58
Die Stimme war verzerrt, als würde Mike unter Wasser hören. »Wo ist Katherine?«
»Das werde ich euch niemals verraten. Fickt euch«, murmelte er.
»Das ist ja mal ein richtig Netter«, sagte eine andere Stimme. Dann versank er unter der nächsten schwarzen Woge.
Diesmal spürte er die Matratze unter sich.
»… die Presse hat sich total in diese Story verbissen«, hörte er Sheps Stimme. »Der Staat hat dich per Hubschrauber ins Cedars-Sinai Med Center transportieren lassen. Annabel auch. Ihr bekommt die beste Pflege, die man mit Geld kaufen kann – diese Wichser haben Mordsangst vor einer Klage. Sie sind erleichtert, dass ihr alle noch am Leben seid. Sieht so aus, als wäre bei dir eine Nierenader durchtrennt worden. Was? Ja ja, okay, eine Nierenvene. Hat stark geblutet, aber nicht so stark wie bei einer Arterie. Hast du wohl noch mal Glück gehabt, was?«
Mike versuchte seine Lippen zu bewegen, aber sie wollten ihm nicht gehorchen.
»Das FBI hat den Schrottplatz durchsucht und die Überreste deiner Eltern in zwei von den Schrottautos gefunden. McAvoy ist in U-Haft. Sieht ganz so aus, als wäre er geliefert.«
»Er kann Sie nicht hören«, sagte jemand.
»Doch«, sagte Shep. »Das kann er.«
Jetzt waren seine Augen offen, wenn auch bloß einen Spalt, und er sah nur verschwommen. Seine Zunge war so geschwollen, dass sie ihm beim Sprechen im Weg war. Irgendetwas Metallenes zwickte ihn in den Bauch. Über ihm schwebte ein gebräuntes Gesicht und sagte: »Herzlichen Glückwunsch, Mr. Wingate. Sie haben soeben ein Casino geerbt, das nach den Regelungen des Indian Gaming Act sämtliche Arten von Glücksspiel anbieten darf.«
»Mmm«, machte Mike.
»Sie werden mit sofortiger Wirkung eingestellt, mit einem Einstiegsgehalt von drei Millionen.«
»Im Monat«, kam Sheps Stimme von irgendwo. »Und der jährliche Gewinnanteil? Der hat mehr Nullen, als auf einen Scheck passen.«
Mike konnte jetzt die Umrisse von Shep ausmachen, der am Fußende seines Bettes stand.
»Rate mal, wer mittlerweile zum führenden Experten in Glücksspielgesetzgebung geworden ist.« Shep schnipste mit dem Nagel gegen einen Gegenstand, den Mike nach einer Weile als taupefarbene Visitenkarte identifiziert hatte. Sheps Gesicht kam kurz in sein Blickfeld, lang genug, dass Mike den schiefen Schneidezahn sehen konnte. »Kannst du dich noch an diesen teuren Anwalt erinnern, den Two-Hawks mir gestellt hatte?«
Mike betrachtete den Mann, der vorhin mit ihm gesprochen hatte, aber er konnte ihn nur in Einzelteilen wahrnehmen – ein sonnenverbranntes Gesicht, Gürtelschnalle aus gehämmertem Sterlingsilber mit eingelegten Türkisen, Wildlederjacke mit Fransen an den Schultern. Der Mann nickte feierlich und eine Spur von Schalkhaftigkeit trat in seine Augen, als er sagte: »Häuptling Two-Hawks freut sich auf eine lange Ära des Wohlstands und des Friedens zwischen unseren Stämmen.«
Dann verschwamm die Szenerie wieder vor Mikes Augen, und eine scharfe Frauenstimme sagte: »Sie dürfen hier gar nicht drin sein.«
Während Mike in seine Benommenheit zurücksank, hörte er noch einmal Shep: »Was?«
Als er das nächste Mal aufwachte – richtig aufwachte – hatte er nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Katherine.
Er setzte sich abrupt auf, aber ein glühend heißer Speer durchbohrte seine Eingeweide und warf ihn zurück auf seine stützenden Kissen.
Es war schon qualvoll, bloß den Kopf zu drehen, aber er warf trotzdem einen Blick an sich herunter. Sein Krankenhausgewand gab den Blick frei auf ein Bahngleis aus Wundklammern, das unter seinem Bauchnabel begann und bis zum Brustbein führte. Die Wundränder waren rosa-lila. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass dieser Schnitt für immer an seinem Körper sichtbar bleiben würde. An seiner Seite war mit Tape eine große Mullkompresse befestigt worden. Mit einem gewissen Bangen hob er sie an. Die Stichwunde war sauber verschlossen, winzige schwarze Fäden staken heraus wie Katzenschnurrhaare. Die Haut darunter war mülltütenschwarz. Er hätte nicht geahnt, dass Haut so eine Färbung annehmen kann.
»Sie mussten Sie aufschneiden.« Die Stimme kam ganz überraschend vom anderen Ende des Zimmers.
Ein Mann saß auf einem Besucherstuhl und zupfte sich einen Fussel von seinem gebügelten Hosenbein. Um den Hals hatte er eine fest gebundene rote Krawatte. Mike erkannte das glattrasierte Gesicht wieder, aber er brauchte ein paar Sekunden, bis er den Mann als Bill Garner identifiziert hatte – den Stabschef des Gouverneurs. Er bemerkte auch, dass außer ihm niemand im Zimmer war.
»Sie mussten die Blutung zum Stillstand bringen, Ihre Leber und Därme checken und so weiter«, fuhr Garner fort. »Sie haben ein paar Tage immer wieder das Bewusstsein verloren. Ich glaube, Sie erholen sich ziemlich gut, aber Sie werden trotzdem noch sehr viel …«
Mike versuchte sich wieder aufzusetzen und schrie auf.
» … Schmerzen haben.«
Mike drehte den Kopf zur Seite. Die Tür stand offen, er sah Schwestern und Patienten über den Korridor laufen. Auf seinem Nachttischchen lagen blutdurchtränkte Verbände in einer Bettpfanne. Mike, der immer noch den Schock vom Anblick seiner OP-Narbe verdauen musste, versuchte Erinnerungen aus den trüben Wassern der letzten Tage zu fischen. Shep war hier gewesen. Und Two-Hawks’ Anwalt. Da war irgendwas gewesen, dass der Staat eine Klage fürchtete … Ja, genau, jetzt erinnerte er sich wieder.
Er schwang die Beine stöhnend aus dem Bett und zog sich dabei den Sauerstoffschlauch aus der Nase. Er entfernte die Infusionsnadel aus seinem Arm und rupfte sich störendes Tape vom Oberarm.
»Das würde ich lieber nicht machen«, sagte Garner. »Da draußen läuft ein Dragoner von einer Krankenschwester rum, die alles und jeden ankeift.«
Mike stand auf und schwankte leicht, bevor seine Beine ihn trugen. »Haben sie Hanks Leiche gefunden?«
Er hielt sich das Krankenhaushemd zu, während er vorsichtig auf die Tür zuging. Garner folgte ihm. »Ja«, sagte er. »Das Los Angeles Police Department ist auf dem Kriegspfad – das war einer von den ihren. Parker Center, FBI – alle werden da mit reingezogen.«
»Das kann ich gut verstehen.«
»Auf den ersten Blick sah Hank Danville vielleicht nicht besonders beeindruckend aus, aber innerhalb des Polizeikorps genoss er hohes Ansehen.«
Mike blieb zum ersten Mal stehen und sah Garner an. »Und das mit Recht.«
»Und bei der Beweislage …« Garner atmete so heftig aus, dass sein Pony kurz nach oben flatterte. »Brian McAvoy könnte sich die Giftspritze genauso gut selbst setzen. So einen wasserdichten Fall hat es seit O.J. Simpson nicht mehr gegeben.« Er kratzte sich die Nase. »Okay, das war jetzt ein Witz.«
»Entschuldigung«, sagte Mike, »aber ich würde gern noch mal auf Hank zurückkommen.«
»Sie werden Gelegenheit bekommen, sich richtig zu verabschieden. Das Los Angeles Police Department plant eine ganz große Sache, mit Begräbnisfeierlichkeiten und allem Pipapo. Er tritt als Held ab.«
Mike traute seiner Stimme nicht recht, deswegen nickte er nur und hielt weiter auf die Tür zu.
»Sie sollten wirklich nicht aufstehen«, sagte Garner.
»Ja, so fühlt es sich auch an«, sagte Mike. »Wo finde ich meine Frau?«
»Den Korridor runter.«
»Und Shep?«
»Ich bin sicher, der ist hier irgendwo in der Nähe. Er ist seit seiner Freilassung nie allzu weit von Ihrer Seite gewichen.«
Mike lehnte sich schwer atmend an den Türrahmen. »Seit seiner Freilassung?«
»Gegen ihn wurde ermittelt«, erklärte Garner. »Ihr Anwalt hat die Aufnahmen aus der Überwachungskamera von Grahams Haus eingereicht, zusammen mit den ganzen anderen Dokumenten. Das Ganze ist ein Saustall allererster Güte, aber wir haben den Staatsanwalt überzeugen können, dass Ihnen sowohl im Staat Kalifornien als auch in den gesamten Vereinigten Staaten komplette Straffreiheit zugesichert wird, wenn Sie dafür im Fall Brian McAvoy wahrheitsgemäß aussagen und kooperieren. Ich wiederhole: Man sichert Ihnen komplette Straffreiheit zu.«
»Soll heißen, ich verklage den Staat also auch nicht«, sagte Mike. »Ich nehme an, deswegen sind Sie so nett, mich im Krankenhaus zu besuchen. In einem stillen Krankenhauszimmer, bevor irgendjemand anders mit mir sprechen kann.«
Garner setzte eine gelangweilte Miene auf. »Natürlich ist man bereit, gewisse Zugeständnisse an Sie zu machen, in Anbetracht der … Irrtümer im frühen Stadium der Ermittlungen. Aber irgendjemand muss sich auch für die Verbrechen verantworten, die Shepherd White und Sie auf Ihrem Weg begangen haben.«
»Sie brauchen also einen Sündenbock.« Mike kräuselte die Lippen.
»Da wurden schon so einige Gesetze gebrochen. Autodiebstahl, Körperverletzung, Raubüberfall, die Ermordung eines wichtigen Polizisten nachts in seinem Schlafzimmer. Auf der einen Seite stehen Sie, ein Familienvater, ein angesehenes, ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft. Auf der anderen Seite ein verurteilter Verbrecher. Irgendjemand muss den Schuss vom Balkon abgegeben haben.«
»Graham war ein Stück Scheiße, der selbst unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatte.«
»Die Sache könnte wesentlich unkomplizierter verlaufen, wenn es der Öffentlichkeit nicht so verkauft wird.«
»Unkomplizierter für wen?« Mike setzte sich wieder in Bewegung.
»Moment mal, Mike.« Garner legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Sie könnten im Gefängnis landen. Das ist kein Witz. Überlegen Sie sich lieber ganz genau, was Sie hier machen.«
Mike streifte Garners Hand ab. »Im Casino in McAvoys Trophäenschrank hängt ein Bild von Ihrem Boss. Er war sogar so nett, es zu signieren – ›Für das Deer Creek Casino – meine Freunde und Freunde Kaliforniens‹. Sie haben fuderweise indirekte Zuwendungen von einem Typen angenommen, der seine Gegner über Generationen hinweg ohne jegliche Skrupel getötet hat. Während die Polizei, die Staatsanwälte, Richter und – ja, auch der Gouverneur – schön weggeschaut haben.«
»Bitte, sprechen Sie doch etwas leiser.«
»Ich will Ihnen mal was sagen: Shep wird nicht nur nicht verurteilt werden für diese sogenannten Verbrechen. Vielmehr gebe ich dem Gouverneur vierundzwanzig Stunden, um eine generelle Straffreiheit auszusprechen, oder er kann die letzten Wochen seiner Wahlkampagne damit zubringen, der Öffentlichkeit zu erklären, warum er nicht für seine korrupte Polizeitruppe verantwortlich ist, und inwiefern die Hunderte von Millionen Dollar, die McAvoy ins Staatsbudget gepumpt hat, nichts damit zu tun haben, dass er mit seinen zahllosen Morden jahrzehntelang ungestraft davongekommen ist.«
Mike trat in den Flur, und Garner eilte neben ihm her.
»Wir können Ihnen das Leben immer noch extrem schwer machen«, versuchte es Garner.
»Sie haben ja keinen Schimmer, was ›schwierig‹ bedeutet.«
Zwei Polizisten näherten sich hastig, doch Garner winkte ab. Sie zögerten, zogen sich aber nicht zurück, und Mike fragte sie laut: »Bin ich verhaftet?«
»Sir, Sie dürfen das Zimmer nicht …«
»Bin ich verhaftet?«
Auf dem ganzen Flur erstarrte jegliche Bewegung. Die Polizisten sahen Garner an. Garner sah sie an. Sie blinzelten eine Weile, dann sagte einer der beiden Polizisten: »Nein.«
Mike ging weiter.
»Sie sind in einer großartigen Position«, sagte Garner, der weiter neben ihm herhastete und sich bemühte, möglichst nicht zu laut zu sprechen. »Ihre Familie und Sie haben sozusagen einen tausendfachen Lottogewinn gemacht.« Er stellte sich Mike in den Weg. »Sind Sie bereit, das alles wegzuwerfen, um Ihren verbrecherischen Kumpel zu schützen?«
»Er gehört zur Familie.«
Garner starrte ihn unverwandt an, nur seine Lippen spannten sich nervös.
Mike knirschte vor Schmerz mit den Zähnen. »Und jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg, verdammt.«
Garner überlegte kurz, dann kam er der Aufforderung nach.
Mike ließ ihn stehen und ging weiter den Flur hinunter. Von einem Karren schnappte er sich eine hellgrüne OP-Hose. Es war schmerzhafter als gedacht, sich eine Hose anzuziehen, aber die Wundklammern hielten, und schließlich war es ihm gelungen und er ließ seinen Kittel auf den Boden fallen. Jedes Husten, jede Drehung bedeutete einen weiteren Schmerzschub. Er versuchte, seine Bauchmuskeln möglichst zu schonen, indem er gebückt ging, aber auch so trat ihm noch das Wasser in die Augen. Mit nacktem Oberkörper ging er den Korridor entlang, blickte auf die Türen und die Namensschilder, und als er irgendwann vor Schmerz und Erschöpfung nicht mehr konnte, begann er einfach laut den Namen seiner Frau zu rufen.
Als er ihre schwache Antwort aus einem Gang um die Ecke hörte, wollte er sich in Trab setzen, wurde aber von einem glühend heißen Schmerz in seinem Bauch daran erinnert, dass er es doch lieber beim Schritttempo belassen sollte. Als er um die Ecke bog, sah er die Detectives Elzey und Markovic neben einer halb offenen Tür stehen. Elzey hatte einen Blumenstrauß in der Hand und überlegte wahrscheinlich gerade, wie viel Milde sie sich mit einer Handvoll Nelken erkaufen konnte, wenn Annabel ihre Aussage zu Protokoll gab. Als die Detectives Mike auf sich zuwanken sahen, mit finsterer Miene und zusammengeflickt wie eine Frankenstein-Billigversion, drehten sie verlegen ab und schlichen davon.
Die Hitze tobte auf seinem Gesicht, in seinem Brustkorb und in den beiden Schnittwunden, als Mike schließlich die Tür erreichte. Sie lag auf dem Bett. Ihre Haut war blass und glatt, ihr Haar klebte kraftlos an ihrem Kopf. Sie hob sich verlegen eine Hand vors Gesicht, aber die Hand erstarrte auf halbem Wege, und diese kleine, instinktive Geste zerriss ihm schier das Herz. Er klammerte sich an den Türrahmen und atmete tief, um den Schmerz zu überwinden, aber sie sahen sich an und tranken den Anblick des anderen in sich hinein. Ihr Vater verschwand aus dem Zimmer wie ein Geist, bevor Mike seine Gegenwart überhaupt bemerkt hatte. Mike konnte die Augen nicht von ihr losreißen, konnte sich nicht einmal bewegen, er war wie erstarrt vor Schmerz und Ekstase.
»Du hast dir die Haare geschnitten«, sagte Annabel.
Sie lächelte, aber in der nächsten Sekunde brach sie in Tränen aus, und dieser Anblick löste seine Starre. Er drückte sein Gesicht an ihr Haar, atmete sie ein, und ihr Geruch war noch wahrnehmbar, wenn auch überlagert von Jod und getrocknetem Schweiß. Plötzlich stand eine Schwester neben ihm, die aufgeregt auf sie einredete, aber er nahm ihre Worte gar nicht wahr.
Annabels Finger schwebten über seinen Narben, und er zog ihren Krankenhauskittel beiseite, um ihre verletzte Haut und ihre Narbe zu begutachten. Er fühlte sich hilflos und dankbar und zornig, die Emotionen tobten in ihm wie ein Tornado.
Annabel wandte ihm ihr bleiches Gesicht zu, und er strich ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. »Komm, wir holen unsere Tochter«, sagte er.
In diesem Moment meldete sich die Schwester mit voller Lautstärke zu Wort: »Sie gehen überhaupt nirgendwo hin mit ihrer verletzten Arterie, Mrs. Wingate.« Sie fuhr herum und wandte sich an Mike. »Und Sie. Sie gehen mal schön zurück in Ihr Zimmer und nehmen die Horizontale ein. Außerdem kriegen Sie gleich Ihr Oxycodon.«
»Geht nicht«, sagte Mike. »Ich muss noch Auto fahren.«
»Auto fahren?«
»Geh«, sagte Annabel.
Er küsste sie zärtlich auf den Mund und verließ das Zimmer.
Shep wartete auf dem Flur. Wie er so mit zusammengesackten Schultern an der Wand lehnte, sah er aus wie ein Bilderbuchgangster aus Chicago.
»Kannst du mir ein paar Ibuprofen besorgen?«, fragte Mike.
»Wie viel?«
»Eine Million Milligramm.«
Shep legte ihm eine Hand auf den Rücken, und sie gingen zum Fahrstuhl. »Hast du ein Auto?«, fragte Mike.
»Was für eins möchtest du denn?«
»Nein, Shep. Ich möchte mir dein Auto leihen.«
Shep zog die Schlüssel aus der Tasche. »Aber bitte dran denken: Das ist kein alter Pinto.« Er drückte Mike den Autoschlüssel in die Hand. »Wollte ich nur gesagt haben, bei den ganzen Unfällen, die du in letzter Zeit gebaut hast.«
Shep lehnte sich über den Tresen und schnappte sich eine Packung Schmerztabletten aus dem Regal. Mike schluckte sechs Tabletten ohne Wasser, und Shep schob ihm die Packung in seine Chirurgenhose, zusammen mit einem anderen Gegenstand. Mike blickte an sich herab, sah den weißen Pelzarm aus der Tasche ragen und lächelte.
Als sie mit dem Fahrstuhl hinunterfuhren, deutete Shep mit einem Nicken auf Mikes übel zugerichteten Oberkörper. »Was du alles für deine Familie getan hast …« Er schüttelte bewundernd den Kopf.
»Alter Trottel«, sagte Mike. »Das hab ich doch von dir gelernt.«
Die Türen gingen auf, sie durchquerten die Lobby, und als sie draußen in der frischen Brise standen, fiel Mike wieder auf, dass er dummerweise immer noch kein Oberteil anhatte.
Der 67er Shelby Mustang stand auf dem Parkplatz, der Lack war auf Hochglanz poliert, und der breite Kühler grinste ihn höhnisch an.
»Vollgetankt und startklar«, sagte Shep.
Ein Auto hielt vor dem Krankenhaus, und ein weißhaariger Mann im Leinenanzug stieg rasch aus, winkte Mike zu und eilte auf die beiden Männer zu. Er musste sehr schnell gehen, um mit ihnen Schritt zu halten
»Mr. Wingate?«, fragte er. »Ich bin sofort hergekommen, um Ihnen mein Mitgefühl in dieser schrecklichen Situation auszusprechen.«
»Und Sie sind …?«, erkundigte sich Mike.
»Nachdem Brian McAvoy für seine ungeheuerlichen Verbrechen verhaftet worden ist, bin ich der Oberste Treuhänder von Deer Creek Tribal Enterprises Inc. Und ich komme im Auftrag unseres Gremiums, um Ihnen mitzuteilen, dass wir über Mr. McAvoys Fehltritte definitiv nicht im Bilde waren. Und dass wir uns am Ende ihres Lebens um Ihre Urgroßmutter gekümmert haben. Ich kannte sie sogar persönlich. Es hat ihr an nichts gefehlt. Wenn wir Ihnen in dieser Übergangsphase irgendwie helfen können oder Sie irgendetwas brauchen sollten …«
»Ja«, sagte Mike. »Ich brauche ein Hemd.«
Dem Mann sackte der Unterkiefer etwas herab und sein weißer Schnäuzer hing ihm über die Oberlippe
»Geben Sie mir Ihr Hemd«, bat Mike.
Der Mann zwang sich zu einem Lächeln. Nachdem Shep ihm aus seiner Jacke geholfen hatte, lockerte er seine Krawatte, knöpfte sein Hemd auf und gab es Mike.
Mike zog es mit schmerzverzerrtem Gesicht an und begann die Knöpfe durch die Knopflöcher zu zwängen. »Danke. Sie sind gefeuert, alle miteinander.«
Shep und er setzten ihren Weg zum Mustang fort.
»Aber Sie brauchen uns«, rief der Mann ihm nach. »Wer soll denn das Casino leiten?«
Mike rief über seine Schulter zurück: »Darüber müssen Sie mit meinem Geschäftsführer sprechen.«
Der Mann, der sich die Anzugjacke über den nackten Oberkörper gezogen hatte, kletterte wieder in sein dunkles Auto, und es fuhr langsam davon. Als die beiden vor dem Mustang standen, fuhr Mike mit dem Finger über den einen Rallyestreifen.
»Dein Geschäftsführer?«, fragte Shep.
Mike neigte den Kopf langsam in Sheps Richtung.
»Ach so?«, sagte Shep. »Wie viel?«
»Wie viel willst du denn?«
»Kann ich dann trotzdem noch Dinger drehen?«
»Nein.«
»Ich werd drüber nachdenken.«
Mike öffnete die Tür, und Shep fasste ihn bei den Händen und half ihm, sich langsam auf den Schalensitz herabzulassen. Shep warf ihm ein Bündel Geldscheine und sein Handy – das letzte überlebende Batphone – ins Auto. Mike legte beides neben die Handbremse und machte die Tür zu. Der Motor erwachte heulend zum Leben, doch bevor Mike aus der Parklücke setzen konnte, klopfte Shep noch einmal an die Scheibe.
Als Mike das Fenster herunterkurbelte, sagte Shep: »Die Leute behaupten doch immer, dass Rache keine Probleme löst. Aber hat es sich nicht doch gut angefühlt, als du sie umgebracht hast?«
»Doch«, sagte Mike und fuhr los.