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William und Doge saßen in der schimmeligen Küche des schindelverkleideten Hauses und blätterten verzweifelt die Liste der Pflegeheime in Kalifornien und seinen Nachbarstaaten durch. Sie hatten die Liste zwar schon beträchtlich verkleinern können, es blieben aber immer noch seitenweise Adressen. Der Boss saß ihnen im Nacken, daher hatten William und Dodge schon die zweite Nacht in Folge durchgemacht. Nach dem Überfall am Vorabend war seine Ungeduld in rasende Wut umgeschlagen. William hatte von diversen Streifenpolizisten in diversen Polizeistationen einen Gefallen nach dem anderen eingefordert und mit einem blutroten Filzstift Namen auf seiner Liste abgehakt. Er hatte Polizisten in vier Staaten ausschwärmen lassen, die in Pflegeheimen nach neuen Gesichtern Ausschau hielten.
Die Küche war schon seit Monaten so verwahrlost, dass Dodge und er jeden Versuch aufgegeben hatten, sie noch einmal sauber zu machen. Fettspritzer bedeckten die Wand über dem Herd, Staub klebte auf den Fensterscheiben, verschüttetes Salz lag in Miniaturpyramiden auf dem Boden. Trotzdem schafften sie es immer noch, sich ab und zu eine Kaffeetasse oder einen Teller abzuwaschen, bevor sie ihn wieder zum schmutzigen Geschirr stellten, das sich in der Spüle und auf der Arbeitsplatte stapelte. Auf der seit langem kaputten Mikrowelle stand ein Faxgerät, in dessen Papiereinzug ein paar tote Fliegen lagen.
Dodge saß gegenüber von William, las einen Comic und schlürfte nachdenklich von seinem heißen Tee. In dem weichen Licht sahen seine Gesichtszüge noch unbestimmter aus, und seine Nase schien seitlich so nahtlos in die Wangen überzugehen, als hätte man den Übergang mit einem Spachtel glattgestrichen. Ab und zu rieb er nachdenklich mit dem Zeigefinger über seinen Daumenballen, was ein kratzendes Geräusch erzeugte. Das war seine Art, Ungeduld zu zeigen, wenn er am liebsten etwas mit seinen Händen gemacht hätte.
William hatte sein Handy gerade zum Aufladen eingesteckt, als es klingelte. Dodges Daumen erstarrte mitten in der Bewegung.
William warf einen Blick aufs Display, dann nahm er das Gespräch an und fragte: »Hast du ihn?«
»Diese Wichser vom Susanville Police Department haben sich geweigert, Shepherd White zu uns zu überstellen.« Die Stimme des Bosses war angespannt. »Vielmehr haben sie ihn vor drei Stunden laufenlassen.«
»Sie haben ihn laufenlassen?« William setzte sich fassungslos auf einen hüfthohen Stapel alter Zeitungen. »Aber Dodge hat im Keller schon alles vorbereitet. Wo zum Teufel war Graham?«
»Tot«, antwortete der Boss.
»Graham ist tot«, wiederholte William, damit Dodge es auch mitbekam.
Dodge blickte auf, nippte an seinem Tee und senkte den Blick wieder auf den Comic. Sein Daumen nahm die langsam kratzende Bewegung wieder auf.
»Er war offline, deswegen hab ich einen Wagen vom Sacramento Police Department rübergeschickt«, fuhr der Boss fort. »Er wurde in seinem Bett erschossen.«
William wurde klar, was er in der Stimme des Bosses heraushörte und was ihn extrem nervös machte. Da war etwas, was er noch nie zuvor gehört hatte. Verzweiflung. William atmete durch die Nase aus, kratzte sich die Wange und verdrängte die Besorgnis, die ihm den Brustkorb zuschnüren wollte. »Das kommt alles in Ordnung.«
»Ach ja? Hast du so was schon mal gemacht? Hast du dich mit Mitgliedern von staatlichen Behörden auseinandergesetzt, die plötzlich bei dir auf der Matte stehen? Weißt du, wie man in einer Mordermittlung die Fäden ziehen kann, wenn es mal eben um den Mord an einem hochrangigen Polizisten geht?« Seine Atemzüge rauschten im Hörer. »Erzähl mir hier nicht, was in Ordnung kommt. Ich sag dir, wann es in Ordnung kommt.«
»Ja, Sir.«
»Gott sei Dank haben wir immer noch jede Menge Freunde. Ich sitze gerade einem von Grahams Vorgesetzten gegenüber. Wie es aussieht, hat Graham uns noch ein kleines Geschenk aus dem Grab geschickt. Unser zukünftiger Partner hier hat die Aktivitäten eines gewissen Individuums überwacht. Sowie er von Grahams Tod erfahren hat, ist er hergekommen, um mir die Informationen persönlich zu überbringen.« Er machte eine spannungsgeladene Pause. »Es ist ihm gelungen, ein Signal zurückzuverfolgen.«
William atmete erleichtert aus, dann sagte er zu Dodge: »Wir haben eine Adresse.«
Dodge legte den Comic aus der Hand, fuhr mit den Händen über das Cover und stand auf.
»Der Name ist uns kein unbekannter«, sagte der Boss.
William blätterte um und hielt den blutroten Filzstift bereit. Er merkte, wie ihm die Lippen an den Zähnen klebten – er lächelte vor lauter Vorfreude.
»Besorgt euch die Antworten«, sagte der Boss. »Ganz egal wie.«