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Kurz vor sechs Uhr abends fuhr Eric Cavendish in seinem Mercedes eine Straße in Chelsea hinunter, die zu Godfris Atelier in der umgebauten Garage führte. Wie in allen Seitenstraßen Londons war die Bordkante von einer ununterbrochenen Reihe parkender Wagen gesäumt, in denen der Chauffeur hoffnungsvoll nach einer Lücke suchte.

»Bleiben Sie hier einen Augenblick in zweiter Spur stehen«, wies ihn der Schauspieler an. »Wenn sich ein Polizist zeigt, sagen Sie nur, der Wagen gehört Eric Cavendish.«

Er kletterte heraus und schnippte ein Staubkorn von seinem modischen neuen Anzug. Auf diesen Abend hatte er sich mit besonderer Sorgfalt vorbereitet. Er hatte für seine letzten Tage in Dr. de Hoots Klinik bei den Injektionen um doppelte Dosis gebeten, und jedesmal, wenn sich die Nadel in sein Fleisch bohrte, dachte er an die zwanzigjährige Stella.

Er zwängte sich zwischen zwei Autos hindurch, wanderte beschwingt ein Stück den Gehsteig entlang und bog dann in eine kurze Gasse ein, die zum Studio führte. Er bemerkte zwei Männer in weißen Mänteln, die mitten auf dem Gehsteig standen. Zwischen ihnen stand auf dem Boden eine weißgestrichene Metalltrommel von der Größe eines Bierfasses. Offensichtlich lauschten sie mit gespannter Aufmerksamkeit an dem Gegenstand.

»Guten Abend!« rief er freundlich.

»Oh, Sir!« rief einer der Weißgekleideten aufgeregt, »wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

»In Chelsea, London, meiner Meinung nach.«

»Wie schrecklich!« rief der andere aus, »Sie sind direkt hereingeschritten.«

Eric Cavendish blieb stirnrunzelnd stehen. »In was?«

»Haben Sie denn nicht gesehen?« fragte der erste eindringlich. »Die Warnung?«

Eric Cavendishs Blick folgte dem ausgestreckten Finger in Richtung eines großen weißen Schildes, das an die gegenüberliegende Wand gelehnt war:

STADTPOLIZEI

GEFAHR!

RADIOAKTIVITÄT

NICHT WEITERGEHEN!

»Was ist das?« fragte er verblüfft. »Ist eine Bombe explodiert oder was?«

»Ein Unfall«, sagte der zweite, »ein höchst unseliger Unfall. Transportwagen fuhr Radioisotopen in Spital - Zusammenstoß mit Taxi - gerade hier an der Ecke - Behälter zerbrochen - Zeug hier ausgeschüttet.«

»Es ist Jodium 131.«

»Sendet Beta- und Gammastrahlen aus.«

»Halbwertszeit acht Tage.«

»Lagert sich in der Schilddrüse ab.«

»Besteht Gefahr?« fragte Eric Cavendish stammelnd den Kleineren der beiden.

»Gefahr!« Terry Summerbee lachte kurz auf. »Er fragt, ob Gefahr besteht, Doktor!«

»Ich möchte nicht in der Haut des armen Teufels stecken, Doktor!« pflichtete Ken Kerrberry schneidend bei.

»Das ist der Geigerzähler«, Terry wies auf das Metallfaß. »Hören Sie nur!«

Eric Cavendish hielt den Atem an. Er hörte ein Ticken wie von einem billigen Wecker.

»Einen Augenblick...« Der Schauspieler schaute ängstlich von einem zu anderen. Sie waren offensichtlich Ärzte. Stethoskope lugten aus ihren Manteltaschen. Sie waren jung, aber das waren diese cleveren Radiologen wohl alle. Sie drückten sich außerordentlich gelehrt aus.

»Aber was ist mit Ihnen?« fragte er. »Müßten Sie nicht angezogen sein wie Astronauten?«

»W i r sind in Ordnung«, erklärte ihm Terry. »Wir haben das Gegenmittel genommen.«

»Carbonium 14«, sagte Ken kurz. »Halbwertszeit fünftausendsechshundert Jahre.«

»Aber... aber was sind die Folgen?«

»Sterilität, Störung des Keimplasmas und Impotenz.«

»O nein!«

»Das ist nur der Anfang«, fügte Terry hinzu. »Die langfristigen Folgen möchte ich lieber gar nicht erwähnen.«

»Was soll ich denn tun?« jammerte Eric Cavendish verzweifelt.

»Gott sei Dank können wir Sie retten!«

»Sie müssen sofort entseucht werden.«

»Ich will alles tun, Doktor... aber gerade jetzt«, erinnerte er sich, »habe ich eine Verabredung.«

»Sofort!« wiederholte Ken, »oder ich kann für die Folgen keine Verantwortung übernehmen.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Terry bei, »weder für Sie noch für Ihre ungeborenen Nachkommen.«

»Da kommt schon der Rettungswagen.«

»Dank sei dem Himmel, Doktor! Der Patient hat Glück.«

»Kein Augenblick zu verlieren!«

»Es könnte schon zu spät sein!«

Eric Cavendish blickte ängstlich nach dem Ateliereingang, dann auf den Rettungswagen, der verkehrt in die Sackgasse einfuhr. »Ich habe Wagen und Chauffeur.«

»Einen Chauffeur?« sagte Ken. »Armer Kerl. Sagen

Sie ihm, er soll sofort wegfahren. Vielleicht ist er noch in Ordnung. Hinein mit uns. Doktor, vergessen Sie den Geigerzähler nicht!«

»Wohin bringen Sie mich?« fragte Eric Cavendish verschreckt.

»St.-Swithin-Spital. Sind auf Fälle wie den Ihren spezialisiert.«

Der Schauspieler rief seinem Chauffeur ein paar Anweisungen zu. Die Türen des Rettungswagens fielen klirrend ins Schloß. Alle Polizisten hielten den Verkehr auf, als er mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung St. Swithin brauste.

Stella wartete schon vor dem Atelier, als Grimsdyke wenige Minuten später um die Ecke bog. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, Liebste«, sagte er aufgeräumt, »ich hoffe, du hast mich erwartet.«

»Ja, natürlich, Gaston.«

»Und niemand anderen?«

Sie zögerte nur eine Sekunde. »Keineswegs.«

»Nicht diesen Eric Cavendish?« Sie schmiegte sich an ihn. »Ich glaube, der denkt jetzt nicht einmal an dich -«

Sie löste sich von ihm. »Diese Tafel an der Mauer!« Er las sie lachend. »Ach das! Wahrscheinlich ein Studentenjux.«

Eric Cavendish dachte keineswegs an Stella noch an irgend etwas, außer an sich selbst. Er lag auf einer Bahre im Rettungsauto, während die beiden Ärzte seinen Fall miteinander besprachen. Doch war er in der medizinischen Terminologie völlig unbewandert, und alles, was sie sagten, schien in zunehmendem Maße furchterregend zu sein.

»Werde ich am Leben bleiben?« rief er.

»Das werden wir erst sehen.«

»O Gott!«

»Die Wissenschaft wird bestimmt ihr Bestes für Sie tun.«

»Aber warum gab es keine Warnung, keinen Hinweis im Fernsehen oder im Radio?«

»Sie meinen, Sie haben ihn nicht gehört?«

»O Gott!«

Der Rettungswagen hielt und reversierte.

»Da sind wir«, sagte Terry, »wie heißen Sie übrigens?« - »Eric Cavendish.«

»E. Cavendish. Gut. Sie werden sich ruhig verhalten, ja? Das Spital ist voll von radioaktiven Fällen, alle ernstlich krank, und viele von ihnen liegen im Sterben. Hier entlang.«

Eric Cavendish stieg aus. Er stand vor einem verboten aussehenden Spitalsgebäude. Seine Eskorte bugsierte ihn durch eine schmale Seitentür, die, wie sie erklärten, für verseuchte Fälle reserviert war. Es ging durch einen langen, leeren Gang, in dem zwei, drei Rollwagen und fahrbare Betten abgestellt waren. Terry öffnete eine Tür. »Da ist der Entseuchungsraum.« Es handelte sich um eine Schlafkammer mit nur einem Tisch, einem harten Sessel und einer Ordinationscouch.

»Ziehen Sie jetzt Ihre Kleider aus!«

»Kleider? Alle?«

»Natürlich. Sie kommen in die Materialentseuchungszentrale. Wir kommen dann zurück, um Sie zu entseuchen.«

»Aber wenn jemand hereinkommt? Eine Schwester zum Beispiel?«

»Keine Sorge, wir sperren die Tür zu.«

»Danke, Doktor!« Eric Cavendish fiel ein, daß er in seiner Panik vergessen hatte, seinen Rettern zu danken. »Ich bin Ihnen beiden sehr dankbar, daß Sie mir das Leben gerettet haben.«

»Gehört alles zu unserem Tagewerk«, entgegnete Terry freundlich. »Übrigens glaube ich, wir sollten das Korsett auch noch mitnehmen.«

Sie ließen ihn allein. Er hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Er setzte sich zögernd auf den harten Sessel und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann fiel ihm ein, daß er versäumt hatte zu fragen, wie lange sie eigentlich ausbleiben würden. Er hätte gern eine Zigarette gehabt. Er schaute sich nach einem Zeitvertreib um. In einer Ecke lag ein Merkblatt auf dem Fußboden, das er auf hob. Er las die Überschrift: NACHGEBURTLICHE ÜBUNGEN FÜR MÜTTER. Er fand es seltsam, so etwas an diesem trübseligen Ort zu finden. Fröstelnd setzte er sich wieder.