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Janine, die Älteste, bewahrte einen Kokon auf einem Zweig in einem riesigen Einmachglas auf, das Ms. Wilder auf den Sims über der Küchenheizung stellte, in der Hoffnung, den Kokon so warm halten zu können, dass die Larve tatsächlich heranreifte. Vor jeder Mahlzeit suchten die Mädchen nach Anzeichen von Leben. Es gab zwar nur wenige und sehr schlichte Traditionen, aber die wurden umso genauer eingehalten.

Kat schlief im vierten Schlafzimmer auf einer Matratze zwischen zwei Stockbetten. Sie schlief unruhig, und wenn sie irgendwann endlich eingeschlummert war, wurde sie vom morgendlichen Run aufs Badezimmer niedergetrampelt. Die anderen Mädchen waren weder nett noch böse, obwohl ihre Gleichgültigkeit vielleicht sogar noch schlimmer zu ertragen war. Als wäre Kat nicht mehr als irgendeiner der unzähligen, immergleichen Körper, die unter diesem Dach gewohnt hatten und wieder fortgegangen waren, nicht anders als ihre zahllosen Vorgängerinnen, und die zahllosen anderen Mädchen, die nach ihr kommen und ihren Platz einnehmen würden. Sie schlief zusammengerollt wie ein kleiner Welpe und glättete die Bettdecke vor dem Frühstück, um den Eindruck zu erwecken, sie hätte ihr Bett gemacht. Sie merkte, dass sie sich bemühte, keine Spur in diesem Haus zu hinterlassen.

Die meisten Mädchen gingen in die Schule, und dann genoss Kat tagsüber die relative Ruhe. Sie saß im Wohnzimmer und beobachtete Ms. Wilder durch die Küchentür und rutschte ab und zu ein Stückchen zur Seite, um sie im Auge behalten zu können, wenn sie an den Herd ging oder an den kleinen Tisch trat, um die Überweisungsformulare für ihre Rechnungen auszufüllen. Irgendwann schaute Ms. Wilder dann zu ihr hinüber und sagte: »Schätzchen, such dir lieber eine Beschäftigung, bevor dir die Augen rausfallen«, und Kat trollte sich schmollend zum Erkerfenster, wo sie sich auf ein Kissen plumpsen ließ und auf die Straße starrte, während sie in Gedanken die letzten Worte ihres Vaters immer wieder neu zergliederte und zerpflückte, in der Hoffnung, versteckte Bedeutungen und Nuancen darin zu finden.

Dann wirst du dir eines Tages denken, dass ich nie erfahren habe, was für eine tolle Frau aus dir geworden ist.

Aber da waren zu viele Lücken, und es war zu spät, ihn zu bitten, sie zu füllen.

Du musst jetzt ganz stark sein. Dein Leben steht auf dem Spiel. Niemand darf irgendetwas über dich erfahren.

Sie war Katherine Smith aus San Diego – dort waren sie ein paar Mal gewesen, um Sea World und Legoland zu besuchen, also konnte sie beschreiben, wie die Luft roch, die vom Meer herkam. Aber bis jetzt hatte sie noch keiner gefragt, nicht mal Ms. Wilder.

Ich komm zurück und hol dich.

In diesem Satz steckte nicht der geringste Zweifel. Oder doch?

Sie starrte auf die vorüberfahrenden Autos und zerbrach sich den Kopf, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob ihr Vater gesagt hatte, wann er zurückkommen würde. Nach zwei Wochen? Oder zwei Jahren? Wenn sie ein Teenager war?

Kerry Ann, die Dreijährige, hämmerte mit einem Trommelstock auf Kats Knie herum. Kat trug sie zu dem kaputten Xylophon und versuchte, ihr das Lied vorzuspielen, das sie vor Ewigkeiten mit ihrer Klavierlehrerin geübt hatte, aber sie kriegte es einfach nicht mehr zusammen. Außerdem war Kerry Ann schon wieder abgelenkt, weil sie der Katze nachlaufen musste.

Wenn die anderen von der Schule kamen, versuchte Kat, sich möglichst unsichtbar zu machen. Sie setzte sich ans Erkerfenster, während die Mädchen mit ihren Rucksäcken und Zopfgummis herumrannten und Geschichten erzählten. Ihre Kopfhaut juckte immer noch von dem chemischen Läusemittel. Immerhin war sie positiv überrascht, dass sich niemand über sie lustig gemacht hatte, als Ms. Wilder ihr am ersten Abend das schmierige Zeug in die Haare kämmte. Das hatten sie nämlich auch schon alle mitgemacht.

Janine sah, dass Kat auf die Straße starrte, und blieb neben ihr stehen. Auf ihre glupschäugige Art war sie sogar hübsch.

»Verschwend deine Zeit nicht«, sagte sie.

»Er kommt zurück«, behauptete Kat. »Er hat es mir geschworen.«

Janine schob die Unterlippe mit der Zunge vor und trug einen hellroten Lippenstift auf. »Du wirst es schon noch kapieren«, sagte sie und gesellte sich zu dem kleinen Grüppchen, das sich um das Einmachglas geschart hatte.

Kat hörte sie plaudern, aber sie nahm die Worte kaum in sich auf.

»Vielleicht ist es ein Monarchfalter.«

»Ms. Wilder hat gesagt, das ist jetzt nicht die richtige Zeit.«

»Ach, und Ms. Wilder weiß alles, oder?«

»Mehr als du jedenfalls.«

»Es gibt viele Schmetterlingsarten. Außerdem sehen Monarchfalter so nach Halloween aus. Ich hoffe, er ist nicht so orange und schwarz, sondern gelb.«

»Solange es bloß nicht so ’n hässlicher Nachtfalter wird.«

Kat nahm die Stimmen nur verzerrt und wie aus weiter Ferne wahr, als wäre sie unter Wasser. Sie drückte ihre Nase an die Scheibe. Es gab nur sie und die Straße und ein in der Kehle stecken gebliebenes Gebet, dass ihr Vater wieder auftauchen würde, mit einem gestohlenen Auto und einem Lächeln auf den Lippen.

Beim Abendessen musste Kat sich schwer zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie kaute und schluckte und zwang das Essen durch ihre zugeschnürte Kehle. Sie versuchte, niemanden in die Augen zu schauen, denn sie wusste, wenn sie das tat, würde sie zusammenbrechen und losheulen, und das würde ihr dann für immer anhängen: Katherine Smith, das Mädchen, das beim Abendessen losheulte. Also richtete sie ihren Blick fest auf den Zweig und den Kokon. Als die Mädchen aufstanden, um den Tisch abzuräumen, sah sie den Kokon zweimal pulsieren.

Dieses Geheimnis half ihr durch ihre Haushaltspflichten nach dem Abendessen und das Zähneputzen. Als sie sich bettfertig machte, sah sie, dass eines der Mädchen mit einem schmutzigen Fuß auf ihr Kissen gestiegen war. Ein dunkler Fleck genau in der Mitte. Sie tapste über den Flur zum Wohnzimmer, wo Ms. Wilder mit den älteren Mädchen saß und sich eine Wiederholung von Hannah Montana ansah – Jackson schüttete sich gerade Cornflakes direkt aus der Packung in den Mund, wobei ihm die Hälfte danebenfiel.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Kat, »aber kann ich wohl …? Mein Kissen ist schmutzig. Kann ich ein anderes kriegen?«

Ein paar Mädchen kicherten, und Kats Gesicht wurde ganz heiß.

»Schätzchen«, sagte Ms. Wilder, »man hat, was man hat. Fertig, aus.«

Damit wandten alle ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. Kat stand immer noch an der Tür und kam sich schrecklich dumm vor.

»Ist sonst noch was?«, fragte Ms. Wilder.

»Ich … Darf ich auch zur Schule gehen?«

»Wir arbeiten dran«, antwortete Ms. Wilder.

»Ich würd mich ja nicht beschweren, wenn ich du wäre«, mischte sich Janine ein. »Nicht wegen der Schule.«

Als Kat an der Küche vorbeikam, warf sie einen Blick ins Einmachglas und entdeckte einen Riss im Kokon. Mit klopfendem Herzen ging sie ins Bett und drehte das Kissen um, so dass die saubere Seite nach oben zeigte.

Während sie im Bett lag, starrte sie die Stockbetten an, die links und rechts von ihr aufragten. Die jüngeren Mädchen schliefen bereits – Emilia schnarchte sogar ein wenig – aber Kat konnte kein Auge zumachen. Irgendwann hörte sie, wie der Fernseher ausgeschaltet wurde und knisterte, dann Schritte und knarrende Dielen und sich schließende Türen, und danach nur noch das Summen der Heizung.

Kat blieb so lange liegen, wie sie konnte, dann schlüpfte sie aus dem Bett und schlich sich auf Zehenspitzen in die Küche. Der Kokon war jetzt offen und ringelte sich auf dem Zweig wie ein welkes Blatt, aber den Schmetterling konnte sie nirgends entdecken. Langsam dämmerte ihr, dass überhaupt kein Schmetterling im Kokon gewesen war – was sie im ersten Moment für eine Beule auf dem Zweig gehalten hatte, war ein frisch geschlüpfter Nachtfalter.

Er war braun und pelzig und absolut gewöhnlich.

Sie musste an die Eidechse denken, die sie so gern behalten hätte und dann im Auto vergessen hatte, und wie ihr Vater ihr am Abend das Glas gebracht hatte, in dem das steife Reptil hin und her rutschte. Bevor sie ein zweites Mal darüber nachdenken konnte, hatte sie das Glas auch schon unter den Arm gesteckt und schlich sich in den Garten. Sie bekam eine Gänsehaut, als die Nachtkühle ihr unter die Pyjamaärmel und -beine kroch. Direkt neben dem Zaun stand ein Polizeiauto, was ihr ein sicheres Gefühl gab, auch wenn gerade niemand darinsaß. Ganz hinten im Garten erhob sich eine Reihe dünner Bäumchen hinter den Klettergerüsten, und Kat konnte den Gedanken nicht unterdrücken, wie viel schöner die Gerüste waren, die sie zu Hause in ihrem eigenen Garten hatte.

Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters – ich komm zurück und hol dich – aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie sein Gesichtsausdruck ausgesehen hatte, als er die Worte aussprach, und ihr wurde klar, dass sie sich bald nicht mal mehr an sein Gesicht würde erinnern können. Und dann würden auch diese Worte langsam immer mehr verschwimmen – was er gesagt hatte und woran sie sich zu erinnern glaubte – und mit Grauen traf sie die Erkenntnis, dass sie eines Tages wirklich Katherine Smith aus San Diego sein würde.

Er kommt zurück, sagte sie sich. Er hat es geschworen.

Sie blickte auf das Einmachglas, ihr kleines Geheimnis, das außer ihr niemand gesehen hatte. Die spöttischen Bemerkungen der Mädchen kamen ihr wieder in den Sinn: Solange es bloß nicht so’n ekliger Nachtfalter wird.

Er hatte seine Flügel im Glas ausgebreitet, und selbst im schwachen Licht der Straßenlaternen konnte sie das winzige Muster darauf erkennen, beige auf kastanienbraun, wie eine kunstvolle Intarsienarbeit.

Sie dachte an die Enttäuschung und das Gegacker, das es geben würde, wenn die Mädchen entdeckten, dass ihr Schmetterling ein ganz gewöhnlicher Nachtfalter war, und sie ließ den Daumen über die scharfkantigen Stellen im Deckel wandern, wo man mit einem Schraubenzieher oder einem Messer Luftlöcher hineingestochen hatte.

Du wirst es schon noch kapieren.

Mit einer entschlossenen Drehbewegung öffnete sie den Deckel und hielt das Glas in die Höhe. Der Nachtfalter zögerte kurz am Rand des Glases, dann flog er durch die Öffnung hinaus. Kat beobachtete, wie er seinen Weg um einen Baumstamm fand, immer weiter und weiter nach oben stieg und sich schließlich vor dem pechschwarzen Himmel verlor.

Keine zehn Meter entfernt leuchtete zwischen den Baumstämmen ein orangener Punkt auf.

Sie erstarrte, konzentrierte sich auf diesen Lichtpunkt und war sich auf einen Schlag der Stille bewusst, ihrer Isolation, der dunkelgrauen Luft, die sich über die Schatten am Rand des Grundstücks legte. Ein ganz leises Knistern von brennendem Papier war über dem nächtlichen Summen zu hören.

Eine Zigarette.

Jetzt war es wieder weg.

Auf einmal begann sie zu schwitzen. Unsicher setzte sie einen Fuß auf die nasse Erde und blinzelte in die körnige Luft, aber in der dichten Dunkelheit neben dem Baumstamm konnte sie nicht viel erkennen. Wer auch immer dort stand, sie war nichtsahnend ganz in seine Nähe gelaufen. Kat schnappte nach Luft.

Die Glut erwachte wieder zum Leben und beleuchtete den Ausschnitt eines Gesichts – den Rand eines Kinns, einer Wange, einer Schläfe. Einen Uniformkragen. Eine Polizeiuniform. Der Mann gehörte zu dem Polizeiauto. Sie erkannte sein Gesicht nicht und wusste auch nicht, was er hier im Dunkeln tat.

Niemand darf irgendetwas über dich erfahren.

Das rote Glühen erstarb, und das Gesicht verschwand wieder im Dämmerlicht.

Kat machte einen raschen Schritt aufs Haus zu, wobei sie mit ihrer Sandale in einem Spalt im Asphalt hängen blieb. »Oh.« Sie lachte nervös und versuchte, ganz beiläufig zu klingen. »Ich hab Sie lange nicht da stehen sehen.«

Aus der Dunkelheit kam eine ruhige, tiefe Stimme. »Länger als du glaubst.«

Bei diesen Worten erstarrte sie.

»Ist schon okay, Schätzchen. Ich bin ein Polizist. Ich bin auf Streife in dieser Gegend. Und sorg dafür, dass keinem was passieren kann. Du bist neu hier, oder? Wie heißt du?«

Sie musste sich zum Sprechen zwingen. »Katherine Smith.« Sie brachte ein höfliches Lächeln zustande und machte einen Schritt rückwärts, und dann noch einen.

»Komm, lächle mal.« Das Blitzlicht einer Kamera blendete sie.

Sie drehte sich um und rannte aufs Haus zu. Der Atem brannte ihr in den Lungen. Aus irgendeinem Grund schaukelte sich ihre Panik durch das Rennen noch weiter hoch, und sie sprintete blindlings vorwärts, mit schmerzenden Knöcheln und brennendem Brustkorb. Der Weg bis zur Hintertür war vielleicht fünfzig Meter lang, aber es hätte genauso gut ein Kilometer sein können. Als sie an der Tür war, blieb sie keuchend stehen und riskierte einen Blick zurück. Der Garten war völlig still und verlassen.

Einen Moment später sprang der Motor des Polizeiautos an, das sie vorm Haus gesehen hatte. Der Wagen fuhr los, seine Scheinwerfer glitten über den Zaun und warfen einen Streifen aus gestückeltem Licht über den jetzt verlassenen Platz zwischen den Baumstämmen.