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Die Arbeiter versammelten sich beeindruckt um Mikes Auto, als er auf die Baustelle fuhr.
»Wow!«
»Hey, der Chef hat ’ne neue Karre!«
»Was hat dich das Ding denn gekostet?«
Mike stieg aus und wich den Fragen verlegen aus. Er hatte sich nie so richtig daran gewöhnt, Chef zu sein, und vermisste die lockere Kumpelhaftigkeit, die man eben spürte, wenn man Tag für Tag mit jemandem arbeitete. »Nicht so viel, wie ihr glaubt.«
Jimmy stützte sich mit beiden Händen auf die Kühlerhaube, ohne daran zu denken, dass er in der einen noch einen Schraubenzieher hielt.
»Vorsicht mit dem Lack«, rief Mike, bereute jedoch im nächsten Moment, den Mund aufgemacht zu haben.
Jimmy riss mit einer übertriebenen Geste die Hände in die Luft, so dass die anderen lachten.
»Schon gut, schon gut«, meinte Mike. »Geschieht mir recht. Wo ist Andrés?«
Sein reizbarer Vorarbeiter kam herangetrottet und rührte mit einem Trinkröhrchen aus rostfreiem Stahl in seinem Gefäß. Es enthielt Yerba-Mate, und das Trinkröhrchen – eine bombilla – filterte mit dem Sieb am unteren Ende die losen Teeblätter heraus, so dass Andrés den ganzen Tag seinen bitteren Tee schlürfen konnte, ohne Pflanzenteile ausspucken zu müssen.
»Na los, worauf wartet ihr?«, scheuchte er die Arbeiter auf. »Ihr sollt faulenzen, wenn der Boss verschwindet, nicht wenn er auftaucht.«
Die Arbeiter suchten das Weite, und Andrés stellte sein Gefäß mit dem Matetee auf die Stoßstange von Mikes Wagen. »Huah«, sagte er mit fester Stimme.
»Huah?«
»Heute ist Rede-wie-ein-Pirat-Tag. Was für ein Land. Diese ganzen Feiertage. Nimm-dein-Kind-mit-in-die-Arbeit-Tag. Martin-Yuther-King-Tag.«
Andrés, der ursprünglich aus Uruguay kam, hatte gerade seinen Antrag auf Einbürgerung laufen und war eine wandelnde Fundgrube für obskures, amerikanisches Trivialwissen.
»Ich hab gehört, der soll Martin Luther King heißen«, wandte Mike ein.
»Sag ich doch, Kumpel.«
Sie gingen den gewundenen Weg zur geplanten Siedlung hinauf. Die vierzig Häuser, die eine parkähnliche Grünfläche in der Senke des Canyons säumten, zogen sich an beiden Seiten der Straße entlang. Je höher sie lagen, desto teurer waren sie. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie ganz normale Häuser, aber bei näherem Hinsehen entdeckte man Versickerungsgräben für ablaufendes Regenwasser, Dächer, die mit Solarzellen bestückt und noch dazu großzügig bepflanzt waren, biologisch abbaubare Rohre aus verziegeltem Lehm. Trotzdem hatten die Häuser nur um Haaresbreite die Nase vorn gehabt, als man sich um das begehrte »Grüne Zertifikat« für das fortschrittlichste Energie- und Umweltdesign beworben hatte. Aber sie hatten gewonnen, und jetzt war die Arbeit, bis auf ein paar letzte Elektroarbeiten und ein bisschen Schönheitskosmetik, abgeschlossen.
Nachdem sie den höchsten Punkt hinter sich gelassen hatten, gingen sie zum Park hinunter. Das war Mikes Lieblingsteil von »Green Valley«, direkt im Herzen der Siedlung, so dass die Eltern ihren Kindern beim Spielen zusehen konnten, wenn sie einen Blick aus dem Fenster warfen. Dafür hatte er gerne auf zwei weitere Parzellen verzichtet, die ihm das Bauamt zusätzlich genehmigt hatte.
Sie gingen zu dem Loch am hintersten Ende des Parks, in dem noch das Fundament für die Feuergrube fehlte. »Worauf warten wir hier eigentlich noch?«, fragte Mike.
»Es dauert ein bisschen länger, bis dieser Hippie-Zement gemischt ist«, sagte Andrés. »Aber der Bauherr, dieser Kontrollfreak, erlaubt mir nicht, den normalen Zement zu verwenden.«
Das waren ihre eingespielten Kabbeleien – die beiden waren wie ein altes Ehepaar, etwas verbittert und voneinander genervt, aber zusammengeschweißt bis ans Ende ihrer Tage.
»Die Bestimmungen für das »Grüne Zertifikat« sind zu streng. Wir haben da keine Freiräume mehr.« Mike zog eine Grimasse und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Mein Gott, wer hätte gedacht, dass das so ein Theater werden würde.«
Andrés nahm noch einen Schluck durch seine bombilla. »Was bauen wir eigentlich als Nächstes?«
»Ein Braunkohlekraftwerk.«
Andrés gackerte und stocherte mit seinem Trinkhalm in seinem Gefäß. »Ich hab dir ja gesagt, wenn wir diesen grünen Mist sein lassen, hätten wir noch zwanzig Prozent Gewinn mehr rausholen können. Dann würden wir jetzt alle neue Autos fahren.«
Als sie näher kamen, winkte Jimmy ihnen zu und fuhr seinen Zementmischer rückwärts an das Loch heran. Andrés hob einen Arm, um den Gruß zu erwidern, und seine bombilla segelte in die Grube. Er runzelte die Stirn, als wäre das jetzt nur die neueste in einer ganzen Serie von Enttäuschungen.
»Vergiss es. Ich kauf mir ’ne neue.«
Mike starrte auf das dünne Stahltrinkröhrchen, das dort unten im Schlamm steckte. Mike konnte Kats Stimme in seinem Hinterkopf förmlich hören, wie sie sich über Müll und den Abbau von Metallen ausließ. Ärgerlicherweise wollte ihm sein Gewissen keine Ruhe lassen.
Jimmy wollte gerade die Zementtrommel kippen, als Mike ihm zurief und in die Grube deutete. Der Bauarbeiter verdrehte genervt die Augen und ging eine rauchen, während Mike hinuntersprang. Das Loch bestand aus anderthalb Metern nackter Wand. Sie hatten sehr tief gegraben, um die Gasleitungen zu verlegen. Während Mike in die Hocke ging, um das Röhrchen aufzuheben, entdeckte er den gebogenen Teil eines Wasserrohrs, das aus der Erdwand herausragte. Die Wasserhauptleitung.
Er erstarrte.
Sein Magen krampfte sich zusammen, und das metallene Röhrchen fiel ihm aus der Hand. Der moosige Geruch von feuchter Erde und Wurzeln umgab ihn und drückte ihm auf die Lungen.
Erst glaubte er, sich verguckt zu haben. Dann bohrte er den Finger in die Erde, legte noch ein wenig mehr von dem Rohr frei, und schließlich durchzuckte ihn eine grauenhafte Erkenntnis.
Dieses Rohr war nicht aus dem umweltfreundlichen verziegelten Lehm, für den er ein kleines Vermögen hingelegt hatte.
Das war PVC. Giftiges, biologisch nicht abbaubares PVC.
»Wie viel davon haben wir verbaut?« Mike stand mit Andrés an der Kante der Grube und versuchte, seine Stimme nicht allzu panisch klingen zu lassen. Die anderen Arbeiter hatte er vorerst nach Hause geschickt.
»Keine Ahnung«, sagte Andrés.
»Hol den Lieferwagen rüber«, sagte Mike. »Ich möchte die Leitungen mit Rohrinspektionskameras checken.«
»Für den Wagen zahlen wir täglich …«
»Ist mir egal.«
Mike griff sich eine Schaufel, die in der Nähe auf einem Haufen Deko-Steine lag, sprang in die Grube und begann die Wand aufzustochern. Er hatte immer noch die Statur eines Bauarbeiters – muskulöse Unterarme, starke Hände und einen Brustkorb, über dem sich das T-Shirt spannte – und er kam rasch voran mit seiner Arbeit. Trotzdem gab die schwere Erde unter seiner Schaufel nicht so leicht nach, wie sie das vor ein paar Jahren vielleicht noch getan hätte. Andrés ließ den Van kommen, dann stellte er sich mit verschränkten Armen neben die Grube und kaute auf der Innenseite seiner Wangen herum, während er zusah, wie Mike sich ächzend abrackerte. Dann nahm er sich eine zweite Schaufel und stieg zu ihm in die Grube.
Der Van der Klempnerfirma stand im Leerlauf mitten auf der Straße. Aus den geöffneten Türen des Laderaums führte das Kabel der Rohrinspektionskamera direkt ins Einstiegsloch. Trotz der frühen Uhrzeit waren bis auf Jimmy alle Arbeiter nach Hause geschickt worden. Abgesehen von dem einen oder anderen Vogel, der zufällig vorbeiflog, lag eine lähmende Stille über der Baustelle. Die Siedlung aus blitzblanken, neuen Häusern sah in der Sonne des späten Vormittags aus wie eine Geisterstadt vor einem Atombombentest, die auf die Detonation wartet.
Im Van saßen Mike und Andrés mit dreckigen Hosen und lehmverschmierten Gesichtern neben der Kabelrolle und verfolgten auf einem kleinen Schwarzweiß-Monitor die Bilder – eine körnige, endoskopische Ansicht dunkler Rohre. Die Kabelrolle neben ihren Köpfen drehte sich mit langsamem Summen, während die Kamera unter der Erde weiterkroch und ihre Aufnahmen übertrug, die so gleichförmig waren, dass sie wie eine einzige Endlosschleife wirkten. Meter um Meter PVC-Rohre, die sich unter dem Hügel, den Straßen und den Häusern erstreckten, kamen zum Vorschein.
Das Licht vom Bildschirm flackerte über die Gesichter der beiden Männer. Ihre leblosen Mienen blieben unbeweglich.
Jimmy kam aus dem Einstiegsloch nach oben. Auf seiner dunklen Haut glänzte der Schweiß, als er durch die offenen Hintertüren in den Van spähte. »Sind wir fertig?«
Mike nickte, aber sein Blick war meilenweit entfernt. Er konnte mit Mühe und Not die Worte aufnehmen. »Danke, Jimmy. Du kannst jetzt gehen.«
Der Bauarbeiter zuckte mit den Schultern und trollte sich. Einen Moment später sprang ein Motor mit vertrautem Grollen an, dann hörten die Männer, wie Jimmy in Mikes altem Auto davontuckerte.
Schließlich ergriff Mike mit brüchiger Stimme das Wort: »PVC ist das Allerschlimmste. Die Chemikalien gehen in den Boden über und verunreinigen das Grundwasser, das wiederum ins Meer gelangt. Man hat Rückstände davon in Walspeck gefunden. Und sogar in der Muttermilch der Inuit, verdammt.«
Andrés lehnte resigniert den Kopf gegen die Wand des Vans.
»Wie viel würde es kosten?«, fragte Mike.
»Jetzt machst du aber Witze, oder?«
»Wie viel würde es kosten, das zu korrigieren? Das PVC gegen die Rohre aus geziegelten Lehm auszutauschen?«
»Mike, die Rohre liegen nicht bloß unter der Straße. Die verlaufen auch unter den Häusern.«
»Ich weiß, wo hier überall Rohre verlaufen.«
Andrés saugte an seinen Zähnen und schaute weg.
Mike spürte einen dumpfen Schmerz am Kiefergelenk und merkte, dass er die Zähne mahlend aufeinandergepresst hatte. Die Häuser noch einmal abzureißen, wäre der absolute Alptraum. Sie waren bereits verkauft. Viele Familien hatten dafür ihre alten Häuser und Wohnungen bereits aufgegeben. Familien mit mittlerem Einkommen, die sich Mietschulden oder einen längeren Hotelaufenthalt nicht leisten konnten. Verdammt, das war ihm an diesem Unternehmen so wichtig gewesen – er wollte Familien zu schönen Häusern verhelfen. Viele Häuser hatte er nicht denen gegeben, die das höchste Gebot abgegeben hatten, sondern Menschen, die sie wirklich brauchten – wie alleinerziehenden Müttern oder Arbeiterpärchen.
»Wie ist es möglich, dass du das nicht bemerkt hast?«, fragte Mike.
»Ich? Du selbst hast den Unternehmer doch bestellt, der das gemacht hat. Vic Manhan. Der Typ ist mit seinen dreißig Arbeitern hier angerückt und hat das Ganze in den Weihnachtsferien runtergerissen. Weißt du nicht mehr? Du warst total begeistert.«
Mike starrte feindselig zu seinem Ford hinüber. Ein Pick-up für 55000 Dollar – was zum Teufel hatte er sich eigentlich eingebildet? Ob der Händler den wohl zurücknahm? Sein Ärger wuchs, und dann brannte ihm die Sicherung durch. »Hast du Manhans Nummer da?«, fragte er.
Andrés scrollte durch das Adressbuch seines Handys, drückte auf »Wählen« und reichte Mike das Telefon.
Während es klingelte, fuhr sich Mike mit einer schmutzigen Hand durchs verschwitzte Haar und versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Hoffentlich hat dieser Wichser eine anständige Versicherung. Mir ist nämlich egal, was das kostet. Dem werde ich so viele Prozesse anhängen, wie ich nur kann …«
»Kein Anschluss unter dieser Nummer. Kein Anschluss unter dieser …«
Mikes Herz machte irgendwas Seltsames in seinem Brustkorb.
Er legte auf. Klickte selbst in Andrés’ Adressbuch herum. Versuchte es auf Manhans Handy.
»Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben …«
Mike pfefferte das Handy an die Wand des Vans. Andrés sah ihn an, bückte sich langsam, hob sein Telefon auf und betrachtete das Display, um festzustellen, ob es noch funktionierte.
Mike atmete schwer. »Ich hab seine verdammte Lizenz selbst überprüft.«
»Dann überprüf sie lieber noch mal«, sagte Andrés.
Mike, dem das Hemd schweißnass am Leibe klebte, machte eine Reihe von Anrufen und notierte sich jede neue Nummer auf der Rückseite eines Briefumschlags. Bald war die Situation klar. Vic Manhans Lizenz war vor fünf Monaten ausgelaufen, kurz nachdem er den Auftrag für Mike abgeschlossen hatte. Seine Haftpflichtversicherung hatte er kurz zuvor auslaufen lassen, er war also nicht versichert gewesen, als er die PVC-Rohre verlegt hatte. Die Versicherungspolicen, die er Mike vorgelegt hatte, waren demnach gefälscht. Was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass es kein Geld geben würde, um den Schaden zu beheben.
Zum ersten Mal seit langem dachte Mike an Gewaltanwendung, das Krachen von Fingerknöcheln auf Nasenknorpel, und er dachte: Wie schnell man doch in alte Muster zurückfällt. Er senkte den Kopf, griff sich mit den Fäusten ins Haar und drückte zu, bis es weh tat.
»So überrascht kannst du doch auch nicht sein, dass du das PVC gefunden hast«, meinte Andrés.
»Scheiße, was redest du da? Natürlich bin ich überrascht.«
»Ach komm. Verziegelter Lehm ist schwerer als Gusseisen. Teurer in der Herstellung, beim Transport und bei der Installation. Was hast du eigentlich gedacht, wie Manhan es anstellen sollte, die Konkurrenz mit seinem Angebot um ganze dreißig Prozent zu unterbieten?« Die braune Haut an Andrés’ Schläfen legte sich in kleine Fältchen. »Vielleicht wolltest du es nicht wissen.«
Mike blickte auf seine rauhen Hände hinab.
»Hier ziehen vierzig Familien ein. Noch diese Woche!«, sagte Andrés. »Selbst wenn du das ganze Geld ausgeben willst, um die Rohre zu ersetzen, wie stellst du dir das vor? Willst du mit dem Presslufthammer durch ihre ganzen Häuser? Und durch die Straßen?«
»Ja.«
Andrés zog eine Augenbraue hoch. »Um diese Rohre gegen andere Rohre auszutauschen?«
»Ich habe es unterschrieben«, sagte Mike. »Mit meinem Namen. Ich habe garantiert, dass ich Rohre aus verziegeltem Lehm anstelle von PVC verlege. Mit meinem Namen.«
»Du hast nichts falsch gemacht. Dieser Typ hat uns beschissen.«
Mikes Stimme war heiser. »Diese Häuser sind auf einer Lüge gebaut.«
Andrés zuckte müde mit den Schultern. Er kletterte stöhnend aus dem Van, und Mike folgte ihm. Sein ganzer Körper fühlte sich verspannt an.
Die beiden Männer standen sich gegenüber und blinzelten in die jähe Helligkeit wie Neugeborene. Der Canyon öffnete sich vor ihnen, schön und steil und mit Salbeisträuchern bewachsen. Die klare, scharfe Luft schmeckte nach Eukalyptus. Das Grün der Dächer passte perfekt zum Grün der Sumach-Sträucher auf den Hängen, und als Mike blinzelte, verschwamm alles ineinander.
»Niemand muss etwas davon wissen«, sagte Andrés. Er nickte einmal, als müsste er etwas bestätigen, dann ging er zu seinem Auto.
»Ich weiß es aber«, sagte Mike.