KAPITEL 11

 

London

 

Detective Sergeant Ron Cornwallis stand mit hängenden Schultern und fragendem Blick vor dem Kaffeeautomaten, als erwarte er einen Vorschlag von der Maschine.

»Ich gebe einen aus, wenn du mir verrätst, wie er drauf ist«, sagte Chris.

Der fragende Blick wanderte zu ihr.

»Ich bin immer noch da«, murmelte er.

Es klang, als verblüffte ihn diese Tatsache.

»Nicht suspendiert?«, fragte sie erfreut.

»Innendienst – bis die Untersuchung abgeschlossen ist.«

»Das ist gut! Ich meine, der Innendienst wird nicht lange dauern. Sobald ich meine Aussage gemacht habe ...«

»Er will dich nicht sehen.«

Sie lachte. »Der war gut. Ich werde DCI Rutherford meine Aufwartung machen, ob es ihm passt oder nicht. Übrigens weiß ich, was seinen Kakteen fehlt. Die sehen nämlich jämmerlich aus.«

»Da wird er sich freuen«, brummte Ron leise und drückte endlich den Knopf für den scheußlichen Cappuccino.

Sie machte sich mit einem unterdrückten Seufzer auf den Weg zum Treibhaus, dem Glaskasten, der dem Detective Chief Inspector als Büro diente. Auf der Fahrt ins Präsidium hatte sie sich überlegt, wie sie dem Alten gegenübertreten wollte, um den Schaden in Grenzen zu halten. Sie schwankte immer noch zwischen zwei Rollen. Sollte sie ihm die naive Gretel vorspielen, die Blonde, die kein Mann ernsthaft zurechtweisen konnte? Würde der Auftritt als überkorrekte, hochgeschlossene, reuige Beamtin helfen? Sie tendierte zu dieser Variante und hatte ihre Garderobe entsprechend sorgfältig ausgesucht. Beide Rollen kannte er jedoch bereits. Beim Anblick des grimmigen Gesichts, mit dem er sie empfing, entschloss sie sich spontan, ihn zu überraschen. Er liebte die Kürze. Die sollte er haben. Ein angedeutetes Kopfnicken musste als Gruß genügen. Sie klatschte ihm ein Bündel Papiere auf den Tisch und setzte sich unaufgefordert.

»Meine Aussage«, bemerkte sie dazu.

Er starrte erst verdutzt die Papiere an, dann sie. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder. Sie wischte sich unwirsch ein Stäubchen von ihrer weißen Bluse, das nur in ihrer Fantasie existierte, fixierte ihn mit strengem Blick und sagte:

»Ich möchte jetzt den DNA-Abgleich sehen.«

Der DCI räusperte sich. Ohne ein Wort zu sagen, begann er, lustlos in ihrem Bericht zu blättern.

»Muss ich daraus schließen, dass noch kein Resultat vorliegt?«, fragte sie im Tonfall ungläubigen Staunens.

»Hören Sie, Frau Kommissarin …«

Das letzte Wort sagte er auf Deutsch. Sie korrigierte sofort, auch auf Deutsch:

»Oberkommissarin.«

Mit der einen Hand schob er die Papiere beiseite, die andere wischte einen eingebildeten Haufen Ärger vom Tisch.

»Wie kommen Sie dazu …«

Wieder ließ sie ihn nicht ausreden.

»Steht alles da drin«, sagte sie kühl. »Sie hätten auf mich hören sollen. Der Verdächtige kehrte in die Fabrik zurück. Ich habe es vorhergesehen. Sie hätten ihn nur abzufangen brauchen. Ich habe zwei Mordfälle aufzuklären. Der Täter durfte nicht entwischen. Ich musste handeln.«

»Der Täter?«, platzte er heraus. Sein Gesicht lief rot an. »Ein Verdächtiger ist tot! Erschossen von einem meiner Beamten. Saubere Arbeit.«

»Bekomme ich jetzt den DNA-Abgleich?«

»Ihre verdammte DNA-Analyse ist noch nicht abgeschlossen.«

Sie stand auf.

»Ich werde mich darum kümmern«, sagte sie mit aufmunterndem Lächeln und wandte sich zum Gehen. »Sie wissen, wie Sie mich erreichen, falls Fragen zum Bericht auftauchen.«

»Einen Dreck werden Sie!«, rief er wütend.

Auch er stand jetzt. Mit den Fäusten auf den Tisch gestützt, musterte er sie wie ein Bulle vor dem Angriff. Zu ihrer Überraschung fiel er sogleich wieder in den Sessel zurück und fragte, als hasste er von vornherein jede mögliche Antwort:

»Was gibt's?«

Ron stand in der Tür, halb abgewandt, bereit, sofort zu flüchten.

»Sir, die Pathologie hat wichtige Ergebnisse – sagt sie.«

»Sagt sie, so so, und sagt sie vielleicht auch welche Ergebnisse?«

Ron schüttelte errötend den Kopf.

»Wir sollen vorbeikommen, es sei wichtig.«

»Das sagten Sie bereits, wenn ich mich nicht irre.«

»Die DNA-Abgleiche mit den Spuren aller Opfer sind übrigens positiv«, versicherte Ron hastig, als sei ihm diese Nebensächlichkeit gerade eingefallen.

»Na also!«, rief Chris erfreut. »Jetzt haben wir den Beweis: Moses Angula war der Täter. Das Motiv wird hoffentlich klar nach der Vernehmung des Laborchefs Greg Milton. Steht auch in meinem Bericht.«

DCI Rutherfords Gesichtsfarbe wurde eine Spur dunkler.

»Aus meinen Augen – alle beide!«, fauchte er.

Ron ließ es sich nicht zweimal sagen, und sie folgte ihm. An der Tür drehte sie sich nochmals um. Sie bedankte sich bei Rutherford lächelnd für den Schutzengel und mahnte mit besorgter Mine:

»Sie sollten besser auf die Kakteen achten. Die brauchen mehr Licht.«

Schnell schloss sie die Tür hinter sich. Ron eilte geduckt an seinen Schreibtisch, als wäre sein Boss mit der neunschwänzigen Katze hinter ihm her.

»Ist doch ganz gut gelaufen«, grinste sie.

Zur Bestätigung setzte sie sich auf die Tischkante neben den Bildschirm, ließ ein Bein lasziv baumeln und öffnete die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse. Der keusche Look war nicht mehr nötig.

»Darüber kann ich nicht lachen«, murmelte er bedrückt, wobei er ihre Finger fasziniert beobachtete. »Du hast ihn wütend gemacht.«

Sie legte beruhigend die Hand auf die Seine. »Wütend ist er schon gewesen. Das geht vorbei.«

»Die Gerichtsmedizin erwartet uns. Mad Barclay wird sich freuen, dich wiederzusehen.«

»Das fürchte ich auch.«

Auf dem Weg in die Pathologie reagierte Ron ungewöhnlich wortkarg auf ihre Bemerkungen. Die Frage nach seiner Flamme beantwortete er mit einem lapidaren: »Sie hat mir ein Gedicht geschrieben.« Das musste reichen. Kurz vor dem Eintritt in Dr. Barclays Totenreich blieb er überraschend stehen, als hinderte ihn eine unsichtbare Barriere daran, sich der Leiche des Mannes zu nähern, dessen Leben er ausgelöscht hatte.

»Ich habe ihn erschossen«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Hättest du nicht sofort geschossen, läge ich jetzt da drin.«

Sie bereute die Bemerkung sogleich. Man durfte nicht ein Leben gegen das andere aufwiegen. Das mochte zwar bequem sein, dennoch war es falsch. Ron schien der moralische Fehltritt nicht aufzufallen. Er nickte zögernd. Wie um sich Mut einzuflößen, fügte er hinzu:

»Oder wir beide.«

Dr. Barclay begrüßte Ron mit finsterem Blick und einer spitzen Bemerkung über die unentschuldigte Abwesenheit des Chief Inspectors. Als Chris eintrat, änderte sich die Wetterlage schlagartig.

»Die Sonne geht auf«, strahlte sie.

Sie spitzte die Lippen, als wollte sie Chris küssen. Zugleich musterte die Ärztin sie wohlwollend. Chris fragte sich, ob sie eine Pirouette wünschte, um alle Seiten zu beurteilen. Schließlich seufzte Dr. Barclay und sagte inbrünstig mit einer Stimme, die tief in ihrem Schoß entstehen musste:

»Jammerschade, dass Sie nur hier unten Zeit für mich haben, Dr. Hegel.«

»Was würde denn Ihre Freundin dazu sagen, wenn es anders wäre?«, fragte Chris mit provozierendem Lächeln.

»Ach, Sie meinen die süße, kleine Arzthelferin? Hat leider nicht gehalten. Sie wissen ja: Ich will nur Sex ohne Tabus. Sie wollte mehr.«

Ron hörte mit offenem Mund zu. Seine heißen Ohren brauchten die Kühlung.

»Ohne Tabus?«, wiederholte Chris nachdenklich, als überlegte sie sich, das tolle Angebot anzunehmen.

»Ich werde Ihnen gerne erklären, was ich darunter verstehe«, grinste die Pathologin, »aber wir sollten uns zuerst um die Ergebnisse meiner Untersuchungen kümmern. Unser Sergeant wird sonst ungeduldig.«

Ron folgte ihnen tapfer in die Leichenhalle. Barclay schlug das Tuch über Angulas Leichnam zurück, sodass sie den Kopf sehen konnten.

»Sie hatten Glück, dass Ihr Kollege genau an dieser Stelle getroffen hat«, erklärte sie Chris. »Die Kugel hat Teile des Diencephalon und der Medulla oblongata zerstört, also Teile des Stammhirns. Man nennt den Schuss in den Hinterkopf auf der Höhe zwischen Nase und Oberlippe den finalen Schuss, denn beim Getroffenen brechen alle Körperfunktionen sofort zusammen. Unser Kunde hier war sofort tot.«

Ron hörte leichenblass zu. Kurze Zeit kämpfte er mit sich, dann murmelte er eine Entschuldigung und rannte hinaus zur Toilette.

»Ich kann ihn verstehen«, sagte Chris, um einer sarkastischen Bemerkung der Pathologin zuvorzukommen.

Barclay wandte sich wieder dem Toten zu. »Die Technik hat seine DNA mit den Proben aus Felixstowe und Deutschland verglichen.«

»Alle positiv, ich weiß. Damit und mit der sichergestellten Tatwaffe ist die Indizienkette geschlossen. Moses Angula war der gesuchte Täter in allen drei Mordfällen.«

»Da liegen Sie wohl nicht ganz falsch, meine Liebe«, stimmte Barclay zu. »Auch die Körpergröße und die kräftige Anatomie entsprechen genau dem Täterprofil.«

»Den Täter hätten wir also. Bleibt nur noch das Rätsel des Motivs.«

Barclay lächelte hintergründig. »Vielleicht liefert die Analyse der Gewebeprobe aus Felixstowe einen Hinweis.«

Sie deckte den Leichnam zu und ging voran ins angrenzende Labor. Sichtlich erleichtert schloss Ron sich ihnen an, ohne den Seziertisch noch eines Blickes zu würdigen. Die Pathologin ging zum Kühlschrank und zog die Tür auf. Eine gläserne Salatschüssel stand zuvorderst auf dem Regal. Die blau–rote Masse aus Miltons Labor schwamm darin in ihrem eigenen, ekligen Saft. Ron wandte sich sofort ab, harrte jedoch mutig aus.

Barclay deutete auf die Schüssel und fragte überraschend: »Haben Sie Kinder?«

»Kann mich nicht erinnern«, antwortete Chris verblüfft.

»Dann wissen Sie wahrscheinlich nicht, worum es sich hier handelt, oder irre ich mich?«

Beide schüttelten den Kopf. Barclay schloss den Kühlschrank und dozierte:

»Das, meine jungen Detectives, ist eine menschliche Plazenta, vulgo Mutterkuchen oder auch Nachgeburt genannt.«

»Ekelhaft!«, rief Ron schaudernd.

»Finde ich gar nicht«, erwiderte Barclay mit strafendem Blick. »Sie selbst wurden nur gesund geboren, weil sie genau so ein Mutterkuchen mit lebenswichtigen Nährstoffen versorgt hat, als sie noch zu klein waren, sich dafür zu bedanken.«

»Angula hat Plazenta nach England geschmuggelt?«, fragte Chris in Gedanken versunken. Sie sah Barclay ratlos an. »Wozu? Gibt es hierzulande nicht genug davon? Was ist so besonders an dieser Plazenta?«

»Oh, das kann ich Ihnen genau sagen. Ich habe mir solche Fragen natürlich auch gestellt. Im Vereinigten Königreich wird ungefähr jede Minute ein Kind geboren. Es fällt also eine ziemliche Menge Plazenta an in unserm Land. Weitaus der größte Teil wird jedoch verbrannt. Der Rest landet in der Kosmetikindustrie und bei dubiosen Pseudo-Pharmazeuten. Die produzieren Salben und Globuli, die das ewige Leben versprechen. Wer zu viel davon einwirft, fällt in die Pubertät zurück. Alles Humbug natürlich.«

»Es ist also schwierig, Plazenta zu bekommen?«

Barclay schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es gibt kein Gesetz, das es einer Mutter verbieten würde, ihre Plazenta nach der Geburt mit nach Hause zu nehmen. In unserer Kultur ist es einfach nicht üblich.«

»Was ist das Besondere an dieser Plazenta?«

»Zwei Befunde sind mir aufgefallen. Erstens ist diese Probe von auserlesener Qualität, Premium-Plazenta sozusagen. Die toxikologische Standard-Analyse ergibt nur einen Bruchteil der Schadstoffe, die man heutzutage leider in Plazenta der Industriestaaten findet. Diese Probe stellt die reine, saubere Natur dar, unverbraucht, unbelastet mit Antibiotika und Chemikalien aus Kosmetika.«

»Besonders hochwertige Plazenta also.«

»Das sagt uns die Standard-Analyse.«

»Aber?«

»Ich habe auch eine DNA-Analyse der Plazenta veranlasst. Sie stammt nicht von einer Verwandten des Täters, ist aber vom selben Genotyp. Genauer: Die Plazenta stammt von einer jungen Frau im Alter zwischen sechzehn und zwanzig Jahren vom Stamm der Owambo oder Herero. Genauer lässt sich das nicht bestimmen.«

»Der Täter ist ein Owambo«, sagte Ron.

»Eben.«

Das passte, dachte Chris. Angula hatte die Plazenta wahrscheinlich von einer Familie in der Umgebung von Mariental erhalten oder gekauft.

»Es erstaunt also nicht weiter«, fuhr Barclay fort. »Parallel zur DNA-Analyse ist ein neuer Test durchgeführt worden, der erst seit wenigen Wochen bei gewissen Gewebeproben verlangt wird. Es handelt sich um den Nachweis von PrP(sc). Das sind pathogene Prionenproteine. Der Befund war eindeutig positiv.«

Chris erschrak. »Moment! Prionen – hat das etwas mit Rinderwahn zu tun?«

Barclay lächelte und nickte anerkennend. »Sie sind auf der richtigen Spur, meine Liebe. Beim Menschen spricht man bei missgebildeten Prionen allerdings aus naheliegenden Gründen nicht von Rinderwahn, sondern von der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, CJD. In diesem Fall handelt es sich um die Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, vCJD.«

»Die junge Mutter leidet an vCJD?«

»Wahrscheinlich nicht mehr. Die Krankheit führt in diesem fortgeschrittenen Stadium unweigerlich nach kurzer Zeit zum Tod.«

»Mein Gott – und das Baby?«

»Das lässt sich nicht vorhersagen. Es ist möglich, dass sich keine pathogenen Prionen in seinem Blutkreislauf befinden. Es kann ohne Weiteres überleben.«

Ron schien erst allmählich zu begreifen, worüber sie sprachen.

»Ich verstehe nicht – weshalb hat man ausgerechnet diesen Test gemacht?«, fragte er verwirrt.

»Eine gute Frage, Sergeant. Der Grund ist eigentlich geheim. Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit tritt normalerweise sehr selten auf, aber während der letzten drei Monate haben sich allein in England fünf Todesfälle ereignet, die eindeutig auf vCJD zurückzuführen sind. Der NHS, die Gesundheitsbehörde, will nicht, dass die Presse das Thema zu früh breitschlägt, um Panik zu vermeiden. Ob das eine schlaue Taktik ist, wage ich allerdings zu bezweifeln.«

»Aber«, warf Ron ein, »diese Fälle können unmöglich mit unserer Plazenta zusammenhängen. Die ist erst kürzlich aus Namibia ...«

»Schon richtig, Ron«, sagte Chris, »nicht diese Plazenta. Aber wir wissen nicht, wie viele solche Transporte bereits erfolgt sind. Mit krankhaften Prionen verseuchtes Gewebe könnte schon früher ins Land gekommen sein. Und jetzt gibt es die unerklärliche Häufung der vCJD-Todesfälle. An solche Zufälle glaube ich nicht.«

»Wie zum Teufel haben sich diese Leute denn angesteckt?«

Die Pathologin beantwortete diese Frage: »Normalerweise über den Verdauungstrakt.«

Ron grunzte und rannte mit verzerrtem Gesicht zur Toilette.

 

Norwich, Norfolk

 

Josh Sorin fand das Betragen der Krankenschwester mit dem Kindergesicht und dem fehlenden Busen reichlich impertinent.

»Keine Besuchszeit, was soll das heißen?«, ereiferte er sich. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«

Sie sah ihn ungerührt an, ohne den Weg zum Trakt H freizugeben.

»Wer Sie sind, ändert nichts an der Besuchszeit«, belehrte sie ihn, »die beginnt in exakt achtundvierzig Minuten. Sie dürfen gerne so lang in der Cafeteria warten, Sir.«

Er überlegte sich kurz, wo er zuerst zubeißen wollte, doch eine bekannte Stimme hinderte ihn daran, zum Mörder zu werden.

»Josh! Was kann ich für dich tun?«, rief sein Freund Morgan Davies.

»Ich habe gehört, der Judge liege auf deiner Station.«

Der Neurologe nickte mit ernster Miene.

»Schon gut«, beruhigte er die Schwester, die mürrisch auf ihrem Wachtposten ausharrte. »Ich kümmere mich um den Gast.«

»Emily war die ganze Nacht bei Spencer«, bemerkte der Arzt auf dem Weg zum kranken Freund.

Wenn Spencers optimistische Gattin am Krankenbett ausharrte, musste es schlimm um Judge Turpin stehen, dachte Josh.

»Was fehlt ihm denn?«, fragte er.

»Er hat Lähmungserscheinungen, Gleichgewichtsstörungen. Wir behalten ihn im Krankenhaus zur Beobachtung.«

»Wie schlimm ist es?«

»Du weißt, darüber darf ich nicht reden. Also, hier liegt der Patient. Ich muss leider wieder zurück in den OP.«

Josh hasste die Geheimniskrämerei der Mediziner. Arztgeheimnis, lächerlich! Meist war es nichts als das Eingeständnis von Ignoranz. Forsch trat er ein, mit einem lockeren Spruch auf den Lippen, den er sogleich bereute, als er Emilys graues Gesicht mit den verweinten Augen erblickte. Die Frau des Judge versuchte zu lächeln.

»Er schläft schon wieder«, flüsterte sie.

Dabei sah sie ihn an, als erwarte sie von ihm eine Erklärung für das seltsame Verhalten ihres Mannes. Sein Freund, der noch letzte Woche Vitalität und Sarkasmus versprüht hatte, lag mit eingefallenem Gesicht wie tot in den Kissen.

»Wie geht es ihm?«, fragte er leise.

»Er ist gestern Nachmittag plötzlich zusammengebrochen, konnte nicht mehr aufstehen. Die Muskeln gehorchen ihm nicht mehr, sagt er.«

»Hat er Schmerzen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er behauptet, er fühle gar nichts, was immer das heißen mag.«

»Was sagen die Ärzte?«

»Die kriegen das Maul nicht auf«, ächzte der Judge.

Er versuchte mit verbissenem Gesicht, sich aufzusetzen. Nicht einmal der Griff zur Steuerung des Bettes gelang ihm. Fluchend ließ er sich von Emily helfen.

»Wie konnte das passieren?«, fragte Josh betroffen.

»Wenn ich das wüsste. Niemand weiß etwas. Von einer Sekunde auf die andere knipst dir jemand den verdammten Bewegungsapparat aus. Du spürst nichts, alles scheint in perfekter Ordnung, bloß rühren kannst du dich keinen Zoll. Gestern waren es die Beine, jetzt geht's weiter mit dem Rücken. Du darfst mir glauben: Das wünschst du keinem Feind, nicht einmal dem verfluchten Gerichtspräsidenten, dem Trottel.«

»Spencer!«, rief Emily entrüstet.

»Stimmt doch, meine Liebe. Ich werde verrückt hier drin, und du solltest endlich nach Hause fahren und dich ausruhen.«

»Da hat er vermutlich recht«, pflichtete Josh ihm bei.

»Natürlich habe ich recht!«

Emily ließ sich nicht überzeugen. »Ich bleibe, bis die Ärzte sagen, was mit dir los ist.«

»Manchmal dauert es länger, bis sie eine Diagnose stellen können«, bemerkte Josh vorsichtig.

»Rubbish! Morgan weiß ganz genau Bescheid. Er will nur nicht mit der Wahrheit herausrücken.«

Das werden wir sehen, dachte Josh. Es fiel ihm schwer, Optimismus vorzutäuschen. Eine unheimliche Angst mischte sich in seinen Ärger über die unfähigen Ärzte. Das Schicksal des Judge könnte auch ihn jederzeit ereilen. Aus dem mächtigen Patriarchen würde von einem Augenblick zum nächsten ein unnützer Fleischkloß, den man füttern und waschen müsste wie ein hilfloses Baby. Eine ganz und gar unerträgliche Vorstellung. Er verabschiedete sich mit einem unsicheren Lächeln, um sich nochmals Morgan vorzuknöpfen.

Ungeduldig wartete er im Ärztezimmer, bis der Neurologe aus dem OP zurückkehrte. Morgan ahnte, was er beabsichtigte und reagierte entsprechend abweisend:

»Ich muss gleich wieder weg. Was willst du?«

»Die Wahrheit, Morgan. Die Wahrheit über unsern Freund, den Judge.«

Morgan seufzte. »Habe ich dir nicht schon erklärt ... Ach, Scheiß drauf! Du gibst ja doch keine Ruhe.«

»Da will ich dir nicht widersprechen.«

Morgan senkte die Stimme. »Es bleibt unter uns, verstanden?«

»Keine Frage.«

»Die Diagnose ist noch nicht eindeutig, aber es sieht nicht gut aus für den Judge. Alle Symptome deuten darauf hin, dass er an einer seltenen Hirnerkrankung leidet.«

»Ein Tumor?«

Morgan schüttelte den Kopf. »Leider nein, bin ich versucht zu sagen. Bei Tumoren besteht immerhin die Chance, sie zu entfernen.«

Josh erschrak. »Wie! Willst du damit sagen, der Judge kommt nicht wieder auf die Beine?«

»Schlimmer, falls unsere Vermutung zutrifft.«

Eine lange Pause entstand. Spencer Turpins Schicksal schien Morgan ebenso zu erschüttern wie ihn.

»Wie viel Zeit bleibt ihm?«

Der Arzt lächelte bitter. »Darüber will ich nicht spekulieren.«

Josh begriff, dass er nichts mehr für seinen Freund tun konnte. Der Ärger über die eigene Machtlosigkeit kochte in ihm hoch. Er verließ die Klinik ohne ein weiteres Wort.

Morgan spürte den Schwindelanfall Sekunden, bevor er ihn übermannte. Seine Finger gruben sich ins Polster der Armlehnen, während er auf das Unvermeidliche wartete. Es blieb keine Zeit mehr für den Griff zum Wasserglas oder die paar Schritte zum Sofa, um sich hinzulegen. Er klammerte sich an den schweren Sessel, damit ihn der Verlust des Gleichgewichtssinns nicht zu Boden warf. Die Illusion der Schwerelosigkeit traf ihn wie ein Schlag. Unten und oben verloren ihre Bedeutung. Die optischen Reize widersprachen den Signalen seines Gleichgewichtsorgans. Arme und Beine wollten gegensteuern. Das Chaos im Stammhirn schlug ihm sogleich auf den Magen, wie der Landratte die schwere See. Dass bloß ein paar Tropfen scharfe Magensäfte in den Gaumen schwappten, verdankte er einzig dem Umstand, seit zwanzig Stunden keine feste Nahrung aufgenommen zu haben. Das Zimmer und die Möbel verloren für einen Augenblick die klaren Konturen. Kanten verschoben und verdoppelten sich wie auf dem Fernsehschirm bei schlechtem Empfang.

Plötzlich war der Spuk vorbei. Die Anfälle verliefen jedes Mal nach demselben Muster. Es gab keine Nachwirkungen außer der Übelkeit. Das MRI zeigte nichts Auffälliges, das hatte er längst überprüft. Seine Blutwerte waren in Ordnung, Cholesterin wie seit Jahren an der oberen Grenze, aber bei gutem Willen durchaus im grünen Bereich. Trotzdem lief etwas grundsätzlich falsch, denn die Anfälle häuften sich. Grün im Gesicht, den Gaumen verpestet von der Magensäure, eilte er zum Waschtisch. Gierig schlürfte er das kalte Wasser aus der hohlen Hand.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Assistenzärztin an der Tür.

Nichts war in Ordnung, doch er sagte nur: »Ja bitte?«

»Der Befund von Richter Turpin ist eingetroffen. Das Team erwartet Sie im Besprechungszimmer.«

»Danke.«

Er schritt mit bleiernen Füßen den Korridor hinunter. Als er ins Zimmer trat, hatte der behandelnde Oberarzt bereits begonnen, die Schichten des Tomogramms auf dem Großbildschirm zu besprechen. Die zweite, unabhängige MRI-Untersuchung des Richters ergab keinen neuen Befund, keine Spur pathogenen Gewebes. Das Gehirn des Judge schien völlig in Ordnung zu sein.

»Karzinome und Durchblutungsstörungen können wir somit definitiv ausschließen«, fasste der Oberarzt zusammen.

Die Kollegen stimmten murmelnd zu.

»Das Risiko der Biopsie war also gerechtfertigt«, stellte Morgan erleichtert fest.

Er hatte die Gewebeentnahme aus der Hirnmasse seines Freundes gegen den Widerstand des behandelnden Arztes durchgesetzt, nachdem das erste MRI zu keinem Befund geführt hatte. Es war ein gefährliches Glücksspiel, die richtige Stelle im Hirn zu finden und Proben zu entnehmen, ohne dem Patienten weiteren Schaden zuzufügen. Das Ergebnis der toxikologischen Untersuchung lag nun vor. Ein Raunen ging durchs Kollegium, als die Tabelle auf dem Monitor erschien.

»Zur Untersuchung wurden Proben der Gehirn-Rückenmarkflüssigkeit nach der neuen Methode auf PrP(sc) getestet«, erklärte der Oberarzt. »Das Resultat ist deutlich ausgefallen, wie Sie sehen. Das Protein 14-3-3 als Marker bestätigt die Vermutung: vCJD.«

»Wie spezifisch ist der neue Test?«, fragte der Jüngste der Gruppe.

»Der letzte Blindtest in Australien ergab null, ich wiederhole, null falsche Positive und eine korrekte Diagnose in 87.5% der Fälle. Ich fürchte, das Resultat unserer Untersuchung ist nicht verhandelbar.«

»Wir sollten den Patienten sofort isolieren«, forderte der junge Arzt.

Obwohl er nur aussprach, was jeder im Zimmer wusste, begehrte Morgan auf:

»Kommt nicht infrage! Der Judge ist mein Freund. Ich werde ihm nicht die letzten Tage zusätzlich erschweren. Unter keinen Umständen werde ich das zulassen.«

Er blickte angriffslustig in die Runde. Keiner wagte zu widersprechen.

»Allerdings«, fuhr er weiter, »muss die Gesundheitsbehörde umgehend informiert werden. Das ist meine Aufgabe.« Zum Oberarzt gewandt, sagte er: »Wir beide sprechen nachher mit dem Judge. Und du solltest sicherstellen, dass alle Personen, die mit den Proben in Berührung gekommen sind, sich peinlich genau an die Sicherheitsbestimmungen halten. Die verwendeten Instrumente werden am besten vernichtet. Prionen sind äußerst heimtückisch und widerstandsfähig – und sie lieben Metall.«

Der Kollege, der bisher geschwiegen hatte, stellte die wichtigste Frage:

»Wie hat er sich infiziert?«

Keiner wusste es. Es kam zwar vor, dass sich Proteine spontan falsch entwickelten und dadurch zu pathogenen Prionen mutierten, doch dieser Vorgang trat extrem selten auf. Es war die unwahrscheinlichste Erklärung für die Erkrankung seines Freundes. Eine Infektion durch verseuchtes Fleisch erschien ihm plausibler, doch der letzte Fall von BSE bei Rindern lag Jahre zurück.

»Es ist nicht unsere Aufgabe zu spekulieren«, sagte er. Der NHS muss jetzt aktiv werden.«

Sein Handy meldete sich. Der Neurologe vom UCL in London war am Apparat.

»Hast du eine Minute, können wir reden?«, fragte er. Seine Stimme klang gestresst. Morgan verließ das Zimmer. »Also, schieß los.«

»Es gibt leider keine guten Nachrichten, Morgan. Dein Bluttest hat positiv angeschlagen, tut mir leid.«

Er hatte das Gegenteil erhofft aber nichts anderes erwartet. Dennoch schockierte ihn die Hiobsbotschaft. Alle möglichen Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Hundert Fragen wollten beantwortet werden, eine wichtiger und drängender als die andere.

»Irrtum ausgeschlossen?«, fragte er geistesabwesend.

»In diesem Fall leider ja. Der Bluttest ist zwar noch nicht ausgereift und weniger empfindlich als die klassische Methode über die Biopsie, wenn er aber so eindeutig positiv ausfällt, ist der Befund klar.«

»Ich habe mich also mit vCJD infiziert.«

»Ja. Tut mir leid, nichts Besseres – Herrgott, ich weiß nicht was ich sagen soll, Morgan. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann ...«

Er bedankte sich und legte auf. Die Zeit drängte. Die hundert Fragen mussten beantwortet werden. Die ersten Symptome der tödlichen Krankheit waren längst da. Bald würden die Lähmungserscheinungen auch ihn ans Bett fesseln. Zwei, drei Wochen blieben ihm noch, eine verdammt kurze Zeit, um all die unerledigten Dinge zu regeln, die sich in fünfzig Jahren angesammelt hatten.

 

Patrick Sorin war nicht bei der Sache. Verwirrt von all den schlechten Nachrichten, die in letzter Zeit auf ihn einstürmten, hörte er nur mit einem Ohr auf das, was der Buchhalter über die laufenden Projekte zu sagen hatte. Offenbar standen allesamt finanziell auf tönernen Füssen. Sein eigenes Vorhaben war gesichert, das Flaggschiff der vom Verein ›Feed the Planet‹ geförderten Projekte. Er bezahlte es bis auf den letzten Penny aus der eigenen Tasche, die Mutters Hinterlassenschaft so großzügig gefüllt hatte.

Nein, Geld war nicht sein Problem. Er sorgte sich um die technischen Komplikationen, die seine Arbeit in jüngster Zeit behinderten. Verzögerungen konnte er sich nicht leisten, nicht in dieser alles entscheidenden Phase. Er müsste sich jetzt um sein eigenes Projekt kümmern, statt untätig in diesem unterkühlten, gotischen Gewölbe zu sitzen. Als wissenschaftlicher Beirat blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als auszuharren. Sein Wort hatte Gewicht an solchen Sitzungen. Oft gab seine Meinung den Ausschlag für die Beschlüsse des Vereins. Die zweiundzwanzig Mitglieder von ›Feed the Planet‹ waren auf ihn angewiesen. Und er auf sie, denn sie setzten sich mit Eifer und großer Leidenschaft für das Anliegen ein, dem er seine ganze Kraft widmete und dem er alles andere opferte: der Bekämpfung des Hungers in der Welt und der nachhaltigen Produktion von Nahrung für künftige Generationen.

Jedes Treffen der zweiundzwanzig Aufrechten rief ihm schmerzlich in Erinnerung, wie wenig ihr kleiner Verein bewirken konnte angesichts des monströsen Ausmaßes an Fehlentwicklungen bei der weltweiten Nahrungsmittelproduktion. Aber jede große Reise beginnt mit dem ersten Schritt, das galt auch für ›Feed the Planet‹. Die andern konnten es noch nicht wissen, doch er war überzeugt vom unmittelbar bevorstehenden Durchbruch – falls sein Vorhaben nicht im letzten Moment scheiterte.

»Sind wir uns einig, dass wir unsere Beiträge ab sofort auf diese drei wichtigsten Projekte beschränken?«, fragte der Buchhalter. Er blickte dabei in seine Richtung.

»Wieso – welche?«

»Erde an Patrick: Unsere Kasse ist leer. Ist das angekommen?«, rief Trix ungehalten.

Die magersüchtige Botanikerin führte den fundamentalistischen Flügel der Gruppe an. Sie dachte so grün, dass selbst ihre Haut grünlich schimmerte. Sie konsumierte eindeutig zu wenig Kalorien, zu wenig Eisen und zu wenig Eiweißstoffe. Ihre Haut spannte sich wie ein straffes Zelt über das Skelett, dass sie mit fünfundvierzig aussah wie die Mumie im Britischen Museum. Obwohl ihn das Aussehen irritierte wie jeden, der ihr begegnete, war es nicht der Auslöser für seine Abneigung gegen sie. Sie war Naturwissenschaftlerin, hatte Biologie studiert wie er. Trotzdem dachte sie zu kleinkariert, glaubte, das Problem der zunehmenden Nahrungsmittelknappheit ließe sich durch Optimierung der Produktion, der Verteilung und mit Erziehung lösen. Sie wollte nicht verstehen, dass die Methode der schrittweisen, stetigen Verbesserung nicht zum Ziel führte in einer Welt, wo die Bevölkerung und damit der Rohstoff- und Energieverbrauch exponentiell wuchsen. Er warf ihr vor, auf diesem Auge blind zu sein und in althergebrachten Verhaltensmustern zu verharren, obwohl alles darauf hindeutete, dass es revolutionäre Technologien brauchte, radikal neue Ansätze, um künftige Generationen gerecht und nachhaltig zu ernähren.

Nachhaltigkeit: Dieses Wort, das gar in ihren Statuten auftauchte, mochte er auch nicht. Man benutzte es in so unterschiedlichen Zusammenhängen, dass es nichts mehr bedeutete. Nach seiner Vorstellung sorgte man am besten für eine langfristig positive Entwicklung, solang man sich aufgeklärt und intelligent im Sinne der wissenschaftlichen Methode verhielt, kritisch aber offen für neue Technologien.

Der Buchhalter blätterte zurück in seiner Präsentation. Stoisch zählte er die Projekte nochmals auf, die weiterhin gefördert werden sollten:

»Punkt eins: Die Aktion am Agricultural College zur Reduktion der Lebensmittelabfälle erhält 60% der Beiträge. Punkt zwei: Die Studie zur Reduktion von Warenverlusten beim Transport und Verkauf von Frischprodukten erhält 20%. Die restlichen 20% gehen an die Initiative der Farmer zur Förderung lokaler Produkte und Märkte.«

»Das alles verdient sicher unsere Unterstützung«, gab Patrick zu. »Aber gilt das nicht auch für die Initiativen an den Schulen? Je früher sich die Jugend mit unsern Zielen beschäftigt, desto besser. Ist es nicht so?«

»Hört, hört, der Idealist spricht«, spottete Trix. »Natürlich ist unsere Präsenz an den Schulen wichtig, aber das können wir auch mit Vorträgen und Seminaren erreichen, die uns nichts kosten außer Zeit. In der Kasse herrscht Ebbe, wie gesagt. Da müssen wir nun mal harte Entscheidungen treffen.«

»Ich würde trotzdem das Benefiz-Dinner abwarten. Wer weiß, wie viel uns das in die Kasse spült.«

Die Angst vor der Pleite war zu groß. Die Mehrheit stimmte dem Vorschlag des Buchhalters zu. Als wollte sie ihm die ohnehin bedeutungslose Niederlage versüßen, setzte Trix zu einem ihrer gefürchteten Monologe über die Umerziehung der Nahrungskonsumenten an, also aller, die nicht ihrer Meinung waren.

»Wir können auch ohne Einsatz finanzieller Mittel viel erreichen«, verkündete sie begeistert. »Wir dürfen nur nicht müde werden, den Leuten vor Augen zu führen, wie sie ihr Verhalten zum Wohle aller ändern können. England und das ganze Vereinigte Königreich ist leider geradezu das Musterbeispiel, wie man sich nicht verhalten sollte. Wir sind das fetteste Volk Europas, weltweit nur noch übertroffen von einigen mikroskopischen Populationen auf Südsee-Inseln und natürlich den USA. Ein Viertel unserer Bevölkerung ist übergewichtig. Das beginnt schon bei Kindern im Vorschulalter. Im Schnitt konsumieren wir Tag für Tag mindestens tausend Kilokalorien zuviel. Das gilt natürlich nicht für jeden von uns, kleiner Scherz. Diese überflüssigen Kalorien machen uns krank, dabei würden sie an andern Orten dringend gebraucht. Das müssen wir den Leuten erklären. Verzicht auf Kalorien, die wir nicht brauchen: Darauf werde ich auch am Dinner besonders hinweisen. Ich werde noch einen zweiten Punkt besonders hervorheben, den man mit drei Worten umschreiben kann: Verzicht auf Fleisch. Abgesehen von der Tatsache, dass es barbarisch ist, Tiere zu töten, um uns den Bauch vollzuschlagen, gibt es gute wissenschaftliche Gründe, weshalb wir auf Fleisch verzichten sollten. Die Viehzucht benötigt eine Unmenge Kulturland. Die Futtermittelproduktion führt durch Monokultur zu beschleunigter Bodenerosion. Wisst ihr, wie lang die Natur braucht, um einen einzigen Zoll verlorenen, nährstoffreichen Boden zu regenerieren? Fünfhundert Jahre! Es gibt Schlaumeier, die verlorene Nährstoffe durch Kunstdünger ersetzen. Fragt einen Chemiker, woher diese Kunstdünger kommen, wie sie produziert werden. Abgesehen davon, dass auch dazu Rohstoffe benötigt werden, die nicht unbeschränkt vorhanden sind, stoßen solche Fabriken eine Menge CO2 aus, weil sie größtenteils mit fossiler Energie betrieben werden. Die heutige barbarische Fleischproduktion ist das Gegenteil von nachhaltig, meine Freunde. Ich werde das alles mit Zahlen belegen. Zuletzt nur noch eines: Wasser. Um ein einziges Kilogramm tierisches Eiweiß zu produzieren, braucht es hundertmal so viel Wasser wie für ein Kilogramm Getreide-Protein. Mehr muss ich dazu nicht sagen.«

Sie hatte sich während des Vortrags erhoben. Nun setzte sie sich wieder, erschöpft und glücklich. Patrick griff sofort ein, um den drohenden Applaus im Keim zu ersticken.

»Ich höre immer nur Verzicht, Verzicht!«, rief er leidenschaftlich. »Zugegeben, liebe Freunde, die Statistiken sehen schlimm aus. So kann es nicht weitergehen, aber Verzicht allein ist keine Lösung. Wir können aufklären, soviel wir wollen, die Menschen werden sich erst ändern, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Wir müssen größer denken. Die Weltbevölkerung wächst rasant. So wird es noch Jahrzehnte weitergehen. Die Milliarden Menschen in aufstrebenden Ländern blicken mit Neid auf unsere Wohlstandsgesellschaft. Sie wollen selbstverständlich auch daran teilhaben. Das ist nichts als ihr gutes Recht. Das bedeutet automatisch viel höheren Ressourcen-Verbrauch und führt zum weltweiten Kollaps, falls die Menschheit es nicht rechtzeitig schafft, neue Nahrungsquellen zu erschließen. Verzicht allein hilft da nicht weiter. Das funktioniert ebenso wenig wie die Illusion, durch Energiesparen eine nachhaltige Energieversorgung sicherzustellen. Wir müssen lernen, die kostbaren, beschränkten Rohstoffe des Planeten cleverer zu bewirtschaften. Dazu gehören in erster Linie das Wasser, wie Trix richtig betont hat, aber auch der Phosphor im Boden und hundert andere lebenswichtige Elemente. Mit andern Worten: Es braucht völlig neue Technologien, um den Hunger künftiger Generationen zu stillen.«

Trotz der Streicheleinheit, die er für Trix eingeflochten hatte, wollte sie aufbegehren. Er sprach schnell weiter:

»Und, liebe Freunde, es gibt sie, die neue Technologie. Ich werde das Benefiz–Dinner dazu nutzen, sie dem erlauchten Kreis der politischen Entscheidungsträger – und euch – vorzustellen. Diese Präsentation wird kein Anwesender je wieder vergessen, soviel kann ich versprechen.«

Eine hitzige Diskussion entbrannte. Schonungslos zerpflückte die kleine Gemeinde die Argumente beider Seiten. Er liebte diese lebhaften Dispute über das wichtigste Thema seines Lebens. Dennoch musste er ein zweites Mal eingreifen, denn die Zeit drängte. Er bat um Ruhe und sagte:

»Im Laufe des Dinners werden wir hinreichend Gelegenheit haben, beide Aspekte ausführlich zu beleuchten: vernünftige Ernährung, Verzicht auf unnötige Verschwendung einerseits und umwälzende neue Technologien andererseits. Unsere Präsentationen werden sicherlich für angeregte Gespräche unter den Gästen sorgen und hoffentlich viele in unserm Sinne nachdenklich stimmen. Ich meine, wir können das Thema vorläufig abschließen. Nur noch eins von meiner Seite: Wie versprochen werde ich über meine Kontakte für die angemessene Verpflegung sorgen. Die Einzelheiten muss ich noch mit dem Chef des ›White Deer‹ besprechen. Die Eckpunkte habe ich hier zusammengestellt, damit ihr seht, was euch erwartet.«

Er projizierte seinen Vorschlag an die Wand und wartete in stiller Vorfreude auf die Reaktion.

»Filet mignon!«, rief Trix entsetzt. Sie sprang auf und starrte ihn böse an. »Bist du übergeschnappt? Wir können doch nicht zum Fleischverzicht aufrufen und gleichzeitig dieses – Zeug – auftischen!«

Die Unruhe im Saal drohte wieder in eine längere Diskussion auszuarten.

»Ruhe bitte!«, rief er und klopfte auf den Tisch. »Ich wusste, ihr würdet so reagieren. Genau deshalb werden wir den Gästen diese Delikatesse servieren. Ich erkläre es euch.«

Er wartete, bis die Gespräche ganz verstummten, dann fuhr er fort:

»Der Hauptgang mit einem exquisiten Stück Fleisch soll ein Symbol sein.«

»Ein Symbol für grenzenlose Dummheit?«, warf Trix giftig ein.

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Man wird das Symbol verstehen, wenn ich das Motto des Dinners bekanntgebe. Ich glaube, es passt ausgezeichnet zu unserm Anliegen.«

Er projizierte den Text an die Wand: »Das letzte Steak.«

Der Tumult löste sich bald in Minne auf. Er hatte die Mehrheit in der Tasche, konnte seinen Plan ohne nennenswerten Widerstand ausführen.

Spät, aber immerhin noch am selben Tag, kehrte er in sein Labor zurück. Es glich eher einer kleinen Fabrik mit der langen Reihe flacher Stahltanks, in denen die Zukunft heranwuchs. Es war seine bisher umfangreichste Versuchsreihe. Alles hatte gut angefangen. Die im Kleinen entwickelte Methode ließ sich zu seiner Überraschung problemlos skalieren, sodass er nun die fünfzig Proben parallel bearbeiten konnte. Einzig das Klima im Labor bereitete ihm ernsthafte Sorgen. Er brauchte dringend neue Räume mit moderner Infrastruktur, doch für den laufenden Versuch war es zu spät. In acht Wochen fand die Wohltätigkeitsveranstaltung statt. Bis dahin musste dieses Labor ausreichen. Angespannt entnahm er mit der Pipette Proben aus den zehn Tanks. Einige Tropfen träufelte er auf das Papier für die Chromatogramme, andere auf Objektträger für die mikroskopische Analyse. Er entspannte sich erst ein wenig, nachdem er fünf Proben in einwandfreiem Zustand vorfand. Vielleicht hatte er Glück. Er setzte die Untersuchung etwas ruhiger fort.

Eine halbe Stunde später wusste er, dass er sich irrte. Die Tanks sieben und zehn wiesen Verunreinigungen durch aerobe Bakterien auf. Winzige Kolonien hatten sich an der Oberfläche gebildet. Unter dem Mikroskop sah es aus wie Schimmelpilz. Diese unscheinbaren Keime hatten das Potenzial, sich explosionsartig auszubreiten. Schlimmer noch: Er wies das Enzym Katalase nach, ein katastrophaler Befund. Katalase war imstande, das für seine Proben giftige Wasserstoffperoxid, H2O2, zu produzieren. Er musste die Tanks sieben und zehn abschreiben. Zwanzig Prozent Ausschuss – mindestens. Es war unmöglich, den Verlust in der verbleibenden kurzen Zeit zu ersetzen. Das Einzige, was er tun konnte, war, die restlichen Tanks zu schützen so gut es ging.

Seine Gedanken rasten. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung, die sich sofort realisieren ließ, ohne den Entwicklungsprozess aufzuhalten. Schließlich erkannte er, dass es keine ideale Lösung gab, doch eine Variante würde wenigstens das Wachstum dieses Bakterientyps verhindern. Er verließ das Labor in aller Eile und hängte sich ans Telefon.

 

London

 

Chris schubste den Raucher mit einer Entschuldigung beiseite und betrat den Pub. Knocking-off time, Feierabend! Der Lärm war ohrenbetäubend. Auf geradem Weg gab es kein Durchkommen zur hinteren Stube. Sie musste die Bar umrunden, um zum bierseligen Außenposten von Scotland Yard vorzustoßen. Ron stand mit seinem Partner Cawley und dem alten Sergeant Townsend, der partout nicht Inspector werden wollte, am Fenster. Das Pint in Rons Hand war nicht sein Erstes.

»Chris, hierher!«, rief er überschwänglich. Zu Townsend gewandt, sagte er mit gönnerhafter Miene: »Darf ich vorstellen: meine Kommissarin mit dem richtigen Riecher.«

»Ich glaube, du hast da etwas falsch verstanden«, grinste Townsend. »Bloß weil du schneller schießt als dein Schatten, wird keine Lady auf dich hereinfallen.«

»Nicht streiten, Jungs«, beschwichtigte sie, bevor Ron antwortete. »Ich habe diesem schneidigen Sergeant viel zu verdanken. Ohne ihn läge ich jetzt im Saint Mary’s oder in Dr. Barclays Kühlfach.«

Zur Unterstützung ihres Lobes schlang sie einen Arm um Ron und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Überwältigt vor Rührung, leerte er sein Glas in einem Zug.

»Ich hole etwas zu trinken«, sagte er verlegen und stürzte sich ins Gewühl am Tresen.

Cawley beobachtete ihn, wie der große Bruder auf den überdrehten Kleinen achtet. »Der Junge hat Glück gehabt«, meinte er.

»Ich auch. Ist die Untersuchung abgeschlossen?«

Cawley nickte. »Cornwallis ist wieder voll einsatzfähig. Damit können wir den Fall endgültig ad acta legen.«

»Drei Fälle auf einen Schlag«, sagte Townsend, »der Vorteil des Serienkillers.«

Ron kehrte zurück. Er drückte ihr ein Pint helles Lager in die Hand und toastete mit schwerer Zunge:

»Auf den erfolgreichen Abschluss unserer gemeinsamen Ermittlungen, Kommissarin Hegel – Cheers!«

Sie nippte am Glas.

»Glaubt ihr wirklich, was ihr sagt?«, fragte sie erstaunt. »Der Fall sei abgeschlossen?«

»Der Killer ist überführt und mausetot«, antwortete Cawley. »Bei uns bedeutet das: Akte zu, nächster Fall.«

Townsend nickte eifrig und ergänzte in Richtung Ron: »Deine Kugel spart uns Steuerzahlern die Gerichtskosten. Gut gemacht, mein Junge.«

Das galt erst recht für Deutschland, musste sie zugeben. Vermutlich war diese zynische Betrachtungsweise auch die Motivation von Oberstaatsanwalt Richter, der umgehend ihren Schlussbericht und die Rückkehr nach Wiesbaden erwartete. Die Herren machten sich die Sache etwas zu leicht, fand sie.

»Interessiert sich denn kein Schwein für Angulas Motiv?«, fragte sie. »Will niemand wissen, weshalb er Plazenta ins Land geschmuggelt hat, warum er das mit allen Mitteln vertuschen wollte? Wer ist dieser sogenannte Sproete? Was hat er mit den Fällen zu tun? Lässt euch das alles kalt?«

Sie sah den Gesichtern an, dass ihre Fragen schmerzhafte Denkprozesse auslösten. Trotzdem kam keine intelligente Antwort zustande. Cawley brummte nur:

»Wen kümmert es noch? Angula war ein Einzeltäter, das wissen wir. Sein Motiv hat er mit ins Grab genommen.«

»Greg Milton, der Laborchef, war sein Komplize«, widersprach sie.

Ron schüttelte den Kopf. »Komplize kann man so nicht behaupten, Chris. Er hat das eklige Zeug nur gegen gutes Geld untersucht mit seinem Mack ...«

»Massenspektrometer.«

»Sag ich doch.«

Woher Angula das Geld dafür hatte und für seine Reisen interessierte offenbar auch niemanden. Frustriert blickte sie sich nach DCI Rutherford um.

»Hinter der Bar die Treppe hinunter«, sagte Townsend schmunzelnd.

»Ich suche den DCI.«

»Ach so, der ist nicht da. Spielt Bass auf seinem Boot oder so ähnlich. Er ist allerdings auch überzeugt, der Fall sei abgeschlossen.«

»Hat er das behauptet?«

Alle drei nickten stumm.

»Dann hat er wohl meinen Bericht nicht zu Ende gelesen.«

Das Bier schmeckte ihr nicht mehr. Lag es an ihr, an ihrer Auffassung von Gerechtigkeit? War sie die Einzige, die diesen Fall anständig abschließen wollte? Wieder einmal, früher als befürchtet, fand sie sich in der Rolle des Don Quichotte. Sie wollte nicht gegen Windmühlen kämpfen, aber sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie nicht anders konnte. Vor sich selbst wegzulaufen, war keine Alternative. Das ärgerte sie mehr als die Haltung Richters und des DCI.

Ernüchtert und übellaunig verließ sie den Pub just in dem Moment, als heftiger Regen einsetzte. Augenblicklich gab es kein einziges freies Taxi mehr in ganz London, und wie durch ein Wunder wandelte sich die Preisangabe für Schirme beim Pakistaner um die Ecke von »2 for 10 £« zu schlichten »10 £«.

Das billige Fabrikat hielt zwar dem Wasserfall stand, der vom Himmel stürzte, verhinderte aber nicht, dass sie aussah, als wäre sie durch die Themse gewatet, statt über die Brücke zu laufen, als sie im Hotel ankam. Wie gewohnt fragte sie an der Rezeption nach Post. Der Angestellte drehte sich nach den Fächern um, da hatte sie eine Erscheinung.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie ein elegant gekleideter Schwarzer aus dem Hotel stürmte, den sie sofort erkannte: Leon! Ein Schwall heißen Blutes rauschte durch ihre Schläfen. Sie rief ihm hinterher, doch die schlanke Gestalt war schon verschwunden. Sie ließ den verblüfften Angestellten stehen und hetzte Leon hinterher. Der Regen prasselte so laut aufs Pflaster, dass ihre Rufe ungehört verhallten. Die Blinker eines Autos leuchteten kurz auf. Der Mann stieg ein und brauste davon.

»Verfluchter Mist! Was bildet der sich ein?«

Zähneknirschend eilte sie in die schützende Lobby zurück. Es gab keine trockene Stelle mehr an ihr. Ein älteres Ehepaar trat zu ihr in den Aufzug. Die Frau musterte sie misstrauisch, ihr Mann mit verstohlenen Blicken. Die beiden hatten Glück. Ein Stockwerk mehr, und sie hätte sich geschüttelt wie der nasse Nero. Kaum im Zimmer, riss sie sich die Kleider vom Leib und rief Leon an. Er ließ sie lange warten, doch schließlich meldete er sich scheinbar überrascht.

»Wo bist du?«, fragte sie gereizt.

»Schön, deine Stimme zu hören.«

»Wo bist du?«

Diesmal klang es wie eine Drohung.

»Äh – zu Hause. Warum fragst du?«

»Das stimmt nicht. Ich habe dich gesehen, gerade eben. Spionierst du mir nach?«

Eine kurze Pause entstand, dann sagte er beleidigt:

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich sitze hier in meinem Haus und hüte die Kleine.«

»Lüg mich nicht an!«

»Hallo Chris!«, rief die vorwitzige Letticia dazwischen, »bist du wieder abgestürzt?«

Mit einem Mal realisierte sie, dass sie nur noch den Slip trug. Sie errötete, als stünde das Mädchen samt ihrem attraktiven Babysitter vor ihr.

»Letticia, gehörst du nicht ins Bett um diese Zeit?«

»Erst wenn er mir die Geschichte erzählt hat. Er hat's versprochen.«

Chris schmunzelte. »Na dann – Versprechen soll man halten.«

»Aber sicher.«

»Gibst du mir Leon noch mal? Es dauert nicht lang – und gute Nacht, träum süß.«

»Du auch.«

»Glaubst du mir jetzt?«, fragte Leon lachend.

Sie entschuldigte sich kleinlaut. »Ich habe mich wohl geirrt.«

»Von wo rufst du an?«

»London.«

»Verstehe, Scotland Yard. Ich habe von Moses Angula gelesen. Eine abscheuliche Geschichte. Was hat er denn geschmuggelt?«

»Dazu darf ich nichts sagen.«

Die Plazenta-Story blieb unter Verschluss.

»Kann ich mir denken«, murmelte er. Nach kurzem Zögern überraschte er sie mit der Aussage: »Ich glaube, ich weiß jetzt, weshalb mein Freund sterben musste.«

»Ach ja?«

»Ich war noch einmal in Mariental. Da ist eine schlimme Sache im Gang. Scrapie, die Schafs-Krankheit ist ausgebrochen. Die Seuche hat schon mehr als die Hälfte der Tiere dahingerafft. Die Bauern setzten während Monaten alles daran, die Krankheit geheim zu halten, um die Subventionen nicht zu verlieren, ohne die sie kaum überleben können. Das Fleisch mussten sie verbrennen. Usko hat das entdeckt und wollte darüber schreiben.«

»Und deshalb ist ihm Angula bis nach Tübingen gefolgt, um ihn dort umzubringen? Professor Lorenz ebenso?«

»Das ist noch nicht alles«, fuhr er unbeirrt fort. »Kürzlich gab es einen Todesfall, weil jemand vom Hirn eines verseuchten Schafes gegessen hat.«

»Sagtest du nicht, sie hätten das Fleisch verbrannt?«

»Bis auf die Köpfe. Die werden gegessen. Es war übrigens nicht der erste Todesfall deswegen. Vor sechs Monaten gab es schon einen ähnlichen Fall, wie jetzt bekannt geworden ist. Die Frauen haben sich mit einer Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit infiziert.«

Sie begann plötzlich zu frösteln.

»Moment!, rief sie aus. »Zwei Frauen, sagst du? Haben sie kurz vor dem Tod entbunden?«

»Woher weißt du das?«

Zwei Geburten von Frauen mit vCJD während des letzten halben Jahres! Sie war sprachlos und blieb die Antwort schuldig. Wie weggeblasen lichtete sich der Nebel über dem Bild, das sie sich von den Ereignissen in Namibia gemacht hatte. Für sie gab es nun keinen Zweifel mehr, dass Angula schon früher mindestens einmal verseuchte Plazenta nach England geschmuggelt hatte. War das der Auslöser für die plötzliche Häufung von vCJD-Todesfällen in England?

»Zeitlich könnte es passen«, murmelte sie in Gedanken versunken.

»Was sagst du?«

»Nichts – du hast mir sehr geholfen.«

Sie wollte das Gespräch beenden, als ihr noch eine letzte Frage einfiel:

»Weißt du inzwischen mehr über den geheimnisvollen Sproete?«

»Die Sommersprossen? Nein, leider nicht.«

»Wieso Sommersprossen?«

»Sproete ist Afrikaans und bedeutet Sommersprossen. Hast du das nicht gewusst?«

Sproete ist ein Weißer, immer wieder ging ihr später unter der Dusche der Gedanke durch den Kopf. Damit konnte sie die zwei Prozent der farbigen Engländer ausschließen, großartig. Während sie sich trocken rieb, piepste das Handy.

 

Liebes Tagebuch,

jetzt stehe ich in der Küche vor dem herrlich nach Zimt, Vanille und Haselnuss duftenden Mille-feuille mit frischen Williamsbirnen, das sie so liebt, und kann mich nicht darüber freuen. Sehnsüchtig stelle ich mir vor, wie sie es Stück für Stück auf ihrer Zunge zergehen lässt und mir dabei glücklich zuzwinkert. Ich hebe es eine Weile auf. Vielleicht geschieht ein Wunder.

Sie zog sich hastig an, riss die Kleider vom Leib, wechselte die Wäsche, zog etwas Fröhlicheres an, richtete das Haar in aller Eile, zog die Lippen nach und rief ein Taxi. Es war die Nacht der Wunder.