KAPITEL 10

 

Wiesbaden

 

Oberstaatsanwalt Richter fixierte ihn mit unverhohlenem Misstrauen. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, erwiderte Sven den Blick so gut es ging, saß reglos auf dem Stuhl, ließ gar seinen Kaffee erkalten. Er setzte ein bekümmertes Gesicht auf, um Verständnis für Richters Sorge zu heucheln.

»Ist das alles?«, fragte der Staatsanwalt.

Sven nickte.

»Sie wird doch keinen Alleingang ...«

»Sicher nicht. Sie sagt, die Befragung in Felixstowe sei mit Scotland Yard abgesprochen.«

»So – sagt sie. Warum beruhigt mich das nicht?«

Sven vermied es, darauf zu antworten. Seine Meinung war sowieso nicht gefragt, also konzentrierte er sich auf das erfreuliche Ergebnis von Chris’ Ermittlungen in der englischen Provinz und sagte:

»Mrs. Furmans Zeugenaussage könnte sich auch für unsere Fälle als sehr wichtig erweisen.«

»Inwiefern?«

»Patrick Sorin, der Sohn des Fabrikanten, hat einen Abschluss in Molekularbiologie vom Imperial College in London. Unser zweites Opfer, Professor Lorenz, war eine international bekannte Koryphäe in Molekularbiologie.«

»Na und? Wie viele Molekularbiologen gibt es, was meinen Sie?«

Sven schob Richter lächelnd den Auszug aus den Personalakten der Universität Tübingen hin, den er durchforstet hatte, bevor sein Chef ins Büro geplatzt war.

»Der Eintrag ist gelb markiert.«

Der Staatsanwalt warf einen gelangweilten Blick auf das Papier, dann stutzte er und fragte:

»Ist er das?«

Sven nickte. »Genau der. Patrick Sorin hat nach dem Studium in London an der Uni Tübingen promoviert. Lorenz war sein Doktorvater. Ich denke ...«

»Damit ist der Zusammenhang etabliert«, ergänzte Richter. »Gut, weiter so!«

Hat er eben »gut« gesagt, träume ich?, dachte Sven befremdet, als Richter hinauseilte. Positive Äußerungen aus dem Mund des Oberstaatsanwalts war man nicht gewohnt in diesem Haus. Kopfschüttelnd nahm er seine Arbeit wieder auf. Er ergänzte seine Notizen mit den Informationen aus den Personalunterlagen, bevor er die Uni Tübingen anrief und sich mit Frau Professor Eckl verbinden ließ.

»Ja bitte?«, meldete sich die bekannte Stimme der Biologin.

»Kommissar Hoffmann vom BKA. Wir haben vor einiger Zeit über Professor Lorenz gesprochen, vielleicht erinnern Sie sich.«

»Halten Sie mich für dement? Worum geht’s denn diesmal?«

»Erinnern Sie sich an einen Doktoranden von Professor Lorenz mit Namen Patrick Sorin? Er ist Engländer ...«

»Habe ich mir fast gedacht. Sorin, sagen Sie, Patrick Sorin – Nein, den Mann kenne ich nicht, tut mir leid. War’s das?«

»Augenblick bitte«, sagte er hastig. »Vielleicht können Sie mir trotzdem weiterhelfen. Vor mir liegt eine Liste mit Sorins Kommilitonen, die im gleichen Zeitraum in Molekularbiologie und Biochemie promoviert haben. Möglicherweise kennen Sie die eine oder andere Person.«

Er las ihr die Namen vor. Sie hörte schweigend zu, bis er zu Robert Jenkins kam.

»Bob – Bob Jenkins? Den kenne ich allerdings. Er arbeitet seit Kurzem wieder an der Uni als Privatdozent, sofern es sich um denselben Jenkins handelt, den ich meine.«

»Er ist Australier, steht hier.«

»Ein Aussie, das stimmt allerdings. Man versteht sein Englisch kaum.«

Sein Puls schnellte nach oben. Jenkins Spezialgebiet deckte sich ziemlich genau mit demjenigen von Patrick Sorin, wie er aufgrund der Unterlagen vermutete.

»Wie kann ich ihn erreichen?«, fragte er erregt.

Nach zwei erfolglosen Versuchen hatte er Dr. Jenkins am Apparat – und bedauerte es sogleich. Dieser Sprache vom andern Ende der Welt war er nicht gewachsen. Zudem sprach Jenkins so undeutlich, als steckte in jeder Backe mindestens einer von Richters Golfbällen.

»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er verzweifelt.

»Yes, mate, aber nur langsam.«

Er atmete auf. »Ausgezeichnet. Dr. Jenkins, ich werde Sie nicht lange aufhalten. Wir haben ein paar Fragen zu einem Kommilitonen, an den Sie sich vielleicht erinnern.«

»Patrick!«, rief der Australier aus. Es klang wie ein Lacher. »Kirsten hat mir erzählt, was Sie wollen. Patrick Sorin, der Spinner!«

»Sie scheinen keine sehr hohe Meinung von ihm zu haben.«

»Das täuscht, mate. Verstehen Sie mich nicht falsch. Patrick ist ein hervorragender Biologe. Er hat geniale Ideen entwickelt in seiner Thesis. Ich glaube, Wilhelm Lorenz hielt – wie sagt man? – große Dinge auf ihn. Aber er ist ein fanatischer Weltverbesserer. Was er sich in den Kopf setzt, zieht er durch, ohne sich um andere Meinungen zu kümmern.«

Das hörte sich nicht sonderlich spannend an. Er unterbrach Jenkins:

»Hatte Patrick eine besonders enge Beziehung zu Professor Lorenz?«

Eine kurze Pause entstand, dann sagte Jenkins entschieden:

»Ja, das würde ich unterschreiben. Ich glaube, Lorenz war etwas wie ein Ersatzvater für ihn. Die beiden haben oft in seinem Haus bis tief in die Nacht hinein debattiert. Ich selbst war zwei, dreimal dabei.«

»Worüber wurde da gesprochen?«

»Über Gott und die Welt. Und immer wieder über Patricks Traum von einer Welt ohne Hunger, von den Möglichkeiten der Biologie, der Stoßrichtung, welche die Forschung einschlagen müsste, um dieses Ziel zu erreichen. Er war ganz versessen darauf, uns von seinen Ideen zu überzeugen. ›Feed the Planet‹ ist meine Lebensaufgabe, hat er stets behauptet.«

»Gab es deswegen Auseinandersetzungen, Streit mit Kollegen oder dem Professor?«

»Dispute gab es jede Menge, aber das waren wissenschaftliche und philosophische Streitgespräche, wie sie zum akademischen Alltag gehören, Wortgefechte, nichts weiter.«

Sven verstand zwar so gut wie nichts von der Materie, dennoch entstand im Lauf des Gesprächs ein recht plastisches Bild von Patrick Sorin und seiner Zeit in Tübingen.

»Eine letzte Frage, Dr. Jenkins«, sagte er. »Womit hat sich Patrick zuletzt konkret befasst?«

»Mit dem Thema seiner Dissertation über das Mapping von Epigenetik-Promoter Regionen für die Genexpression und den Einfluss aufs Zellwachstum.«

Sven schluckte leer, bevor er darauf antworten konnte:

»Also – entschuldigen Sie, aber da haben Sie mich beim ersten Fachwort verloren. Kann man das irgendwie für Normalsterbliche umschreiben?«

»Sicher.«

Jenkins beschrieb Patricks Arbeit in andern Worten, die es jedoch auch nicht bis in seinen Großhirnlappen schafften, wo das Verständnis hockte. Er gab auf, bedankte sich und hoffte auf Chris.

 

Norwich, Norfolk

 

Das weiße Haus unweit St. Peter leuchtete in der Dämmerung noch auffälliger als am helllichten Tag. Es war das Einzige in der Gasse ohne windschiefe Fassade und machte dem Namen des noblen Restaurants, das es beherbergte, alle Ehre. Der breitschultrige Mann stieß die Tür des ›White Deer‹ schwungvoll auf, als gehörten nicht nur das Lokal und das Haus und die halbe Gasse ihm persönlich, sondern auch die Gäste und jeder, der sich auf dem Kopfsteinpflaster blicken ließ. Josh Sorin grüßte die Feinschmecker mit wohlwollendem Lächeln, während er den Speisesaal durchschritt, schüttelte die eine oder andere Hand, bevor er die paar Stufen zum ›deerstand‹ hochstieg, dem ›Hochsitz‹ auf der Galerie, wo man nah beim Volk saß und doch weit genug entfernt, um ungestört reden zu können. Die Plätze am runden Eichentisch waren besetzt. Nur sein Sessel stand leer zwischen dem Judge und dem Stadtpräsidenten, die sich gegenseitig fixierten wie zwei Platzhirsche, bevor die Geweihe ineinander krachten. Er setzte sich dazwischen und fragte grinsend:

»Na, Judge, wieder einmal Schwierigkeiten mit der Demokratie?«

Richter Turpin, der konservative Hardliner, verzog sein Gesicht, als hätte er eine schlechte Auster erwischt.

»Ich begreife nicht, wie man einen wie Callum wieder wählen konnte. Die Ausgabenpolitik unseres verehrten Präsidenten richtet noch die ganze Grafschaft zugrunde.«

Josh wandte sich an den Schotten zu seiner Linken, den der Stadtrat nun schon zum dritten Mal nicht abgewählt hatte und sagte:

»Damit dürfte es wohl bei der nächsten Wahl vorbei sein, schätze ich. Dann werden sich die Grünen und deine Lib-Dems dermaßen in den Haaren liegen, dass die Front gegen Labour zerbröselt wie der Kalk unter Earlham Road.«

Callum McFarland quittierte die Bemerkung mit herablassendem Lächeln. Getragen von der komfortablen Mehrheit im Parlament, widmete er sich wieder seinem Champagner-Hummer-Salat.

»Labour! Großer Gott, lass mich vorher abkratzen«, seufzte der Judge.

In einem Jahr würde er, Josh Sorin, Sohn eines einfachen Werftarbeiters, zusammen mit Labour die Geschicke der Stadt lenken. Jeder am Tisch wusste das, ob es ihm passte oder nicht. Er blickte wohlgefällig in die Runde. Jede Woche saßen sie hier beisammen, politische Gegner und alte Freunde, die sich respektierten, weil sie im Grunde dieselben Leidenschaften teilten: das Streben nach Macht und Einfluss – und die unerschütterliche Liebe zu einem butterzarten Angus-Steak oder Filet Mignon, die kein Zweiter so schmackhaft und perfekt garte wie Oliver Middleton, der Chef des ›White Deer‹. Der hatte seine Ankunft inzwischen bemerkt, trat an den Tisch und begrüßte ihn freudig.

»Möchtest du auch noch einen Salat?«

»Sehr zu empfehlen, das Hummerbaby«, sagte der Hagere mit schlohweißem Haar gegenüber am Tisch. Dr. Morgan Davies war Chefarzt der Neurologie am Norfolk and Norwich University Hospital und berüchtigt für seinen Zynismus. »Entschieden gesünder als deine gepanzerten Ölsardinen, kann ich dir versichern«, fügte er schmunzelnd hinzu.

Josh rümpfte die Nase. »Wenn ich mir ansehe, was gesundes Food bei dir so anrichtet, verzichte ich lieber darauf. Nein, Oliver, ich konzentriere mich auf das Filet Ambrosia. Deine geheime Quelle ist hoffentlich noch nicht versiegt?«

»Groß ist der Vorrat nicht, aber für die erlauchte Runde reicht er«, versicherte der Chef mit einem Augenzwinkern.

Josh seufzte. »Eines Tages will ich den Kerl sehen, der so göttliches Fleisch produziert. Ich werde mich vor ihm in den Staub werfen und ihm die Füße küssen.«

Filet Ambrosia stammte aus einer Quelle, die nur der Küchenchef kannte. Das Fleisch war von solch auserlesener Qualität, dass kein klassisches Angus mithalten konnte. Selbst das sündhaft teure Wagyu des Japaners verblasste dagegen. Ambrosia war nicht nur zarter als anderes Rindfleisch und doch genau richtig im Biss, es schien auch bekömmlicher, leichter verdaulich zu sein. Beim ersten Bissen hatte Josh das Gefühl, die Delikatesse löse sich noch im Gaumen auf und verdampfe mit einer Geschmacksexplosion direkt in die Blutbahn. Den andern am Tisch erging es ebenso. In andächtiger Stille aßen sie Olivers geniale Kreation, die nichts als das Stück Fleisch in den Mittelpunkt stellte. Ambrosia gab es zuerst für sie, die Notabeln der Stadt, an diesem Tisch, und nur was übrig blieb vom winzigen Vorrat fand den Weg in die Gaststube zum gemeinen Volk. Für dieses Gold auf dem Teller pilgerten Gäste aus London und gar von der Westküste in den ›White Deer‹, obwohl sie sich für das gleiche Geld zu Hause einen Monat lang verpflegen könnten.

Callum, der Präsident, legte das Besteck als Erster beiseite. Er nippte vorsichtig am Weinglas, um den Geschmack des Essens nicht zu sehr zu stören und seufzte glücklich in seinem schottischen Akzent:

»Nichts geht über ein solches Stück authentisches Rind.«

»Richtig«, stimmte der Judge zur Überraschung aller zu. »Bei diesem Filet kann dir keiner etwas vormachen. Leute, seien wir ehrlich: In Würste kannst du alles stopfen, Sägemehl, alte Socken. Kein Schwein merkt das, solang die Gewürze stimmen und genug Salz drin ist. Aber mit einem solchen Stück Fleisch kann dich keiner bescheißen.«

Der Chef sammelte gnädig Komplimente, während sein Personal die Teller abräumte. Diese Minuten in der Zwielicht-Zone zwischen kulinarischem Höhenflug und Alltag fürchtete Josh. Einer am Tisch würde unweigerlich das Thema anschneiden, über das er zuletzt reden wollte. So war es auch an diesem Abend. Der Ratspräsident selbst konnte es nicht lassen, scherzhaft zu bemerken:

»Gut, dass dein Patrick uns nicht sieht. Wann kommt er zurück von seinem Kreuzzug gegen falsche Ernährung?«

Joshs Miene verdüsterte sich. An Patricks Lebenswandel fand er nichts komisch. Zudem konnte er Callums Frage nicht beantworten, selbst wenn er wollte. Er hatte keine Ahnung, wo sich sein missratener Sohn zurzeit aufhielt. Morgan Davies, der Mediziner, rettete die Situation:

»Ihr werdet mich kreuzigen, wenn ich das sage, aber im Grunde hat Patrick recht mit der Meinung, unsere Ernährung sei nicht nachhaltig. Die Fleischproduktion ...«

»Willst du uns auch noch den Abend verderben?«, unterbrach der Judge unwirsch. »Genügt es nicht, dass Callum den Schnabel nicht halten kann? Ich meinerseits bleibe jedenfalls beim Steak und werde nicht zum nachhaltigen Insektenfresser.«

»Die Maden und Heuschrecken werden es dir danken«, lachte Callum. Zum Kellner gewandt, sagte er: »Ich vertrage heute einen Doppelten.«

Alle wussten, wovon er sprach. Ein oder zwei Dram 21-jähriger ›Highland Park‹ Scotch bildeten nach einhelliger Überzeugung den angemessenen Übergang vom Essen zur lockeren Diskussionsrunde. Ohne dieses Ritual ließe sich ihr Männerabend nicht beschließen, umso mehr, als jeder wusste, dass Josh, der steinreiche Fabrikant, diesen Teil der Rechnung zu begleichen pflegte.

Wieder war es Callum, der das zweite heikle Thema des Abends ansprach. Zum Richter gewandt fragte er:

»Wie laufen die Ermittlungen in Felixstowe, Judge?«

»Erstens bin ich Richter, nicht Untersuchungsrichter und folglich nicht für den Fall zuständig, bis es zum Prozess kommt. Zweitens, mein Lieber, dürfte ich nicht darüber sprechen, selbst wenn ich etwas wüsste.«

»Ich kenne die Regeln«, murrte Callum, »aber ich werde das Gefühl nicht los, dass in diesem Fall gar nichts mehr läuft. Was sagst du dazu, Josh?«

Für einmal konnte er dem Präsidenten nur zustimmen. Er nickte und räusperte sich lautstark.

»Ich liege Scotland Yard fast täglich in den Ohren deswegen, das dürft ihr mir glauben. Meine beste Arbeitskraft und gute Freundin wird brutal abgestochen, und ich soll die Füße hochlegen und abwarten. Das treibt mich die Wände hoch.«

»Verständlich«, gab der Judge zu, »doch ich bin sicher, die Detectives tun alles, was sie können ...«

»Was, wenn das nicht genügt?«, fuhr Josh auf. Leise fügte er hinzu: »Ich hätte längst eingreifen müssen.«

Chef Oliver unterbrach den Disput, als er an den Tisch trat.

»Noch Wünsche, die Herren?«

»Nicht für mich«, seufzte der Judge bedauernd. »Ich muss euch leider verlassen, Freunde. Die Akten warten.«

Während Callum Josh und den Arzt von der Notwendigkeit eines Stücks Schokolade mit mindestens 72 Prozent Kakao als Geschmacksverstärker für den Single Malt zu überzeugen suchte, beglich der Judge seine Rechnung, erhob sich und setzte sich gleich wieder hart auf seinen Stuhl.

»Etwas vergessen?«, grinste Callum.

Der Richter blickte verwirrt in die Runde, als überraschte ihn der Anblick der Freunde.

»Alles in Ordnung?«, fragte Morgan besorgt.

»Taxi für Richter Turpin«, meldete die Bedienung.

Zum zweiten Mal erhob sich der Judge, langsam und vorsichtig, als traute er seinen Beinen nicht. Konsterniert verfolgten die Freunde, wie er wie auf rohen Eiern die Stufen zur Gaststube hinunterstieg und hinaus wankte.

»Ich fasse es nicht, der Mann ist sturzbetrunken«, murmelte Callum ungläubig.

Morgan schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich fürchte, das erklärt die Sache nicht.« Er zeigte auf das Weinglas des Richters. »Er hat nur am Wein genippt und auf den Whisky verzichtet. Nein Leute, unser Judge hat fast nur Wasser getrunken, und das jagt mir als Arzt eine höllische Angst ein.«

 

Felixstowe, Suffolk

 

Noch in derselben Nacht fuhr Josh voll angestauter Wut nach Felixstowe. Er stürmte die Treppe des Wohnblocks hoch zu Aaron Poynters Wohnung. Sein Finger blieb auf der Klingel, bis der Vorarbeiter schlaftrunken öffnete.

»Was zum Teufel – Josh! Was ist passiert?«

Er stieß Aaron in die Wohnung zurück und keuchte außer Atem:

»Jetzt reicht's! Wir müssen etwas unternehmen.«

Aaron sah ihn mit leerem Gesicht an.

»Wir holen uns jetzt diesen verdammten Schwarzen«, fuhr Josh weiter.

Aaron schüttelte verwirrt den Kopf. »Entschuldige, wovon sprichst du?«

»Vom Killer, der meine Felicity auf dem Gewissen hat, von wem denn sonst?«

»Aber – die Bullen ...«

Josh lachte verächtlich. »Vergiss die Bullen! Die unternehmen nichts, außer unsere Leute mit Fragen zu löchern. Wir nehmen die Sache jetzt selbst in die Hand.«

Wieder das leere Gesicht. Manchmal erinnerte ihn der gute Aaron an den Doofen aus der Stummfilmzeit. Er erzählte seinem Vorarbeiter, was ihm bei der Unterhaltung im ›White Deer‹ eingefallen war:

»Du erinnerst dich daran, was Scotty gesagt hat? Deutsch oder holländisch habe der Killer gesprochen. Ich bin sicher, der Junge hat das falsch verstanden. Der Kerl könnte Afrikaans gesprochen haben.«

»Afrikaans«, wiederholte Aaron mit großen Augen.

»Ja, so sprechen viele Leute zum Beispiel in Südafrika. Unser Mann ist nämlich ein Schwarzer.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Hör zu: Eine Tante der Polizei hat Scotty das Fahndungsbild des Verdächtigen gezeigt und ihn beschrieben. Die wissen genau, wer Felicity auf dem Gewissen hat. Der Mann sieht ein paar Jahre jünger aus als du, ist mittelgroß, kräftig gebaut und verdammt schwarz. Wir haben bisher einfach den Falschen gesucht, verstehst du?«

»Ein Schwarzer«, murmelte Aaron verständnislos. »Und du glaubst, es sei einer aus der Stadt?«

»Die Bullen glauben jedenfalls, er halte sich in der Gegend auf. Für uns arbeiten doch ab und zu Schwarze am Hafen, oder irre ich mich?«

»Ja, schon, Temporäre für das Löschen der Frachter und die Verschiffung. Die kommen kaum in Kontakt mit uns – warte!«

Aaron sah ihn erschrocken an. Sein Kiefer klappte herunter, während er angestrengt nachdachte.

»Lass es raus!«, drängte Josh.

»Ein Schwarzer, kräftig, mittelgroß – Scheiße, Josh, den habe ich gesehen mit Felicity!«

»Was sagst du da?«

»Das könnte der Kerl sein. Felicity hat etwas kritisiert, da ist er laut geworden und abgehauen, statt seinen Job zu machen.«

»Wann? Worum ging es?«

»Wann – das war vielleicht zwei Tage vor ... Ich weiß nicht, worum es ging. Mensch, Josh, ich hatte doch keine Ahnung, wie wichtig es war!«

Aarons Stimme zitterte.

»Beruhige dich, niemand hat etwas geahnt. Wie heißt der Kerl, wo wohnt er?«

Der Vorarbeiter zuckte mit den Schultern. »Vermutlich in der Hafengegend, wo sie alle hocken, falls er noch da ist.«

Mit »sie« meinte er wohl die legalen und illegalen Ausländer, die sich am Hafen mit Gelegenheitsarbeiten durchschlugen und oft in beklagenswerten Abrisshäusern vegetierten. Die blinde Suche würde eine Menge Leute und viel Zeit erfordern.

»Ich glaube, ich habe eine Idee, wie wir ihn finden«, sagte Aaron überraschend. »Felicity hat alle Vorfälle in einem Log aufgeschrieben. So etwas muss da vermerkt sein.«

»Und wo steckt dieses Logbuch?«

»Im Tresor im Büro.«

Josh wandte sich zur Tür. »Worauf warten wir noch?«

 

Chris fuhr erschrocken herum. Sie hatte ein leises Scharren gehört in der dunklen Gasse hinter ihr. Abrupt blieb sie stehen, horchte mit angehaltenem Atem in die Nacht hinaus. Man konnte keine zehn Schritte weit sehen. Die Straßenlampe brannte nicht in diesem Abschnitt, und zäher Küstennebel hing zwischen den Häusern. Folgte ihr jemand? Schon kurz, nachdem sie aus dem Auto gestiegen war, hatte sie das Gefühl beschlichen, beobachtet zu werden. Da sich nichts regte, ging sie vorsichtig weiter. Das Verwaltungsgebäude der Fabrik tauchte wie eine schwarze Wand vor ihr auf. Kein einziges Licht brannte zu dieser späten Stunde nach Mitternacht, auch nicht über dem Eingang. Nur die Scheinwerfer der Maschinenhalle schimmerten diffus durch den Nebel. Tiefes Brummen und rhythmische Schläge zeugten davon, dass dort gearbeitet wurde. Das gefährdete ihr Vorhaben nicht, solang sie sich hier ungestört umsehen konnte. Noch einmal hielt sie inne, horchte angestrengt, bevor sie sich dem Tor näherte.

Sie blieb unvermittelt stehen. Ein Auto preschte mit hoher Geschwindigkeit heran. Ihr blieb gerade genug Zeit, sich unsichtbar zu machen, bevor der Wagen mit quietschenden Reifen unmittelbar vor dem Eingang anhielt. Zwei Männer sprangen heraus. Sie stürmten ins Haus. Lichter flammten auf im Treppenhaus und bald danach in den Büros der Verwaltung. Sie erwog den Gedanken, den Männern zu folgen, verwarf ihn jedoch rasch wieder. Stattdessen suchte sie sich ein besseres Versteck näher beim Tor und wartete. Es war eine weise Entscheidung, wie sie bald erfahren sollte. Keine zehn Minuten dauerte es, bis ein zweites Auto heranbrauste, dann ein Drittes. Insgesamt fünf weitere Männer zählte sie. Allzu gern hätte sie den Grund für die nächtliche Krisensitzung erfahren, doch sie harrte in ihrem Versteck aus. Das Risiko, entdeckt zu werden, war zu groß. Das geheimnisvolle Treffen hing ohnehin nicht mit ihrem Fall zusammen, sagte sie sich.

Das Licht in den Büros erlosch. Die Männer traten ins Freie. Als Letzter verließ ein älterer Mann mit breiten Schultern das Haus. Die Lampe über dem Tor beleuchtete sein Gesicht für einen Augenblick, bevor auch sie erlosch. Ein Adrenalinschub jagte ihren Puls in die Höhe, denn sie kannte diesen Mann aus den Akten: Josh Sorin. Der mächtige Patron persönlich leitete diesen nächtlichen Einsatz. Was er mit seinem dröhnenden Bass verkündete, war geeignet, ihre Herzfrequenz nochmals zu erhöhen.

»Männer! Ihr wisst, was zu tun ist. Findet den Scheißkerl! Und nicht vergessen: Dieses Treffen hat nie stattgefunden.«

»Aye aye Sir«, quittierte einer, wobei er seinen Baseballschläger in der Faust wiegte.

»Auf geht’s!«, befahl der Patron.

Zwei Wagen fuhren ab. Sorin blieb mit seinem Auto zurück. Ohne Zögern schlich sie weg, rannte zu ihrem Wagen und nahm die Verfolgung der Meute auf. Was immer diese Männer vorhatten, es konnte nichts Gutes sein. Sie war Polizistin. Selbstjustiz duldete sie unter keinen Umständen. Der Staat hatte das Gewaltmonopol, nicht aufgebrachte Bürger. Nur so funktionierte die Zivilisation. Sie kannte die Geheimnisse dieser Fabrik nicht, doch die Tatsache, dass Sorin selbst eine solche Aktion auslöste, konnte fast nur eines bedeuten: die Jagd nach Felicitys Mörder. Sie mussten einen Tipp bekommen haben, während die Polizei in Felixstowe und Ipswich weiterhin im Dunkeln tappten wie die Mordkommission von Scotland Yard.

»Würde mich nicht überraschen«, murmelte sie bitter.

Die Wagen fuhren zu den Baracken beim Containerterminal. Kurz vor dem Parkplatz am Ende der kleinen Siedlung hielten sie an. Die Männer huschten an den Häusern vorbei. Ihr Ziel war das Wohnmobil am Ende der Straße. Der Anführer wies die Leute stumm mit Handzeichen auf ihre Plätze wie bei einer Übung auf der Polizeiakademie. Drohende dunkle Gestalten umstellten das Fahrzeug. Im schwachen Schein der fernen Laterne blitzte ein Messer auf. Der Anführer polterte an die Tür des Wohnwagens und rief etwas im Befehlston, das Chris nicht verstand. Ein paar lange Sekunden herrschte gespenstische Ruhe, dann flammte Licht auf im Wohnmobil. Eine Hand schob den Vorhang beiseite. Ein Gesicht tauchte am Fenster auf, das Gesicht eines Schwarzen. Er wich erschrocken zurück. Das Licht erlosch augenblicklich. Der Mann mit dem Schläger holte aus. Holz splitterte, doch die Tür widerstand dem ersten Schlag.

Beim Anblick des Schwarzen hatte Chris die 999 gewählt und einen anonymen Hilferuf abgesetzt. Die Polizei war unterwegs, so hoffte sie. Der zweite Schlag riss ein Loch in die Tür. Diese Meute zeigte alle Züge eines Lynch-Mobs. Hatte sie zu lange gezögert? Die Männer schienen zu allem entschlossen. Wie ein Schock traf sie die Erkenntnis: Hier ging es nicht um Sachbeschädigung und Angstmacherei. Dies war die tödliche Abrechnung mit Felicitys Mörder. Das dünne Holz der Tür gab nach. Zwei Männer drangen ins Wohnmobil ein. Wütende Rufe erklangen. Ein Urschrei zerriss die Nacht als klappte ein Gewichtheber unter seiner Last zusammen. Die Männer schleiften den schlaffen Körper des Schwarzen auf den Platz.

Sie musste eingreifen. Für einen flüchtigen Augenblick dachte sie wehmütig an die ›Glock‹, die sicher im Safe in Wiesbaden ruhte. Dieser entfesselten Gewalt hatte sie nichts entgegenzusetzen, außer ihrem Verstand – und ihrem Geschlecht. Dennoch zögerte sie nicht länger. Sie verließ ihre Deckung, rannte an der letzten Baracke vorbei. Laut rufend wollte sie auf den Platz stürmen, da stoppte sie das ferne Geheul eines Martinshorns. Das Geräusch nahte rasend schnell heran. Eine zweite Sirene begann zu heulen. Nach einer Schrecksekunde stoben die Männer auf dem Platz auseinander. Als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her, hetzten sie zu den Fahrzeugen. Autotüren schlugen zu, Motoren heulten auf. Sekunden, bevor der erste Streifenwagen auftauchte, waren die Angreifer im Gewirr der Gassen verschwunden.

Das geschundene Opfer richtete sich stöhnend auf, als der Rettungswagen anhielt. Chris zog sich diskret zurück, um zu beobachten. Das unmittelbare Ziel war erreicht. Der Mann lebte, schien nicht ernsthaft verletzt zu sein und die Rettungsmannschaft kümmerte sich um ihn. Ihr war nicht im Mindesten daran gelegen, als Zeugin aufzutreten. Die Polizei mochte sich wundern, wer sie alarmiert hatte. Das war nicht ihr Problem. Der Schwarze weigerte sich beharrlich, in den Rettungswagen zu steigen. Schließlich entließ ihn der Notarzt mit einem runden Pflaster an der Schläfe, das von Weitem aussah, als hätte er ein klaffendes Loch im Kopf.

Sie wartete ungeduldig, bis auch die Streifenwagen wieder abzogen. Die Tatsache, dass die Beamten den Bewohner unbehelligt zurückließen, bestätigte ihre Vermutung: Dieser Mann war nicht Moses Angula. Um den letzten Zweifel auszuräumen, näherte sie sich vorsichtig. Im Wohnmobil brannte Licht. Auf leisen Sohlen schlich sie zur Tür und spähte durchs Loch. Der Mann drehte ihr den Rücken zu. Die gedrungene Gestalt und die muskulösen Arme erinnerten stark an den Gesuchten. Er stand vor einem Spiegel, in dem sie sein Gesicht deutlich erkennen konnte. Sie atmete auf, gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Das Gesicht ähnelte dem des Moses Angula in keiner Weise.

Mürrisch kehrte sie zum Auto zurück. Bis jetzt hatte sie sich die Nacht vergeblich um die Ohren geschlagen.

»Immerhin hast du einem Unschuldigen ziemlich viel Ärger erspart«, tröstete der Rückspiegel, als sie wegfuhr.

Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 03:25. Es blieb gerade genügend Zeit für ihr Vorhaben, bis die ersten Arbeiter und Angestellten im Verwaltungsgebäude eintreffen würden. Kurz entschlossen fuhr sie zur Fabrik zurück. Wie erwartet fand sie das Gebäude dunkel und verlassen vor. Nichts deutete auf den missglückten, nächtlichen Feldzug hin. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Als sie am Tor Felicitys Badge in den Schlitz stecken wollte, stutzte sie. Das elektronische Schloss stand nicht unter Strom. Verwirrt zog sie am Türgriff. Die Glastür leistete keinen Widerstand. Mit einem leisen Klick schwang sie auf. Ein Blick zur Videokamera über dem Eingang bestätigte ihre Vermutung: Die Elektronik war ausgeschaltet, die sicherste Maßnahme, um nichts von der nächtlichen Aktion aufzuzeichnen. Sie steckte den Badge wieder ein und betrat das schlafende Gebäude.

Ihr Ziel befand sich ein paar Gänge weiter im Erdgeschoss. Die jüngsten Proben, die ihr in den Protokollen des Massenspektrometers aufgefallen waren, befanden sich vielleicht noch im Labor, hoffte sie. Die Analysen, die der Gockel Milton und seine Laborantin durchgeführt hatten, trugen kryptische Bezeichnungen. ›PILCH/NA/MAR ...‹ hießen die meisten Auswertungen der letzten zwei Wochen. Die Bedeutung lag nahe: ›PILCH‹ stand für ›Pilchard‹, eine geläufige Bezeichnung für Sardinen. ›NA‹ konnte nur Namibia bedeuten und ›MAR‹ passte zum Frachter ›Marlin‹. Einige wenige Proben waren jedoch mit ›SPRT/NA/MAR ...‹ angeschrieben. Was die ersten vier Zeichen bedeuteten, konnte sie sich nicht erklären, doch sie zweifelte keinen Augenblick: Diese Proben, die wohl nichts mit Sardinen zu tun hatten, musste sie finden.

Im Schein ihrer winzigen Stablampe durchquerte sie das Gebäude, leichtfüßig und geräuschlos wie eine Katze auf nächtlicher Jagd. Gelegentlich drang das Brummen eines vergessenen Computers an ihr Ohr, sonst blieb alles still.

Sie stand schon vor dem Labor, als sie erschrocken zurückwich. Die Tür war nur angelehnt. Hastig schaltete sie das Licht aus. Sie blieb reglos stehen und horchte. Für einen Augenblick glaubte sie, eine Bewegung im Labor wahrzunehmen, doch dann vernahm sie ein dumpfes Kratzen im Korridor, als streifte eine Schuhsole die Wand. Mit angehaltenem Atem spitzte sie die Ohren, doch es blieb das einzige Geräusch. Lautlos huschte sie auf die andere Seite des Gangs und tastete sich einige Schritte zurück. Sprungbereit knipste sie die Taschenlampe an. Sie war allein. Ungläubig rannte sie um den Liftschacht herum zur Treppe, leuchtete in jede Nische, ohne jemanden zu bemerken. Schließlich stieß sie eine stille Verwünschung aus und eilte zum Labor zurück. Sie durfte sich nicht von Phantomen aufhalten lassen, musste endlich ihren Job erledigen und verschwinden, je schneller, desto besser.

Kaum im Labor, blieb sie abrupt stehen. Die Wand neben dem Dampfabzug war zurückgeschoben. Ein Lichtkegel strich über den Boden des Raums dahinter. Das Licht verschwand für einen Augenblick, tanzte noch einmal über die Wand, zog sich wieder zurück. Metall schlug auf Metall, als würden Bolzen verschoben. Es knarrte. Ein Gebläse begann zu surren. Sie schlich vorsichtig näher. Ihre Lampe brauchte sie nicht. Es drang genügend diffuses Licht durch die breite Fensterfront.

Die Schiebetür trennte einen gefangenen Raum vom Labor ab. Ablagen mit Kanistern und Glasflaschen bedeckten zwei Wände. Eine Stahltür bildete die dritte, schmale Wand: der Zugang zum Kühlraum! Die Tür stand halb offen. Licht schimmerte durch den Spalt. Der oder die Unbekannte musste da drin sein. Dennoch blieb es totenstill. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie einen Blick hineinwarf. Das schwarze Gesicht starrte ihr direkt in die Augen. Reflexartig wollte sie die Tür zuschlagen, doch der schwere Stahl bewegte sich kaum. Moses Angula war schneller. Er stürzte sich wutschnaubend auf sie, krachte mit ihr ins Gestell. Die Wucht des Aufpralls schleuderte eine dicke, braune Flasche zu Boden. Sie barst. Alkoholdunst verbreitete sich in der engen Kammer, während sie vor Schmerz gekrümmt zu Boden sank. Angula stieß einen Fluch aus, packte sie mit der eisernen Linken an der Gurgel und zischte sie an:

»Du bist tot!«

Sie bekam kaum Luft, schlug verzweifelt mit Händen und Füßen nach dem Angreifer, packte seinen Arm, versuchte mit letzter Kraft, sich vom menschlichen Schraubstock zu lösen.

»Diesmal entkommst du mir nicht«, sagte er unbeeindruckt, als hielte er nichts als einen Sack Mehl in der Hand. »Niemand stellt sich uns in den Weg!«

Ihr wurde schwarz vor Augen. Verzweifelt versuchte sie, eine Scherbe zu ergreifen. Ohne hinzusehen, stieß er sie mit seinem Fuß weg. Sein Griff lockerte sich. Pfeifend strömte ein wenig Luft in ihre Lunge. Sie hustete, röchelte, versuchte, etwas zu sagen. Ein Wort nur, das Wort, das ihn vielleicht aufhalten könnte. Ohne Eile zog er mit der Rechten den Dolch aus der Scheide.

»Sproete ...«, keuchte sie.

Augenblicklich zuckte er zusammen, als stünde sie unter Starkstrom. Die Faust mit dem Messer schwebte drohend vor ihrer Brust.

»Du weißt gar nichts von Sproete!«, rief er wütend.

Wie in Zeitlupe sah sie, wie die Hand zum tödlichen Stoß ausholte. Sie vermochte sich nicht mehr zu rühren. Die Muskeln versagten den Dienst. Ein letztes, schwaches Röcheln entwich ihrem Mund vor dem letzten Herzschlag.

»Jamie, hilf mir!«, schrie alles in ihr, dann peitschte der Schuss durch die Kammer.

Angula ließ augenblicklich von ihr ab. Sein schwerer Körper klatschte auf den Boden wie eine reife Frucht. Er bewegte sich nicht mehr. Nicht verwunderlich mit dem Loch in der Schläfe.

»Polizei! Waffe fallen lassen!«, befahl Detective Sergeant Cornwallis' zitternde Stimme leise, während seine Pistole noch immer auf den blutenden Kopf zielte.

Chris atmete wieder frei. Taumelnd richtete sie sich auf. Ron verharrte reglos vor dem Toten, als hätte auch seine Seele den Körper verlassen. Sie schlang den Arm behutsam um ihn, entwand ihm die Waffe und sagte in beruhigendem Ton:

»Lass es gut sein, Ron. Es ist vorbei.«

»Ich – habe – noch nie ...«, stammelte er.

Sie drückte ihn dankbar an die Brust und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.

»Du hast mir gerade das Leben gerettet, Ron. Vergiss das nie«, flüsterte sie.

Stumm beugte er sich über Angulas Körper, um den Puls zu fühlen. Nach kurzer Zeit richtete er sich auf.

»Tot! Ich habe ihn erschossen«, murmelte er.

Dabei blickte er sie so ratlos an, als fragte er sich, wie es dazu kommen konnte. Felicitys Mörder, der dreifache Mörder Moses Angula lag mausetot in seinem Blut. Diese Tatsache und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, drangen erst allmählich in ihr Bewusstsein.

»Wieso bist du überhaupt hier?«, fragte sie unvermittelt.

»Rutherford – der DCI meinte, du brauchst einen Schutzengel. Und wie es aussieht ...«

»Schon gut! Du warst das also. Du bist mir dauernd hinterher geschlichen. Das wäre nicht nötig gewesen.«

»Wie man sieht. Mensch, Chris, ich habe einen Menschen getötet!«

»Weil es nicht anders ging. Du hattest keine Wahl, Ron. Es ist dein Job. Du solltest dir keine falschen Schuldgefühle einreden. Lass uns lieber unsere Geschichten abstimmen, bevor du die Truppe alarmierst.«

Viel zu bereden gab es nicht. Sie konnten bis auf eine Kleinigkeit bei der Wahrheit bleiben, brauchten bloß Rons Schuss und seinen Ruf »Polizei!« zeitlich zu vertauschen. Das änderte nichts am Sachverhalt, wie sie den Sergeant schließlich überzeugte. Man vermied damit aber eine Menge unnötige Fragen.

Rons Blick wanderte immer wieder zum Toten.

»Glaubst du, ich habe den Richtigen erwischt?«, fragte er mit leidendem Gesicht.

Sie klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Fragen können wir ihn nicht mehr, aber da liegen eine Menge DNA und der Dolch, der sich als Tatwaffe herausstellen wird. Zweifel sind immer angebracht, mein Lieber. In diesem Fall sind sie allerdings unbegründet.«

»Wenn du es sagst ... Was suchte er hier?«

»Wahrscheinlich dasselbe wie ich.«

Ein stechender Schmerz zuckte durch ihre Weichteile, während sie sich zur Tür des Kühlraums schleppte, sorgsam darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen.

»Hier drin liegt das Geheimnis, nehme ich an«, sagte sie. »Ich glaube, es geht um den Inhalt der weißen Tasche, die er aus Namibia ins Land geschmuggelt hat. Aus einem Grund, den wir noch finden müssen, ließ er den Inhalt hier in Miltons Wunderlabor untersuchen, nehme ich an. Milton müssen wir übrigens auch verhören.«

»Milton?«

»Greg Milton, den Laborchef. Es sieht ganz danach aus, dass er für Angula Analysen erstellt hat.«

»Das sagst du erst jetzt?«

Hastig informierte Ron die Constabulary. Sie starrte indessen mit zunehmendem Unbehagen durch den Spalt in die Kühlkammer. Wenige Schritte trennten sie von der Ware, die niemand sehen durfte, die Felicity dennoch entdeckt hatte, weshalb sie sterben musste. Chris stand wie gelähmt an der Tür, die Füße, schwer wie Blei, ließen sich keinen Millimeter bewegen.

»Kannst du das für mich erledigen?«, bat sie mit verlegenem Lächeln.

»Sollten wir nicht auf die Techniker warten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, was wir suchen. So geht es schneller.«

»Und weshalb holst du es nicht?«

»Ich – kann da nicht hinein. Mach schon! Wir suchen Proben, die mit ›SPRT‹ etc. angeschrieben sind.«

SPRT – Sproete! Mit einem Mal begriff sie: Die Proben waren für den geheimnisvollen Sproete bestimmt.

Ron schlüpfte kopfschüttelnd an ihr vorbei und begann zu suchen. Es dauerte nicht lang, bis er voller Abscheu ausrief:

»Yuck! Scheußlich!«

Er hielt einen Plastikbeutel in die Höhe. Der rot-blaue Klumpen darin hatte die Größe eines Kinderkopfes und sah alles andere als appetitlich aus.

»Was ist das für ein ekliges Zeug?«, fragte er schaudernd.

»Jedenfalls keine Sardine«, stellte sie zufrieden fest.

 

Windhoek, Namibia

 

Leon legte den Hörer irritiert auf die Gabel. Er schob den Laptop in die Computertasche und eilte zum Ausgang.

»Ich bin für eine Stunde weg«, rief er Laura zu.

Fast drei Wochen lang hatte er nichts mehr vom Labor gehört, und jetzt wollten die ihn unbedingt sehen. »Persönlich« müsste der Befund mitgeteilt werden. Warum wollten die nicht am Telefon reden oder das Ergebnis endlich per Mail schicken? Er hatte kein gutes Gefühl beim Betreten der Universitätsklinik. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass der Schafskopf Symptome einer Krankheit aufweisen würde. Warum also der Aufstand? Und weshalb hatte die Untersuchung so lang gedauert?

Der Leiter des toxikologischen Instituts, ein Pathologe, empfing ihn mit ernstem Gesicht. Er bat ihn, Platz zu nehmen und schloss die Tür ab.

»Sie sperren uns ein?«, fragte Leon irritiert.

»Ich will nicht, dass jemand hereinplatzt. Wir haben Wichtiges zu besprechen.«

Der Pathologe öffnete seine Akte auf dem Schreibtisch und breitete einige Blätter mit Tabellen und Mikroskop-Aufnahmen vor sich aus.

»Sie fragen sich vielleicht, weshalb wir so viel Zeit gebraucht haben, um den Schafskopf zu untersuchen«, sagte er.

»Allerdings, Doctor.«

»Nun, das liegt daran, dass unsere Ergebnisse so überraschend und beunruhigend waren, dass wir eine zweite Meinung einholen mussten. Ich habe Proben an ein unabhängiges Labor in Südafrika geschickt. Die Untersuchung ergab das gleiche Resultat. Wir sind also absolut sicher über unseren Befund.«

Gut zu wissen, dachte Leon und wartete auf die Erklärung.

»Das Tier ist zwar geschlachtet worden«, fuhr der Pathologe fort, »doch es wäre in spätestens zwei Tagen ohnehin an seiner Krankheit verendet: Paraplegia enzootica. Der Volksmund nennt die Erkrankung Scrapie. Wissen Sie Bescheid über Scrapie?«

»Eine Seuche, die das Gehirn von Schafen angreift.«

Der Arzt nickte. »So ungefähr. Es ist eine übertragbare, tödlich verlaufende Erkrankung des Gehirns bei Schafen und Ziegen, verursacht durch Prionen. Das sind fehlgebildete Proteine, ähnlich wie bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen.«

Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte Leon. Er erinnerte sich an das, was er in der Hütte des Farmers gesehen hatte.

»Ist Scrapie auf den Menschen übertragbar?«, fragte er bang.

»Möglich ist es. Scrapie gehört zu den transmissiblen spongiformen Enzephalopathien, TSE. Eine direkte Übertragung auf den Menschen ist bisher nicht eindeutig nachgewiesen, aber eben auch nicht ausgeschlossen worden. Es ist durchaus denkbar, dass der Verzehr eines infizierten Schafhirns bei entsprechender genetischer Konditionierung vCJD auslösen kann.«

»vCJD?«

»Die Bezeichnung für die Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die durch Übertragung pathogener Zellen verursacht wird.«

»Was sind die Symptome beim Menschen?«

»Fortschreitende Demenz, Lähmungen. Manchmal tritt eine vollständige spastische Lähmung des Körpers auf. Der Patient fällt in die sogenannte Enthirnungsstarre. Er wirkt wie scheintot.«

»Mein Gott!«, murmelte Leon erschüttert.

Der Pathologe sah ihn lange nachdenklich an, bevor er fragte:

»Sie haben einen solchen Patienten gesehen?«

»Ich vermute es«, gab er zögernd zu.

»Wo, wann?«

Alles in ihm sträubte sich dagegen, die bedauernswerten Ärmsten in Mariental vor diesem Mediziner, und damit dem undurchsichtigen Apparat der Gesundheitsbehörde, bloßzustellen.

»Sie müssen uns informieren«, drängte der Arzt. »TSE und alles, was damit zusammenhängt, ist meldepflichtig. Wenn Sie Informationen zurückhalten, machen Sie sich strafbar.«

»Können Sie dem Patienten helfen?«

»Nicht, wenn er an vCJD erkrankt ist, aber dazu müsste er zuerst untersucht werden.«

Der Mann war wenigstens ehrlich.

»Sie«, sagte Leon. »Der Patient ist eine junge Bäuerin, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. Wenn Sie mir versprechen, alles zu tun, um sie zu retten, sage ich aus.«

»Ich bin Arzt. Leben retten ist unsere Aufgabe. Der Frau ist auf keinen Fall geholfen, wenn Sie schweigen.«

Widerstrebend erzählte er von der Verbrennung verseuchter Schafe und der blutjungen Mutter, die wahrscheinlich von deren Hirn gegessen hatte, weil das so üblich und sonst nichts mehr vorhanden war. Er fühlte sich dabei wie ein Verräter. Er wusste, was jetzt mit den Farmern im Süden geschehen würde. Die Behörden hatten keine andere Wahl, als auch noch die restlichen Tiere schlachten zu lassen. Den Bauern würde jede Lebensgrundlage entzogen, das Projekt würde gestoppt. Nach endlosen Verhandlungen im Parlament würde vielleicht ein neues Projekt gestartet, zu spät für viele verarmte Familien. Ihm war speiübel nach seinem Bericht.

»Kann ich ein Glas Wasser haben?«, fragte er matt.

Der Arzt ging zur Tür, schloss auf und rief einer Assistentin. Zwei Uniformierte standen vor dem Eingang. Sie unterhielten sich kurz mit dem Pathologen, zu leise für Leons Ohren, dann zogen sie ab.

»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte er misstrauisch, als der Arzt ihm das Wasser hinstellte.

»Nichts weiter«, lächelte sein Gegenüber. »Sie haben ja ausgesagt.«

»Die hätten mich sonst verhaftet?«

Der Arzt zuckte nur mit den Schultern. Er bündelte die Akte und schob sie ihm hin.

»Der Befund, für Sie. Den Kopf werden wir zur Sicherheit einäschern. Das kostet Sie nichts.«

Er sprang verärgert auf und ergriff die Akte.

»Herzlichen Dank auch«, brummte er. »Sie geben mir Bescheid über die Frau? Kann ich mich darauf verlassen?«

»Wir werden Sie umgehend informieren. Entschuldigen Sie die Vorsichtsmaßnahme ... Ich kannte Sie nicht und durfte kein Risiko eingehen. Vorschrift, verstehen Sie?«

Leon wandte sich ab.

»Beruhigend, wenn sich Leute an Vorschriften halten«, bemerkte er ironisch, bevor er die Tür hinter sich zuzog.

Laura empfing ihn mit neugierigem Blick, sagte jedoch nichts, als er an seinen Arbeitsplatz in der Redaktion zurückkehrte, den Computer auspackte und nichts tat, als geistesabwesend an die Decke zu starren. Er hätte jetzt viel dafür gegeben, die deprimierende Geschichte mit dem deutschen Litkop zu besprechen. Anzurufen versuchte er nicht. Chris würde ihn wie stets in letzter Zeit einfach wegdrücken. Die deutsche Kommissarin hatte Wichtigeres zu tun, als mit ihm über die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Welt zu sinnieren. Er verstand das, trotzdem fühlte er sich von ihr vernachlässigt. Keine gute Voraussetzung, Ärger und Verbitterung rasch loszuwerden. Er wünschte sich das erste Mal, seit er hier arbeitete, seine Recherche wäre buchstäblich im Sand verlaufen, sein Freund Usko wäre nie nach Mariental gefahren.

Die schreckliche Melodie des Handys riss ihn aus seinen Gedanken.

»Alexia Kawana ist vor zehn Tagen gestorben«, sagte die Stimme des Pathologen. »Tut mir leid, Mr. Nuuyoma.«

Leon packte den Laptop wieder ein und verließ wortlos das Büro.