Kapitel 1
In diesem Sommer drehte sich alles um Geheimnisse.
Es war der Sommer, in dem ich neunundvierzig wurde, und das ließ mich an fünfzig denken und wie sich das wohl anfühlen würde. Fünfzig Jahre und kaum etwas vorzuweisen. Eine Ehe, die so lange zurück lag, daß man sie praktisch aus der Erde ausbuddeln mußte. Meine Baseball-Karriere – vier Jahre in den Nachwuchsligen und kein einziger Tag in den Großen Ligen. Und meine Karriere als Polizeibeamter in Detroit, die eines Nachts endete, als ich auf dem Rücken lag und zusah, wie mein Partner neben mir starb. Das sah ich, wenn ich auf mein Leben zurückblickte.
Positiv schlug zu Buche, daß ich in diesem Sommer viel Zeit zum Lesen hatte. Und, obwohl ich das noch nicht wissen konnte, ich war im Begriff, einige interessante neue Leute kennenzulernen. Am Vierten Juli würde ich kein Feuerwerk zu sehen bekommen, weil ich den größten Teil des Abends auf dem Fußboden eines fremden Hauses liegen würde, während man mir eine Pistole an die Schläfe preßte. Ich würde auf eine letzte Explosion warten, vielleicht eine letzte Farbwolke. Und dann nichts mehr.
Eine Kugel steckte bereits in mir. Für eine weitere hatte ich keinen Platz.
Mehr als alles andere aber war dies der Sommer, in dem ich eine große Entscheidung zu treffen hatte. Würde ich in die menschliche Gesellschaft zurückkehren, oder würde ich immer weiter abdriften, bis ich zu weit weg war, um jemals den Weg zurück zu finden? Darum ging es letztlich in diesem Sommer. Und um die Geheimnisse.
Jonathan Connery alias Jackie, Besitzer des Glasgow Inn in Paradise, Michigan, aufgewachsen in Schottland und angeblich Vetter zweiten Grades von Sean Connery und, zumindest seiner eigenen Meinung nach, genau so gut aussehend – das ist der Mann, der mich am Abend des Vierten Juli in das bewußte Haus gebracht hat. Das Glasgow Inn liegt von meinen Hütten aus nur ein Stück die Straße runter. Ich wohne in der ersten Hütte, bei deren Bau ich meinem Vater in den sechziger und siebziger Jahren geholfen habe. Die anderen fünf vermiete ich. Meine Gäste sind meist Jäger im Herbst und Schneemobilfahrer im Winter. Im Sommer sind es Familien, die mal den etwas anderen Urlaub erleben wollen. Sie kommen von der Unteren Halbinsel nach Paradise, weil es der abgelegenste Ort ist, den man erreichen kann, ohne den Staat zu verlassen – oder die gesamten USA. Nachdem sie ewig und drei Tage auf der I-75 gefahren sind, denken sie, sie sind fast da, wenn sie die Mackinac Bridge überqueren. Aber es folgt noch eine weitere Stunde durch die extremste Einöde, die sie jemals gesehen haben, bis sie sich schließlich dem Lake Superior nähern. Aber selbst dann müssen sie noch um die Whitefish Bay herum und mitten durch den tiefsten Wald des Hiawatha National Forest hindurch. Inzwischen fragen sie sich im stillen, wie hier überhaupt jemand leben kann, so weit vom Rest der Welt entfernt. Wenn sie dann endlich die Stadt erreichen, begrüßt sie ein Schild: »Paradise. Schön, daß Sie es geschafft haben!« Sie fahren an der einzigen Ampel in der Stadtmitte vorbei und dann weiter nach Norden, gut drei Kilometer an der Küste entlang, an Jackies Glasgow Inn vorbei, bis sie zu meinen Blockhütten kommen. Sobald ich ihre Gesichter sehe, wenn sie aus dem Auto steigen, weiß ich, was gebacken ist. Wenn sie sich umsehen, als wären sie soeben auf dem Mond gelandet, liegt eine recht lange Woche vor ihnen. Hier oben kann man eigentlich nicht viel machen, wenn man einen Tag im Shipwreck Museum gewesen ist und am nächsten im Taquemmon Falls State Park. Wenn sie aber aus dem Wagen steigen, die Augen schließen, tief einatmen und dann lächeln, weiß ich, daß es ihnen hier gefallen wird. Vielleicht kommen sie sogar im nächsten Jahr wieder. Und im übernächsten.
Deshalb habe ich auch inzwischen fast nur noch Stammgäste – Leute mit fester Reservierung, die jedes Jahr in derselben Woche hierher kommen. Im Sommer habe ich nicht viel Arbeit mit ihnen. Brennholz brauchen sie nicht viel, vielleicht ein paar Scheite, wenn die Winde vom See die Abende kühl werden lassen. Und ganz bestimmt brauchen sie nicht mich, um ihnen zu sagen, was sie machen und wohin sie fahren sollen. Sie sind perfekt glücklich, wenn sie mich nie zu Gesicht bekommen.
In diesem Sommer habe ich viel Zeit alleine verbracht. Ich brauchte das einfach. Es hatte eine Zeit gegeben, wo irgendein Rechtsanwalt mich beschwatzt hatte, Privatdetektiv zu werden. Ich wagte einen Versuch und bekam einen Tritt in den Arsch. Dann begegnete ich einer jungen Ojibwa-Frau und wollte ihr aus einer Klemme helfen und bekam einen noch kräftigeren Tritt in den Arsch. Ich bekam solche Tritte in den Arsch, wie sie noch nie zuvor jemand bekommen hat. Dann tauchte ein alter Freund aus meinen Baseball-Tagen auf, dreißig Jahre nachdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, und bat mich, ihm bei der Suche nach jemandem behilflich zu sein. Ich versprach ihm meine Hilfe. Sie meinen vermutlich, ich hätte jetzt schon gewußt, was mir blühte. Nur daß ich diesmal neben den Tritten in den Arsch auch Tritte an den Kopf bekam.
Das reicht, sagte ich mir. Das habe ich nicht nötig. Nie wieder.
Als es Sommer wurde, fand ich immer wieder Entschuldigungen, mittags nicht bei Jackie zu essen. Auch nicht nachmittags auf ein Bier zu ihm zu gehen, obwohl ich wußte, daß er ein eiskaltes kanadisches für mich bereithielt. Auch nicht zum Abendessen. Wenn ich mal vorbeischaute, fragte er mich jedesmal, wo ich gesteckt hätte. Und ich sagte dann, ich hätte viel zu tun, die Hütten müßten geputzt werden, und es sei auch immer was zu reparieren. Und er sah mich dann mit seinem berüchtigten Blick an, so, als könnte er geradewegs durch mich hindurchsehen.
Ende Juni verbrachte ich dann die meisten Abende in meiner Hütte, las die Zeitung und so viele Bücher, wie ich in die Finger bekommen konnte. In meinem ganzen Leben habe ich nie so viel gelesen. Was immer die kleine Bücherei von Paradise bot oder die paar Souvenirläden, die auch Taschenbücher führten – Thriller, Detektivromane, sogar einige Klassiker –, ich las es. Am schärfsten war ich auf Bücher, die von wirklichen Verbrechen handelten. Sie werden jetzt denken, daß ich darauf wohl am ehesten hätte verzichten wollen, nach acht Jahren als Polizist und einem Jahr oder so, in dem ich mich aufs äußerste angestrengt hatte, kein Privatdetektiv zu sein, und nach all dem, was mir dabei zugestoßen war. Aber aus irgendeinem Grund empfand ich die Bücher über wirkliche Verbrechen als tröstlich. Vielleicht, weil ich darin von all den Leuten las, die Tritte in den Arsch bekamen, und zur Abwechslung war es diesmal nicht ich.
Als der Vierte Juli kam, hatte ich vermutlich über eine Woche lang nicht einmal Jackies Gesicht gesehen. Er klopfte an meine Tür. Ich machte auf, und da stand er vor mir. Das wäre unabhängig von den Umständen immer eine Überraschung gewesen, weil er mich noch nie zu Hause aufgesucht hatte. Im Glasgow Inn gab es Fernsehen, Essen und kanadisches Bier. Mithin gab es für ihn kaum Gründe, zu mir zu kommen.
»Jackie«, sagte ich. »Was ist passiert?«
»Alex«, sagte er. Er ging an mir vorbei und sah sich im Wohnraum um. Ich glaube, Jackie war diesen Sommer fünfundsechzig Jahre alt. Über die Jahre hinweg hatte sein Gesicht jede Menge kalter Winde vom See her abbekommen. Aber in seinen Augen war ein gewisses Leuchten, es verriet dir, daß er alles wegstecken würde, was der See ihm antat. Wenn der Schnee schmolz, würde er mit seinem Lächeln wieder da sein.
»Ist alles in Ordnung?« fragte ich.
»Alles bestens«, sagte er. »Erste Sahne.« Er nahm das Buch vom Küchentisch und drehte es um, damit er den Rücken betrachten konnte.
Ich stand da und sah ihm zu. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
»Okay«, sagte er und legte das Buch hin. »Hier ist mein Vorschlag. Ich habe ein Zelt dabei. Praktisch brandneu, eins von diesen Nylondingern aus dem Zeitalter der Raumfahrt. Wiegt nicht mehr als dreißig Pfund, ist aber sehr geräumig und hält Wind und Regen ab. Einfach toll. Dazu gibt es einen tragbaren Propangasherd. Einen Schlafsack, der einen bis minus vierzig Grad warmhält. Einen Rucksack. Du weißt, so einen mit Rahmen, der das Gewicht von den Schultern auf die Hüften verlagert. Und alles mögliche Zeugs. Wasserfilter, Erste-Hilfe-Koffer, ein Stück Moskitonetz. Oh, das hätte ich fast vergessen, zwei tolle Angeln. Ich meine, das Feinste vom Feinsten.«
»Warum erzählst du mir das? Wo willst du hin?«
»Ich will nirgendwo hin. Du fährst.«
»Wovon redest du?«
»Ein gutes Gewehr brauchst du auch noch«, sagte er. »Das mußt du dir aber selbst besorgen.«
»Jackie …«
»Ich zeichne dir die Stelle auf einer Karte ein. Es ist in der Gegend vom Yukon. Wenn du mit dem Auto fährst, bist du ne kleine Ewigkeit unterwegs. Ich hoffe, dein Wagen schafft das noch.«
»Jackie …«
»Wenn ich du wäre, würde ich den Lastwagen verkaufen und hinfliegen. Weißt du was, wo ich dir schon das ganze Equipment gebe, läßt du den Laster einfach bei mir. Wie alt ist er noch mal – zwölf Jahre?«
»Jackie, hättest du vielleicht die Freundlichkeit, mir zu sagen, wovon zum Teufel du da redest? Wieso sollte ich an den Yukon fahren?«
»Ich will dir bloß helfen, Alex. Ich dachte, du wüßtest das zu schätzen.«
»Daß du mich zum Yukon schickst? Wieso sollte mir das helfen?«
»Denk drüber nach, Alex. Der Typ, der mir von der Stelle erzählt hat, sagt, daß man da toll ein Lager aufschlagen kann. Das Essen angelt man sich aus dem Fluß, vielleicht schießt man sich dann und wann auch ein Stück Niederwild. Einige Kilometer entfernt liegt ein kleiner Ort, wenn du wirklich mal was brauchst, aber abgesehen davon keine Menschenseele weit und breit, Alex. Man kann sich da ein ganzes Jahr aufhalten, ohne einen anderen Menschen zu Gesicht zu bekommen.«
»Das soll bestimmt witzig sein, wie? Das ist doch ein Scherz.«
»Ich kümmere mich um die Hütten, das verspreche ich dir. Nun fang schon an zu packen.«
»Okay, ich hab verstanden. Das ist deine diskret witzige Art, mir zu verklickern, daß ich die letzte Zeit wenig bei dir gewesen bin.«
»Ja, und das hat mich fast umgebracht«, sagte er. »Keiner, der mir sagt, daß ich alles falsch mache. Keinem, dem ich Essen kochen kann, wenn er nur mit den Fingern schnipst. Ein einziger Alptraum!«
»Heute abend wollte ich mal reinschauen«, sagte ich. »Ehrlich.«
»Einen Dreck wolltest du«, sagte er. »Guck dir doch nur mal den Scheiß an, den du da liest. ›Eine Saga von Mord und Rache, bei der Ihnen das Herz stehenbleibt.‹« Er griff nach einem anderen Buch und warf es dann wieder hin. ›Eine wahre Geschichte von Betrug und nackter Gier.‹ Wenn du das lieber tust, als mich Abend für Abend rumzuscheuchen, ist das in Ordnung. Mich kümmert das nicht die Bohne, glaub mir das. Wenigstens so lange nicht, wie nicht jeder anfängt, mir Fragen zu stellen wie ›Wo ist eigentlich Alex, Jackie?‹ ›Wie kommt es, daß Alex sich nie mehr hier blicken läßt?‹ ›Was zum Teufel ist eigentlich mit Alex los, Jackie? Ich habe ihn im Postamt gegrüßt, und er ist einfach an mir vorbeigegangen, als würde er mich nicht kennen.‹«
»Wer war das? Wer hat mich im Postamt gegrüßt?«
»Das spielt doch keine Rolle. Dir ist das doch egal. Du brauchst uns nicht mehr. Keinen von uns. Das hier ist die gottverdammt einsamste Stadt im ganzen Land, und du mußt dich noch in deiner Hütte verstecken. Da habe ich mir gedacht, Teufel noch mal, mit dem kann man nur noch eines machen. Schick ihn in den Norden! Soll er doch bei den Bären leben!«
»Bist du langsam fertig?«
»Nein, keineswegs. Ich bin hierher gekommen, um dir ein Ultimatum zu stellen. Ich gehe nicht, bevor du dich entschieden hast. Entweder bringe ich dich jetzt zum Flughafen und verfrachte deinen Arsch in einen Flieger nach Moosehide, oder du kommst heute abend mit mir zum Pokern.«
»Pokern? Wo, im Glasgow?«
»Nein, im Soo. Im Haus von ’nem Typen. Du kennst ihn nicht.«
»Seit wann gehst du zum Pokern aus dem Haus? Wer kümmert sich denn ums Geschäft?«
»An sich spielen wir in der Kneipe. Nicht die alte Runde, wo du früher mitgespielt hast. Das ist jetzt eine neue Geschichte. Du wüßtest das übrigens, wenn du mal gelegentlich reingeschaut hättest. Win will uns seinen neuen Pokertisch vorführen, und da habe ich mir gedacht, mein Sohn soll sich heute mal um alles kümmern. Man nennt das Weggehen, Alex. Gesellige Leute tun das bisweilen.«
»Jackie, mir ist wirklich nicht nach Pokern mit einem Haufen Typen, die ich nicht kenne.«
»Die seelische Belastung ist zu groß, das verstehe ich. Okay, dann helfe ich dir beim Packen.«
»Das kannst du vergessen. Ich fahre nicht nach – wie hast du das noch mal genannt? Moosehide? Ist das wirklich ein Ort im Yukon?«
»Ich hab’s dir gesagt, Alex. So oder so. Ich gehe nicht, bevor du dich für eines entschieden hast.«
»Keins von beiden, Jackie. Danke für das Angebot.«
»Du mußt mich mit physischer Gewalt rausschmeißen.«
»Seit wann gebrauchst du Ausdrücke wie ›mit physischer Gewalt‹«?
»Poker oder Yukon, Alex. Ich warte.«
Was blieb mir also übrig? Ich wollte ums Verrecken nicht an den Yukon, und mir war auch nicht nach physischer Gewalt. Also entschied ich mich fürs Pokern. Das hielt ich für die bequemste Lösung.
Ich Ahnungsloser!
Jackie fährt einen silbernen Lincoln Continental, Baujahr 1982, den er 1990 für dreihundert Dollar gekauft haben will. Seitdem behauptet er, zusätzlich zu den ursprünglichen 250.000 Kilometern noch einmal über 300.000 auf dem Tacho zu haben. Aber man weiß von Jackie, daß er gelegentlich zu Übertreibungen neigen soll. Aber wieviel auch immer er dafür bezahlt hat und wie viele Kilometer er aus dem Wagen herausgeholt hat – er schafft es jedenfalls, ihn Jahr für Jahr zu fahren, sogar im tiefsten Winter, wenn selbst Wagen mit Vierradantrieb rings um ihn herum von der Fahrbahn schlittern.
»Ich sehe nichts von einer Campingausrüstung«, sagte ich, als ich mich auf den Beifahrersitz niederließ.
»Alles im Kofferraum«, sagte er. »Das Gerät hat einen riesigen Kofferraum.«
»Na ja. Da wird es ganz bestimmt sein.«
»Ich hoffe, du hast ein bißchen Geld dabei«, sagte er. »Die Einsätze könnten etwas höher sein, als du es gewohnt bist.«
»Ich habe jetzt schon das Gefühl, einen Fehler zu machen.« Ich sah, wie die Stadt vorüberglitt, als wir am Glasgow Inn vorbei auf der Hauptstraße nach Süden fuhren. Es war ein merkwürdiges Gefühl, an der Kneipe vorbeizufahren, ohne anzuhalten. Als wir am orange blinkenden Licht über der Kreuzung stoppten, betrachtete ich das neue Motel, das man dort gebaut hatte. Auf der anderen Straßenseite lag eine Tankstelle, daneben eine weitere Kneipe. Westlich der Straße befanden sich zwei Andenkenläden und ein weiteres kleines Motel. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, ob an Jackies Idee mit dem Yukon nicht doch etwas dran sei. Wenn Paradise, Michigan anfing, zu hektisch für mich zu werden, war es vielleicht echt an der Zeit, in die Wälder zu entschwinden.
Ungefähr achthundert Meter südlich der Stadt führt die Straße in einer Kurve über einen schmalen Streifen Land, der den See auf der einen von einem Teich auf der anderen Seite trennt. Wenn ich selbst fuhr, hatte ich immer das Gefühl, auf einem Drahtseil zu balancieren. Jackie hatte eine Hand am Lenkrad und fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit durch die Kurve. Es hatte ja auch nichts zu bedeuten, daß eine falsche Bewegung einen im Lake Superior landen ließ.
Die Sonne begann gerade unterzugehen, als wir den Lakeshore Drive erreichten. Er erstreckt sich über dreißig Kilometer am südlichen Rand der Whitefish Bay und ist möglicherweise die einsamste Straße, die ich je gefahren bin. Im Winter wäre es Wahnsinn, dort entlangzufahren, aber an einem Sommerabend mußte man es einfach tun.
Eine Zeitlang fuhren wir schweigend. »Da hast du mich also richtig vermißt«, sagte ich schließlich.
»Wenn du wie ein Einsiedler leben willst, ist das deine Sache.«
»Nun gib es schon zu. Du hast mich vermißt.«
»Nimm dich nicht so wichtig, Alex.« Wenn Jackie in Schottland geblieben wäre, wäre er vielleicht als einer der alten Caddies geendet, die den ganzen Tag Golftaschen schleppen, um abends im örtlichen Pub zu verschwinden. Statt dessen ist er auf die Obere Halbinsel gekommen und hat irgendwann einen eigenen Pub eröffnet, komplett mit Sesseln und offenem Kamin. Er war jetzt schon über fünfzig Jahre hier, und doch konnte man noch den Anklang des kehligen schottischen R bei ihm hören. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er von seiner Kindheit in Glasgow erzählte, wurde es noch kehliger.
»Der Grund, warum ich dich gefragt habe, ist einzig und allein der, daß wir einen weiteren Spieler brauchten. Swanson war verhindert, und du weißt, wie sehr ich Poker zu fünft hasse.«
»Ja«, sagte ich. »Dann kannst du nicht ›High-low‹ oder all die anderen Scheißvarianten spielen, wonach du immer quengelst.«
Darüber schüttelte er nur den Kopf.
»Swanson«, sagte ich. »Kenne ich den?«
»Du bist ihm schon begegnet. Er ist Anwalt im Soo.«
»Anwalt. Meine Lieblinge.«
»Er ist gar nicht so übel«, meinte Jackie. »Und bloß, weil er Anwalt ist …«
»Klar. Ich weiß schon.«
»Ich habe gehört, es gibt auf der Welt auch anständige Anwälte.«
»Klar, drei kommen dafür in Frage.«
Die Straße war verlassen wie immer. Bis wir Brimley erreichten, würde uns kein Auto begegnen. Um uns herum gab es nichts als Kiefern. Vom See her weht eigentlich immer Wind, aber heute abend war es fast windstill.
»Wo spielen wir noch mal?«
»Im Haus von Wim Vargas. Ich glaube nicht, daß du dem schon mal begegnet bist. Hättest du ihn mal getroffen, könntest du dich bestimmt an ihn erinnern.«
»Aha. Klingt nicht sehr verheißungsvoll.«
»Für ein paar Lacher ist er immer gut. Und für etliches andere.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Du wirst schon sehen. Ich hoffe nur, daß du nichts gegen teuren Whiskey und ebensolche Zigarren hast. Kann auch sein, daß ich deine kleine Obsession hinsichtlich kanadischen Bieres erwähnt habe. Würde mich nicht überraschen, wenn eine Kiste auf dich wartete. Sollte das der Fall sein, denk dran, hinreichend viel Aufhebens davon zu machen. Er beeindruckt die Leute gern.«
»Großartig.«
Er fuhr kommentarlos weiter. Die Sonne ging unter. Schließlich kamen wir an eine Kreuzung, an der im Schatten der Kiefern ein ehemaliger Eisenbahnwaggon der Soo-Linie stand. Es war ein alter Personenwagen, die Hälfte der Fenster war mit Brettern vernagelt, die anderen trüb vor Schmutz. Auf die Tür hatte man ein Schild geklebt: »Betreten verboten«.
Wir passierten den Leuchtturm bei Iroquois Point und erreichten dann das nördliche Ende der Bay Mills Reservation. Wir fuhren am Community College vorbei, am kleinen Kings Club, dem Kasino, mit dem alles angefangen hatte, und dann am viel größeren Bay Mills Casino. Direkt dahinter lag der neue Golfplatz. Er wirkte fast fertig. Von der Straße aus konnten wir ein halbes Dutzend Bagger und Bulldozer sehen, die bewegungslos im schwindenden Licht dastanden und für heute genug getan hatten.
»Das Stück Land mit den Erbsen hat auch dran glauben müssen«, sagte Jackie. »Sieht so aus, als hätten sie letzte Woche erst angefangen.«
»Wie soll das Dings noch mal heißen?«
»Wild Bluff. Wie findest du das?«
»Ich weiß nicht. Man sollte meinen, sie hätten sich wenigstens einen Ojibwa-Namen einfallen lassen.«
Auf einer Brücke überquerten wir den Waiskey River. Jetzt waren wir auf der Six Mile Road und fuhren nach Osten Richtung Sault Ste. Marie. Als wir jedoch gerade an der Einfahrt zum Brimley State Park vorbeikamen, bog Jackie nach links in einen unbefestigten Weg ohne Straßenschild ab.
»Wo fahren wir hin?« fragte ich. »Ich dachte, wir führen zum Soo.«
»Sonnenuntergang.« Mehr brauchte er nicht zu sagen.
Der Weg führte nach Norden durch den Kiefernwald. Die Bäume standen bis an den Wegrand, so dicht, daß man hörte, wie die Nadeln die Fenster streiften. Nach zweieinhalb Kilometern endete der Weg. Wir waren an einer alten Bootslände, ein Holzsteg verfaulte im kalten Wasser. Jackie stoppte den Wagen zwei Meter vor dem See.
Wir stiegen aus. Beide standen wir am Ufer und sahen nach Westen zur sinkenden Sonne. Die Wolken zeigten Hunderte von Abstufungen in Rot und Orange, der Himmel selbst strahlte in einem tiefen, ins Grünliche spielenden Blau. Nirgendwo sonst habe ich das je gesehen.
Man muß draußen sein, um das richtig zu erleben. Man muß den Wind auf dem Gesicht spüren, den Geruch des Süßwassers in der Luft wittern.
Es ist der größte See der Welt. Er ist erschreckend, er ist tödlich. Er hat keinen Schlick auf dem Boden, kein sanftes Bett, um darauf zu ruhen, keine Wasserpflanzen, um sich darin zu verbergen. Es ist ein See auf reinem Granit, ein großer Felsenkrater, von den Gletschern in den Boden gemeißelt, gefüllt mit reinem, süßem, kaltem Wasser und nicht viel sonst. Ein paar Weißfische. Die Splitter hölzerner Schiffskörper. Die schweigenden Stahlwände der Algomak, der Sunbeam, der Edmund Fitzgerald. Die Gebeine der Toten. Ihre Geister.
Es ist schön. So wahr mir Gott helfe, an einem Sommerabend, wenn die Sonne untergeht, ist dies der schönste Ort der Welt. Deshalb bin ich hier. Deshalb ist Jackie hier.
Deshalb stehen wir die langen Winter, die brutale Kälte, die Blizzards, die in einer Nacht einen Meter Schnee abladen, das niemals endende Heulen der Schneemobile durch. Die endlose Schneeschmelze im Frühling, die Bremsen im Juni, die Mücken im Juli und im August. Es ist so schnell vorbei, und schon ist die Luft wieder kalt, und der See wird wieder zu dem Monster, das er ist.
Für einige von uns reicht das. Also bleiben wir, Jahr für Jahr. Nirgendwo sonst wäre für uns der rechte Ort. Nirgendwo sonst wäre Zuhause.
In diesem Sommer der Geheimnisse war dies das größte aller Geheimnisse. Diejenigen von uns, die hier leben, haben dieses Geheimnis bewahrt. Wir haben es sorgsam gehütet und nur mit den wenigen geteilt, die aus welchen Gründen auch immer hier nicht leben konnten, aber doch, sooft sie nur konnten, hierher kamen.
Ich hätte mir nicht vorstellen können, daß sogar dieses Geheimnis in diesem Sommer gefährdet war. Ich hätte es mir nicht einmal träumen lassen. Wie sollte ein Mann jemals so etwas gefährden können? Ein einzelner Mann.
Wir stiegen wieder in Jackies Wagen und fuhren zu unserer Pokerrunde. Ich war im Begriff, diesen Mann kennenzulernen.
