wir‹.«

»Wie gesagt, ich hab von Anfang an mit Deer Creek zusammengearbeitet. Und selbst wenn ich mich nicht am Futtertrog bedient hätte – was meinen Sie, wer der halben Sheriffbehörde die Gehälter zahlt? McAvoy hat die Hälfte der polizeilichen Ausrüstung im ganzen Staat gespendet. Da wollen wir uns doch mal nicht so anstellen mit der strikten Trennung von öffentlich und privat.«

»Und deswegen haben Sie auch alle Polizisten am Band.«

»Ich bin der Leiter der größten Antiterrorismusbehörde Kaliforniens. Ich brauche gar keine korrupten Polizisten. Ich habe ›Leute von Interesse‹. So mach ich das. Wenn mir ein Polizist hilft, ist das keine Korruption. Der tut einfach bloß seinen Job und befolgt seine Anweisungen. Ich befehle, sie rennen.«

»Das Mädchen«, lenkte Mike ihn zum eigentlichen Thema zurück.

»Danielle Trainor.«

»Meine Mutter.«

»Genau.«

Wenn Mikes Mutter Halbindianerin war, war Mike Viertelindianer.

Und Kate zu einem Achtel.

Graham fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und zog es leicht nach unten. Einen Moment sah Mike einen Hauch von Reue in Grahams Augen. Doch dann sprach er weiter, mit fester Stimme und mit defensiven Formulierungen, die er sich wahrscheinlich in jahrelangen Diskussionen mit sich selbst zurechtgelegt hatte. »Bei den Summen, die McAvoy investiert hatte, konnte er es sich nicht leisten, eine Zeitbombe wie Ihre Mutter frei rumlaufen zu lassen. Genauso wie er nicht zulassen kann, dass ein kleiner Rotzlöffel aus dem Pflegeheim auftaucht und sich die Schlüssel zum Schloss stibitzt. Oder dass Ihre Tochter – wie alt ist sie, acht? – eines Tages antanzt und Ansprüche auf das ganze Unternehmen anmeldet. Ganz ehrlich – wollen Sie ihm das zum Vorwurf machen?«

Mike sah ihn einfach nur an.

»Okay, aus Ihrer Perspektive … klar. Natürlich. Aber Sie müssen auch begreifen, wie viel da auf dem Spiel steht.«

»Ein indianisches Casino ohne Indianer.«

»Genau.« Grahams Stimme bekam einen verschlagenen Unterton. »Wir verwalten es ja nur treuhänderisch, verstehen Sie?«

»Für einen ausgestorbenen Stamm«, sagte Mike.

»So ausgestorben ja nun nicht. Oder sind Sie ausgestorben?«

Mike beugte sich vor, und wieder folgten Grahams Augen dem Lauf der Smith&Wesson. Eine Schweißperle quoll unter seiner linken Kotelette hervor und lief ihm über die Wange. Er hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie, ich kann Ihr Freund sein. Es wird schwierig werden, Ihre Ansprüche durchzusetzen …«

»Meine Ansprüche

»Ohne den genealogischen Nachweis kriegen Sie keinen feuchten Dreck. Deswegen bewahrt McAvoy den Bericht auch in seinem Privatsafe im Büro auf, hinter dem Gemälde eines indianischen Heilers. Von diesem Safe weiß niemand außer ihm und mir.« Er interpretierte Mikes verblüfften Gesichtsausdruck irrtümlich als Skepsis. »Ich hab die Kombination nicht, aber ich könnte Sie reinschmuggeln, und dann könnten Sie ihn zwingen, den Safe zu öffnen. Mit diesen Unterlagen in der Hand könnten Sie dann das Casino und sämtliche Vermögenswerte beanspruchen. Ich könnte Ihnen helfen, sich zurechtzufinden …«

Mikes Stimme war hart und kalt, wie die Patronen, die er aus Grahams Waffe genommen hatte. »Ich scheiß auf das Casino.«

Durch die offene Balkontür drang das Sirren der Zikaden herein.

Graham befeuchtete sich die Lippen. »Warum sind Sie dann hier?«

»Sie sind der Profiler. Schauen Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, warum ich hier bin.«

Grahams Finger zupften nervös an seiner Bettdecke herum. »Wegen Ihren Eltern.«

»Sie sind tot.« Mike brachte es nicht über sich, den Satz als Frage zu formulieren.

Graham blickte zur Seite.

»Na los«, sagte Mike. »Geben Sie mir die Fakten, aus denen Sie sich das Bild einer Person zusammensetzen. Denn mehr als das werde ich von meinen Eltern niemals kriegen.«

Graham räusperte sich und fingerte weiter nervös an seiner Decke herum. »Die beiden haben sich schon auf der High-School ineinander verliebt. Ihre Mutter war im Musikclub. In der Oberstufe bekam sie den Preis für ›Das Schönste Lächeln‹ – wahrscheinlich lag es am Kontrast zu ihrer Haut. Ihr Vater wurde zum ›Größten Optimisten‹ gewählt. Er hatte mehr Geld als sie. Nicht, dass er reich gewesen wäre oder so was – sein Vater war Buchhalter – aber Danielle wurde von einer Alleinerziehenden in einer Ein-Zimmer-Wohnung großgezogen, half ihrer Mutter am Wochenende, wenn sie putzen ging, und trug Secondhand-Klamotten. Sie identifizierte sich sehr mit ihrem Vater, obwohl sie ihn nur in ihren ersten acht Lebensjahren sporadisch gesehen hatte. Sie betonte ihr indianisches Erbe, was zu der Idealisierung passt, die sie ihrem …«

»Was für ein Instrument?«, fragte Mike. Graham sah ihn verständnislos an, deswegen präzisierte Mike: »Sie war doch im Musikclub. Was für ein Instrument hat sie gespielt?«

»Flöte, glaub ich.«

Mikes Kehle war so trocken, dass er Graham mit einer Bewegung seines Revolvers zu verstehen gab, dass er weitererzählen sollte.

»Sie haben geheiratet, sowie sie ihren High-School-Abschluss hatten. John führte einen Stoffgroßhandel. Er bezog ein anständiges Gehalt, hat seine Arbeit aber nicht wirklich geliebt. Er liebte Baseball, Western und mexikanisches Essen. Danielle arbeitete als Abteilungsleiterin in einem Bekleidungsgeschäft, bis er genug verdiente, und dann blieb sie zu Hause. Sie waren absolute Familienmenschen. Picknick am Wochenende, ein VW Dasher und ein Ford Kombi – einen von den Country Squires mit dem Holzfurnierimitat an der Seite, wissen Sie?«

Mike konnte das Auto vor seinem geistigen Auge sehen, konnte den Staub des Rücksitzes riechen.

Graham redete weiter. »Danielle war eine Gärtnerin, sie hatte die Hände gern in der Erde. Sie liebte Kerzen und Cat Stevens und Räucherstäbchen.«

»Salbei«, sagte Mike leise. »Sie hat Salbeisträuchlein verbrannt.«

Auf einmal wirkte Graham doch aufgewühlt. »Wie viel müssen Sie wissen?«

»Sie haben Sie umgebracht«, sagte Mike.

Graham sah ihn fest an, doch seine Finger fummelten immer noch an der Bettdecke herum. Die Patrone blitze kurz auf, als sie zwischen den Falten der Decke auftauchte. »Sie haben mir Ihr Wort gegeben.«

Mike hob die Smith&Wesson und zielte auf Grahams Stirn.

»Verdammt, ich hab sie selbstverständlich nicht umgebracht. Ich bin schließlich Polizist.«

»Sie hatten also Handlanger. So wie Roger Drake und William Burrell, oder?«

Graham zog überrascht die Augenbrauen hoch. Dann sagte er: »So wie Lenny Burrell.«

Mike legte den Revolver auf die Armlehne, aber so, dass der Lauf immer noch aufs Bett zeigte. »Williams Vater?«

»Sein Onkel.« Die Patrone rollte immer näher zu Grahams Fingern. »Zuerst hat er sich um Ihre Mutter gekümmert …«

»Wie?«

»Ich glaube, er hat sie im Bad erschossen. Es war kurz und schmerzlos. Sie lagen nebenan und schliefen, aber Ihr Vater hat Lenny auf dem Flur erwischt, als er gerade in Ihr Zimmer wollte. Es gab ein Handgemenge, und Ihr Vater konnte Len in die Flucht schlagen. Johns Wut hat ihm unglaubliche Kräfte verliehen. Irgendwie hat er kapiert, was im Busch war. Dass Sie auch auf der Liste standen. Er ist noch in derselben Nacht mit Ihnen geflohen, bevor Len mit Verstärkung zurückkommen konnte. Eine Woche später hat Len ihn in der Nähe von Dallas gestellt. Wir mussten erfahren, wo Ihr Vater Sie gelassen hatte – es war ja nicht wie heute, wo man Datenbanken hat und staatenübergreifende Fahndungsmeldungen rausgibt und die Behörden untereinander kommunizieren, was vermisste Personen angeht.« Graham rieb sich müde die Augen, in seiner Stimme war nun die Reue zu hören. »Len hat sich Zeit gelassen mit ihm. Leonard Burrell war ein fähiger Mann. Aber Ihr Vater hatte beeindruckendes Durchhaltevermögen. Trotz allem, was er erleiden musste, hat er nicht verraten, wo Sie waren.«

Mike blickte zu den Balken, die die dunkle Decke stützten. Seine Gedanken waren zu flüchtig, als dass er sie hätte fassen können. Langsam sagte er: »Ich habe meinen Vater einunddreißig Jahre lang gehasst.«

»Und, sind Sie jetzt erleichtert?« Grahams Gesicht hatte beinahe etwas väterliches. »Dass Sie ihn nicht mehr hassen müssen?«

Du hast doch keine Ahnung, dachte Mike.

Graham räusperte sich. »Es tut mir leid, was ich getan habe. Es gibt Nächte, da … Aber das geht Sie nichts an.«

Mike war sich vage bewusst, dass sich Grahams Arm anspannte, dass seine Faust an der Decke herumzupfte und die Patrone jetzt als dunkler Fleck auf dem hellen Stoff zu sehen war. »Warum wurden meine Eltern nie gefunden?«, fragte Mike.

»Len verstand sich auf viele Dinge. Dazu gehörte auch das Verschwindenlassen von Leichen. Es war einfacher so. Keine Leiche, keine Mordermittlung. Keine Vermisstenanzeige in den Polizeiakten. Es kommt schließlich immer wieder vor, dass Leute irgendwie in Schwierigkeiten geraten, über Nacht ihre Sachen packen und verschwinden. Alle haben gedacht, dass die Trainors einfach weggegangen sind. Keine Beerdigung, kein Todestag, viel weniger Aufsehen. Keiner hat sie vermisst.«

»Ich schon«, sagte Mike. »Ich hab sie vermisst.«

»Was soll ich jetzt sagen?«

Mike sah, wie Grahams Schuldgefühle plötzlich in Wut umschlugen, und er spürte einen übermächtigen Drang, die Smith&Wesson von der Armlehne zu nehmen und ihm durch die Zähne zu schießen. Stattdessen sagte er: »Sagen Sie mir, wo sie begraben sind.«

Graham schlug die Decke zurück und seine Hand verschwand unter der Falte. »Ich werde es Ihnen nicht sagen«, erklärte er. »Aber ich kann es Ihnen zeigen.«

»Okay.« Mike stand auf.

Schwerfällig schwang Graham die Beine aus dem Bett, aber dann bewegten seine Arme sich auf einmal blitzschnell, seine Hände griffen zu und die einzelne Patrone verschwand mit einem Klicken in der Trommel seiner 38er. Der Revolver schwebte vor Mikes Gesicht, bevor er seine Smith&Wesson von der Lehne nehmen konnte.

Graham bedeutete ihm mit einer Geste, dass er vom Sessel zurücktreten sollte, und Mike gehorchte. »Ich tue Ihnen einen Gefallen«, sagte Graham. »Denn wenn William und Dodge Sie in die Finger kriegen …« Er schüttelte den Kopf und stieß einen leisen Pfiff aus. »Und das werden sie. Diese beiden … tja, manchmal ist das Ganze eben mehr als die Summe seiner Teile. Zusammen sind die Jungs einfach unschlagbar, da holt jeder das Beste aus dem anderen raus. Lassen Sie Katherine, wo immer sie sein mag. Na, was sagen Sie? Ist das ein fairer Handel?« Sein Daumen bewegte sich zum Hahn.

»Das würde ich nicht tun«, sagte Mike.

Graham spannte den Hahn.

Ein Dröhnen.

Der grelle Lichtschein der Explosion auf dem Balkon beleuchtete Sheps emotionsloses Gesicht hinter dem Lauf seiner Waffe, schön außerhalb des Winkels der Sicherheitskamera. Bevor Mike auch nur einmal blinzeln konnte, war der Türspalt wieder dunkel und Shep war verschwunden.

Grahams weißer Hals verfärbte sich stellenweise rot, ein Klumpen Blut erhob sich wie Sirup und fiel dann mit Grahams Körper zu Boden, wo er einen Streifen quer über seine Wange und seine Brust zeichnete.

Das Aufblitzen der Waffe hatte Mike kurz geblendet, und er blieb einen Moment so stehen und atmete den Korditgeruch ein, während seine Trommelfelle blechern vibrierten. Als er auf die Knochen und das aufgerissene Fleisch hinunterstarrte, spürte er absolut nichts.

Ihm fiel ein Dinner ein, zu dem sie vor nicht allzu langer Zeit bei Eltern von einer Freundin von Kat eingeladen gewesen waren. Brathuhn und Syrah-Wein aus Chile. Und sie hatten geplaudert und gekaut und sich den Mund abgewischt, und lebten glücklich in dem Glauben, anständige, zivilisierte Menschen zu sein.

Wie viel sein Vater durchgemacht hatte, um ihn zu schützen. Die Angst, die er an jenem Morgen in ihrem Kombi ausgestrahlt hatte. Die wilde Trauer, seine Frau verloren zu haben und nun seinen Sohn zu verlassen.

Nur John. Nur John.

Mike blinzelte ein paar Mal, bis er sich aus seiner Starre lösen konnte. Dann ging er in Grahams Arbeitszimmer und zog sich die Aufnahme aus der Überwachungskamera auf einen USB-Stick. Er spielte die digitale Aufzeichnung ab, um sicherzugehen, dass er sie wirklich erfolgreich kopiert hatte. Grahams Gesicht, klar und deutlich: Bei den Summen, die McAvoy investiert hatte, konnte er es sich nicht leisten, eine Zeitbombe wie Ihre Mutter frei rumlaufen zu lassen.

Dann löschte Mike die Aufnahmen von der Festplatte. Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihm eine Visitenkarte ins Auge, die auf einem ansonsten leeren Metalltablett auf dem Schreibtisch lag. Brian McAvoy, CEO. Auf die Rückseite hatte er »neues Handy« geschrieben und eine Nummer mit der Vorwahl von Sacramanto dazugekritzelt.

Mike starrte die Nummer eine ganze Weile an, dann zückte er sein Handy und wählte. Während es klingelte und klingelte, umfasste seine behandschuhte Hand den Hörer immer fester.

Ein schlaftrunkenes »Hmm?«

»Sie sind so gut wie tot«, sagte Mike.

»Woher haben Sie diese Nummer?«

»Das ist momentan Ihre geringste Sorge.«

»Wer … wer ist da?«

»Der Typ, dem Ihr Casino gehört. Ich habe Filmaufnahmen, die Sie zerstören werden.«

»Filmaufnahmen?« Ein feuchtes Schlucken, dann hörte man lautes Atmen. »Wie viel wollen Sie?«

»Es gibt keinen Preis.«

»Warum rufen Sie mich dann …«

»Entweder lassen Sie meine Familie in Frieden, oder ich bring Sie ins Grab. Haben Sie mich verstanden?«

»Ihre Familie?« Pfeifendes Atmen. »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wen Sie hier angerufen haben, mein Junge?«

Jetzt, wo Mike genauer überlegte, klang die Stimme tatsächlich ein bisschen rauher als erwartet. »Brian McAvoy«, sagte Mike.

»McAvoy?« Dröhnendes Gelächter, das nach Alter und Tabak klang. »So wie Sie sich anhören, sind Sie wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der diesen Wichser noch mehr hasst als ich.« Der Mann lachte noch einmal in sich hinein, dann verstummte er, und es entstand todernstes Schweigen. »Moment mal«, sagte er. »Spreche ich da mit … mit Michael Trainor?«

Eine lange Pause. Ein Deckenventilator blies gleichmäßig trockene, kühle Luft auf Mikes Nacken.

»Sue Windbirds Urenkel?« Die Stimme verriet große Erleichterung. »Ich kann gar nicht glauben, dass Sie noch am Leben sind.«

Mikes Finger verkrampften sich am Telefon. Er beugte sich vor und presste sich die Hand an die Stirn. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Andrew Two-Hawks, Häuptling der Miwok-Indianer von Shasta Springs. Ich bin Geschäftsführer eines Casinos, aber nicht von dem, auf das Sie es abgesehen haben. Wir müssen uns zusammensetzen und reden, mein Junge.«

»Warum sollten wir?«

»Weil wir dieselben Interessen verfolgen.«