57

Zeit wurde eine verschwommene Bewegung, chaotisch durcheinanderwirbelnde Bilder. Eindrücke fluteten ihm durch den Kopf. Ein Haus in einer schattigen Nebenstraße, ein Spielplatz mit Klettergerüsten, ein ausgeblichenes lachsrosanes Hemd, das gelbe Kissen, das nach Katzenpisse riecht, und er, wie er seine Ellbogen aufs Fensterbrett stützt und wartet. Mike Doe am Erkerfenster wurde zu Katherine Smith am Erkerfenster. Mein Dad kommt zurück.

Jetzt hast du’s mir geschworen. Du hast es geschworen.

Eine Filmrolle drehte sich in seinem Kopf, ein Bandwurmsatz, der das Leben seiner Tochter zusammenfasste.

… ihre Faust, eine Stunde alt, die seinen kleinen Finger umklammert. Wo ist meine kleine Ka-the-rine?, in den Schlaf schaukeln zu den Na-na-nas aus »Hey Jude«, die Bewegungen ihrer kleinen Babyzunge, das einschläfernde Geräusch der Milchpumpe um Mitternacht, der rote Luftballon, wie sie sich an sein Bein klammert, wie sie die Arme nach ihm ausstreckt, damit er sie hochhebt, wie er sie anschaut …

… das Sonnenlicht durch die Windschutzscheibe, so stark, dass er seine Augen nur mit äußerster Mühe offen halten …

… ein Handabdruck in Gips, das schhhh-Geräusch, als sie ihm imaginären Tee eingießt, der Geruch von Babyshampoo, wie sie mitten im Supermarkt umfällt und er sich hilflos mit ihren schlaffen Armen abmüht, als wollte er Wasser hochheben, wie sie weint, als sie zum ersten Mal sieht, wie sich Annabel die Haare schneiden lässt, der Kinositz, der unter ihren winzigen Beinen immer wieder hochklappt, bis sie ihn mit den Händen nach unten drückt, wie sie sich die Augen zuhält, wenn der Teekessel pfeift, wie sie in seinen Turnschuhen, in Annabels High Heels, in seinen Stiefeln herumläuft und …

… der Kombi war von der Straße abgekommen und kam zum Stehen, und Mike wurde nach vorn geschleudert und schlug sich die Lippen am Lenkrad an. Er schaute an sich herunter und sah durch den Riss in seinem T-Shirt ein glänzendes Stück von seiner Rippe in dem ganzen blutigen Matsch. Die Haut rundherum war fischartig weiß. Er machte die Augen wieder zu und träumte davon, wie schön es wäre, einfach so zu bleiben.

Du kommst zurück und holst mich.

Ich komm zurück und hol dich.

Er legte die Hände aufs Lenkrad und richtete sich mit letzter Kraft auf. Er schauderte, sein Fleisch schauderte. Mit äußerster Willensanstrengung brachte er seinen Arm dazu, sich zu bewegen, den Rückwärtsgang einzulegen. Der Kombi holperte rückwärts aus dem Graben und auf die Straße. Mike blinzelte sich zähneknirschend den Schweiß aus den Augen, holte pfeifend Luft und …

… dann ist sie fünf, sie springt Seil, lächelt ihn an, die Eckzähne fehlen, das lavendelfarbene Nachthemd mit dem strapazierten Bügelbild der Disney-Prinzessin, in dem sie schläft, bis es fast auseinanderfällt, wie sie das erste Mal den Zettel aus ihrem chinesischen Glückskeks selbst lesen kann, die runde Brille mit dem roten Gestell, die Frühlingsferien, in denen sie nichts als Lakritze essen will, Orangen zur Halbzeit. Jetzt hast du’s mir geschworen. Du hast es geschworen.

… eine Hupe ertönte und riss ihn zurück in die Wirklichkeit, aber bevor er schlaff den Arm heben konnte, hatte ihn der andere Fahrer wütend umfahren und ließ ihn hinter sich. In einem kurz aufflackernden Bewusstseinsblitz merkte er, dass er ungefähr zehn Stundenkilometer fuhr, und er bemühte sich krampfhaft, seinem Fuß ein Signal zu senden, dass er aufs Gaspedal treten sollte. In den letzten paar Minuten war der Schmerz zeitweise schon Taubheit gewichen. Sein Fleisch fühlte sich so hart und kalt an, als wäre es aus Eis. Vage war ihm bewusst, dass auf dem Rücksitz die losen Kopien herumflatterten. Mike riss am Lenkrad und korrigierte den Kurs des Kombis. Die Straße sah jetzt breiter aus, wie eine richtige Straße. Die Sonne stand inzwischen ein bisschen höher am Himmel. Gnadenloses Stechen in seinen Fingerspitzen, sein Atem ging flach und leise, die Atemzüge eines Neugeborenen.

Er schloss die Augen zu einem kurzen Gebet, aber dann wird er plötzlich wie durch Zauberei in die Zukunft geschleudert. Er sieht die Zukunft, und sie ist jetzt. Sie entgleitet ihm, so zerbrechlich und flüchtig, wie ein Schmetterling, und …

… da steht sie bei der High-School-Abschlussfeier, das Friedenszeichen ist auf ihrem Oberteil aufgestickt, sie tritt aufs Podium und schüttelt dem Direktor die Hand, und dann der Abend ihrer Hochzeit, eine Rede von ihrer kleinen Schwester, oder vielleicht von einem Bruder, Annabel drückt ihm unter dem Tisch die Hand, und die ersten Töne des Liedes, das die Braut mit ihrem Vater tanzt, er steht auf, an den umstehenden Tischen gehen die Kameras hoch, und da steht sie, seine Tochter, ganz in Weiß, er ergreift ihre behandschuhte Hand und …

Der Aufprall warf ihn gegen das Armaturenbrett, und er riss erschrocken die Augen auf. Er rollte zur Seite, seine Stirn hinterließ eine blutige Spur an der Scheibe. Er bemerkte die sauberen kleinen Häuschen mit den gepflegten Vorgärten, die in gleichmäßigen Abständen neben der Straße standen, und vor denen ältere Herrschaften mit gelben Poloshirts und beigen Gesundheitsschuhen standen und auf ihn zeigten.

Durch die wabernde Wand aus Dampf, die aus dem zerknautschten Kühler aufstieg, sah er die nur ganz leicht eingedellte Stucksäule vor dem Seniorenclub, und ihm wurde klar, dass er höchstens noch fünf Stundenkilometer gefahren sein konnte. Das Auto war ein paar Meter hinter dem Tor in einem Busch gelandet – das traurige kleine Ende einer Slow-Motion-Reise.

Kopien eines Bilanzbuches zogen wie im Traum an seinem Gesicht vorbei und legten sich aufs Armaturenbrett. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich. »Hilfe«, sagte er zu der Dampfwand.

Da hörte er Pfiffe und Schritte, das Rattern einer Bahre, und auf einmal war ein Ärzteteam bei ihm, half ihm vom Fahrersitz, zog an seinen Armen und überschüttete ihn mit Fragen.

»Da hat er eine Wunde unter den Rippen, seht ihr das?«

»Sind Sie angeschossen worden oder stammt das von einem Messer?«

»Wie heißen Sie?«

»Haben Sie irgendwelche Allergien?«

»¿Hablas español? ¿Te pegaron un tiro o te apuñalaron?«

»Wir müssen ihn umdrehen. Können Sie bitte Ihre Arme auf der Brust falten?«

» … kann nicht …« Er zwang sich zum Sprechen. »Ich darf nicht sterben … Sie verstehen nicht … Meine Tochter … Katherine Wingate …«

»Bewegen Sie sich nicht. Überlassen Sie das uns.«

»Haben Sie hier Schmerzen? Hier? ¿Dolor aquí?«

»Zehnte Rippe, mittlere Axillarlinie. Wir brauchen Blutkonserven.«

Er hörte, wie man die kläglichen Überreste seines Hemdes zerriss, dann wurden ihm EKG-Elektroden auf die Brust geklebt. Er merkte, dass der Druck unter seinem Kinn von einer Halskrause herrührte »… in einem Pflegeheim … Sie müssen mich wieder auf die Beine bringen …«

Seine Stimme war so heiser und schwach, dass er sie selbst kaum hören konnte.

»Machen Sie den Mund auf.«

»Tief einatmen. Und noch mal.«

Jetzt rollte man ihn durch einen Flur, vorbei an verblüfften Seniorengesichtern und getrimmten Blumenbeeten. Sie kamen am Hintereingang vorbei, ein Schild glitt vorüber und verkündete fröhlich: ZENTRUM FÜR AKTIVES LEBEN – EIN NEUER ANFANG! Die Smiley-Sonne zwinkerte ihm zu.

»Gib ihm sechs Milliliter Morphin.«

»… damit ich zu ihr kann … Sagen Sie ihrer Mutter … Annabel … Jocelyn Wilder heißt sie …«

»Jetzt gibt es einen kleinen Piks, bitte nicht erschrecken. So.«

Der Luftstrom aus der Klimaanlage auf seinem Gesicht. Die Deckenlampen flogen über ihm vorbei, eine nach der anderen.

»Er ist tachykard und hypertensiv und hat eine abdominelle Blutung. Er muss sofort in den OP. Wer hat Dienst?«

Mike wurde jetzt immer leiser. »Meine Tochter … in einem Versteck … Sagen Sie meiner Frau … Annabel Win … gate …«

»Dr. Nelson ist gerade mit der gebrochenen Hüfte beschäftigt.«

»Er hat eine Menge Blut verloren. Ich weiß ja nicht.«

»… darf nicht sterben … bevor …«

»Sollen wir noch ein CT machen?«

»Dafür haben wir keine Zeit mehr – der verblutet dir im Scanner.«

Ein kräftiger Pfleger beugte sich über ihn und schob einen seiner Finger in Mikes linke Hand. »Drücken Sie bitte mal meinen Finger. Drücken. Ja, so ist es gut, sehr gut.«

Mike konzentrierte sich nur noch darauf, die Worte auszusprechen, die Laute mit den Lippen zu bilden: »… Jocelyn Wilder … Parker, Arizona … Sagen Sie … meiner Frau …«

Der Pfleger beugte sich näher zu ihm herab. »Wie war das, Kumpel? Was soll ich Ihrer Frau sagen?«

Unsere Tochter ist bei Jocelyn Wilder in Parker, Arizona.

Kurz bevor die Zeit zum Stillstand kam, wurde Mike klar, dass er die Worte nur gedacht, aber nicht mehr ausgesprochen hatte.