Kapitel 4

»Alle mit dem Gesicht auf den Boden! Los! Los! Los!«

Alles vollzog sich in traumartiger Unwirklichkeit, wie etwas, das sich in Zeitlupe in einer anderen Dimension abspielt, in der die uns bekannten Gesetze nicht gelten. Ich war schon einmal in dieser Sphäre gewesen, an dem Abend, an dem mein Partner erschossen wurde und neben mir auf dem Fußboden starb. Ich hätte nicht gedacht, noch einmal in die Sphäre eintauchen zu müssen. Aber jetzt war ich da. Waren wir alle da.

»Ich sagte, auf den Boden! Sofort! Bist du taub?«

Ich hörte das Geräusch eines umstürzenden Stuhles, den Aufprall eines Körpers. Es war Kenny, dachte ich. Irgendwie lag ich selber schon auf dem Boden. Ich versuchte den Drehwurm in meinem Kopf anzuhalten, versuchte weiterzuatmen und mich zu zwingen, über das Geschehen klar nachzudenken.

Ein Mann. Da noch einer. Gab es noch einen dritten? Ja, drei Männer. Einige der Lichter gingen aus. Die Tiffanylampe über dem Tisch brannte noch und warf einen glänzenden Kreis in die Mitte des Raumes. Der Hund rannte in völliger Auflösung durchs Haus und machte mehr Lärm, als ein Hund dieser Größe normalerweise verursachen konnte.

»Keiner bewegt sich. Ist das verstanden worden, meine Herren? Eine Bewegung, und wir erschießen euch. Euch alle.«

Handfeuerwaffen. Drei Männer mit Handfeuerwaffen. Glocks, denke ich – dieses schlanke schwarze Profil. Gesichter sah ich keine. Warum sah ich keine Gesichter?

Ich lag auf dem Teppich, das Gesicht vom Tisch abgewandt, auch von den anderen. Die anderen Spieler mußten ausgestreckt hinter mir liegen, dachte ich, alle um den Tisch herum, in etwa in der Position, in der sie auch gesessen hatten.

Einer der Männer ging an mir vorbei. Seine Schuhe waren im Obermaterial aus grünem Kunststoff. Wie man sie im Krankenhaus trägt. Deshalb hatte ich keine Gesichter gesehen. Nur einen Schimmer von … ja, von Grün. Sie alle trugen einen chirurgischen Mundschutz.

Der Hund wagte einen Angriff auf einen von ihnen. Ich konnte sehen, wie er mit den Zähnen an dem grünen Kunststoff riß.

»Du gottverdammte kleine Ratte! Hau bloß ab!«

Ich mußte die anderen sehen. Vor allem mußte ich Jackie sehen. Ich wartete, bis der Mann an mir vorbeigehüpft war, während er versuchte, den Hund abzuschütteln. Ich warf den Kopf herum. Jetzt sah ich Jackie an. Er hatte die Augen offen.

»Du da! Ich denke, ich hab nicht bewegen gesagt!«

Eine Pistole wurde gegen meine linke Schläfe gedrückt. Ich konnte den kalten metallischen Druck spüren. Er übte mit der Waffe Druck aus, preßte mich damit gegen den Boden.

»Ich glaube, ich habe euch aufgefordert, euch nicht zu bewegen. Hab ich das nicht?«

Ich sagte nichts.

»Noch eine Bewegung und ich schieß dir in den Kopf. Dann suche ich mir einen andern und schieße dem in den Kopf. Ist das klar? Du darfst jetzt mit dem Kopf nicken.«

Ich nickte mit dem Kopf.

»Brav so.«

Es war immer derselbe Mann, der redete. Ich konnte nur seine Füße sehen, wie er zu Vargas ging und sich über ihn beugte. »Du«, sagte er, »Ist das dein Hund?«

»Ja.«

»Auf die Beine. Aber den Blick auf den Boden gesenkt!«

Vargas bewegte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen.

»Ich habe gesagt, auf die Beine!« Eine Hand griff nach unten und packte ihn hinten am Kragen seines Hemdes.

»Laßt ihn in Ruhe«, sagte Bennett. Er hob den Kopf.

Ich sah, wie sich der zweite Mann auf Bennett zu bewegte. Er trat fest zu, direkt in die Rippen. Bennett ließ den Kopf wieder auf den Boden fallen; sein Gesicht lief rot an vor Schmerz. Er rang schwer nach Luft.

»Okay«, sagte der erste Mann. »Du hast zehn Sekunden, den Hund von uns wegzuschaffen und in einen Wandschrank zu sperren. Von jetzt an.«

Kanadier, dachte ich. Der klingt wie ein Kanadier. Die beiden anderen haben noch kein Wort gesagt.

Vargas erhob sich vom Boden und griff nach dem Hund, der wieder den einen Schuh des Mannes gepackt hatte. »Schon gut, Miata. Aus!« Er brauchte einige Sekunden, um die Kiefer des Hundes auseinanderzudrücken. Dann fing der Hund wieder an zu bellen. »Braver Hund, Miata. Braver Hund. Braver Hund.«

Ich hörte, wie hinter mir eine Tür aufging und sich wieder schloß, und dann das gedämpfte Geräusch des Hundes, der bellte und mit Zähnen und Krallen die Tür einreißen wollte.

»In Ordnung, so ist es schon besser. Jetzt gehen Sie mit diesem Mann hier nach oben und machen Ihren Safe auf. Aber schön die Augen auf dem Boden halten.«

Wie er bestimmte Vokale dehnte – ›haalten‹, hmm? Entschieden ein Kanadier.

»Ein komisches Geräusch und wir erschießen deine Freunde. Ist das verstanden?«

Sie verließen das Zimmer. Fünf von uns lagen jetzt auf dem Boden, und zwei Mann bewachten uns. Sie gingen um den Tisch herum, lautlos in ihren grünen Slippern. Miata attackierte weiter die Tür im Schrankzimmer.

An einem Schuh sah ich die Stelle, an der der Hund das Gewebe aufgerissen hatte. Alte Turnschuhe, ein schmutziger Grauton, mit blauen Diagonalstreifen. Keine Ahnung, welche Marke.

Ich sah zu Jackie hinüber. Er sah gut aus, bedachte man die Umstände. Er war ruhig. Er erwiderte meinen Blick und nickte mir unmerklich zu.

Bennett rang noch immer nach Luft; die Augen hatte er geschlossen.

Kennys Augen standen weit offen. Er zitterte und hatte offensichtlich vor Angst den pferdebeschwänzten Kopf verloren. Ich wagte nicht, etwas zu ihm zu sagen. Sieh nach hier, dachte ich. Verdammt noch mal, reiß dich zusammen. Mit Willenskraft wollte ich ihn zwingen, mich anzusehen. Seine Augen schienen unfähig, irgend etwas in den Blick zu nehmen.

Gills Gesicht konnte ich nicht sehen, aber sein Körper lag still da. Ich bin sicher, Gill geht es gut, dachte ich. Es ist Kenny, um den ich mir Sorgen mache.

Und um Vargas. Hoffentlich zeigt er sich da oben kooperativ.

Etwa fünf Minuten vergingen – es können auch fünf Stunden gewesen sein. Die zwei Männer umkreisten uns weiter. Ich betrachtete ihre Beine, versuchte ihre Schritte abzuschätzen. Beide um die einsachtzig groß, dachte ich. Der mit den Turnschuhen etwas schwerer als der andere. Also um die hundertachtzig Pfund für Mann Nummer Eins, der, der sich kanadisch anhörte. Um die zweihundert für Mann Nummer Zwei, dazu eine Beschreibung seiner Schuhe, was für niemanden eine große Hilfe sein konnte. Die Pistolen in ihren Händen waren, wie ich jetzt bei genauerem Hinsehen erkennen konnte – definitiv Glocks, bei beiden derselbe Typ. Ich versuchte mich an die am weitesten verbreiteten Typennummern zu erinnern – Glock 17, 21, 31 …, aber um das genau zu sagen, kannte ich die Pistole zuwenig.

Mann Nummer Eins trat ans Fenster. Als er sich vom Tisch entfernte, sah ich ihn etwas besser. Er trug Blue Jeans und irgendeine Art von schwarzem, glänzendem Plastikmantel.

Nein, einen Müllsack. Er trug einen schwarzen Plastikmüllsack. Zu einem Chirurgenmundschutz und einer Kappe aus demselben grünen Material. Als er sich umwandte, sah ich seine Augen. Ich konnte erkennen, daß seine Haut hell war und seine Augenbrauen so blond, daß sie praktisch unsichtbar waren.

Da sah er mich direkt an und merkte, daß ich ihn musterte. Schnell wandte ich meinen Blick ab, aber es war zu spät. Ich hörte ihn auf mich zukommen, und wieder spürte ich, wie das Gewicht der Pistole gegen meine linke Schläfe drückte.

»Augen zu«, sagte er.

Das ist es, dachte ich. Das ist das letzte, was ich fühle. Den Teppich an der einen Seite des Gesichts, die Pistole auf der anderen. Ein Hund, der an einer Tür kratzt, ist das letzte Geräusch, das ich jemals höre. Bis zur Explosion der Patrone.

Darauf wartete ich. Die Pistole regte sich nicht.

»Wozu brauchen die so lange?« sagte der andere Mann. Seine ersten Worte. Er klang nicht kanadisch. »Vielleicht sollte einer von uns mal nachsehen.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte der Mann über mir. Ich spürte, wie die Pistole meinen Kopf verließ. »Gib ihnen noch eine Minute.«

»Ich hätte den Hund erschießen sollen.«

»Man erschießt keine Hunde.«

»Den würde ich schon erschießen. Das ist ja nicht mal ein Hund.«

»Das Ding ist so klein, da hättest du sowieso danebengeschossen.«

Plötzlich hörte man oben Lärm. Es klang wie brechendes Glas.

»Was fürn Scheiß geht denn da ab?«

»Alles okay. Er hat doch gesagt, daß wir damit rechnen sollen.«

»Klingt, als ob er oben alles auseinandernimmt.«

»Du weißt doch, was er macht.«

Weiterer Krach und dann nochmals Krach. Einige Sekunden vergingen und dann neuer Krach; ein Fenster mußte zu Bruch gegangen sein.

Eine Minute später kam der dritte Mann ins Zimmer zurück.

»Wo ist er?« fragte der erste Mann.

Keine Antwort, zumindest keine, die ich hören konnte.

»Sind wir fertig?«

Wieder keine Antwort. Vielleicht gestikulierte der Mann nur mit seinen Händen oder nickte mit dem Kopf.

»Alles klar, nichts wie weg hier«, sagte der erste Mann. »Meine Herren, ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun werden. Ich sehe da hinten in der Küche einen Herd mit allem Schnickschnack. Der hat bestimmt auch eine Zeituhr. Die stelle ich auf fünfzehn Minuten. In dieser Zeit bewegt ihr euch nicht, klar? Versteht ihr mich? Ihr bewegt keinen einzelnen Muskel. Ich hoffe, ihr wißt die Tatsache zu schätzen, daß auf niemanden geschossen worden ist. Bestimmt fällt euch auch auf, daß ihr noch eure Brieftaschen, eure Uhren und eure Trauringe besitzt. Zwingt uns nicht, unsere Absichten zu ändern. Das würde den ganzen Abend ruinieren, nicht wahr?«

In dieser Stimmung verließ er uns. Wir hörten, wie sich die Tür schloß. Ein Fahrzeug wurde in der Einfahrt gestartet und fuhr dann los. Wir alle blieben auf dem Boden liegen. Kein Geräusch war zu hören, nur der Hund im Schrank.

»Ich denke nicht dran, hier fünfzehn Minuten liegen zu bleiben«, sagte Jackie.

»Wie geht es euch denn?« fragte ich. »Bennett? Sind Sie in Ordnung?«

»Ich denke schon«, sagte er und setzte sich auf.

»Hinlegen!« befahl Kenny. »Haben Sie denn nicht gehört, was er gesagt hat?«

»Kenny«, sagte Bennett, »wenn sie zurückkommen, sage ich ihnen ganz bestimmt, daß sie Sie nicht erschießen sollen.«

»Wo ist Vargas?« fragte Gill. »Ich glaube nicht, daß er schon runtergekommen ist.«

Wir sahen uns alle an – außer Kenny, der immer noch seine Nase im Teppich vergraben hatte. »Warum geht ihr Jungs nicht hin und vergewissert euch, daß sie weg sind?« fragte ich. »Jackie und ich sehen derweil nach Vargas.«

»Da haben Sie recht«, sagte Bennett. »Kommen Sie, Gill.«

Jackie rieb sich die Beine, als er aufstand. »Scheiße, ich bin zu alt für so was«, sagte er. »Wenn man einen bestimmten Punkt im Leben erreicht hat, sollten keine Pistolen mehr auf einen gerichtet werden.«

»Dem kann ich nicht widersprechen«, meinte ich. Wir gingen die Treppe hoch.

Auf halber Höhe blieb Jackie stehen und wandte sich um, eine Hand auf einem Knie, die andere am Geländer.

»Alles in Ordnung, Jackie?«

»War es dasselbe Gefühl, Alex? Damals, als du Polizist gewesen bist und der Typ die Pistole auf dich gerichtet hat?«

»Doch, schon. Genau so, bis zu dem Moment, wo er auf mich geschossen hat.«

»Meinst du, sie hätten im Notfall auch auf uns geschossen?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls bin ich froh, daß wir das nicht rausfinden mußten.«

»In welchem Zimmer ist er?« fragte Jackie und zog sich nach oben. Er ging zur ersten Tür und stieß sie auf. »Hier ist er nicht.«

»Bei all dem zerschlagenen Glas habe ich das Gefühl, er ist hier …« Ich führte ihn zur letzten Tür im Flur. Sie war geschlossen. Ich sah Jackie noch einmal an, dann stieß ich die Tür auf.

Vargas kniete auf dem Boden, die Hände vorm Gesicht. Der Raum war ansonsten eine Trümmerwüste. Alle Karten waren von den Wänden gerissen worden. Alle Vitrinen hatte man zerschlagen, aber auch jede. Das Fenster zum Fluß hin war auch zertrümmert.

»Vargas«, sagte ich und beugte mich über ihn. Ich legte ihm die Hand auf den Rücken. Er lebte noch.

»O Gott«, sagte er. »O Gott, o Gott, o Gott.«

»Sind Sie in Ordnung?« Ich half ihm beim Aufstehen. Er richtete sich halb auf und setzte sich dann wieder, den Rücken an die Wand gelehnt. Er sah mich an, dann Jackie und dann das, was von dem Raum noch übrig war.

»Was ist unten passiert?« fragte er schließlich.

»Es geht allen gut«, sagte ich. »Sie sind soeben gegangen.«

»Ist der Hund noch im Wandschrank?«

Ja.»

»Hat irgendwer schon die Polizei angerufen?«

»Bennett tut das wahrscheinlich in diesem Moment«, sagte ich.

»Er hat mir die Pistole ins Genick gedrückt und gesagt: ›Mach jetzt den Safe auf, oder diese Kugel tritt direkt zwischen deinen Augen wieder aus.‹ Als ich ihn offen hatte, zwang er mich, hier niederzuknien und die Hände vors Gesicht zu legen. Und dann hat er alles zertrümmert. Ich hatte zuviel Angst, um irgendwas zu sehen.«

»Sie haben sich richtig verhalten«, sagte ich. »Sie hätten nichts anderes tun können.«

»Er wußte mit dem Safe Bescheid. Er hat sogar gewußt, in welchem Zimmer er sich befindet.«

Ich wandte mich um und sah den offenen Safe an der gegenüberliegenden Wand. Er war hinter einer der Karten versteckt gewesen.

»Warum hat er hier alles verwüstet?« sagte Vargas. Er schob sich an der Wand hoch, bis er auf den Füßen stand. »Warum hat er das gemacht?«

»Schauen Sie mal hier runter«, sagte Jackie. Er stand am Fenster.

Vargas bahnte sich quer durch den Raum knirschend einen Weg über all das zerbrochene Glas. Als er ans Fenster gekommen war, stellte er sich neben Jackie und sah nach draußen. Eine Brise wehte den feuchten Geruch des Flusses in den Raum.

Ich ging ebenfalls zum Fenster und verursachte auf dem zerbrochenen Glas dasselbe Geräusch wie Vargas. Über ihre Schultern hinweg sah ich die Trümmer unten auf dem Boden. Eine der Karten war zur Hälfte aus dem Rahmen gerissen, und eine ihrer Ecken wehte im Wind hin und her. Vargas’ Teleskop lag etwa zehn Meter vom Haus entfernt direkt am Ufer, halb an Land und halb schon im Wasser. Tausend Glassplitter funkelten im Licht der unteren Terrasse.

Vargas starrte lange Zeit nach draußen. Dann sah er wieder Jackie und mich an. »Sie wußten, wo der Safe war«, sagte er. »Das ist ein Ding. Woher haben sie das gewußt?«

Ich hielt das nicht für eine Frage, auf die er von uns eine Antwort erwartete, deshalb versuchte ich es erst gar nicht.

»Woher haben sie das gewußt?« wiederholte er.

»Kommen Sie«, sagte Jackie. »Gehen wir nach unten.«

Er nahm Vargas am Arm. Vargas schien sich erst gar nicht bewegen zu wollen, tat es schließlich aber doch. Wir knirschten alle drei unsern Weg aus dem Raum hinaus und dann die Treppe runter. Kenny hatte sich doch noch vom Boden erhoben, Gott segne ihn, aber er wirkte immer noch so, als müsse ihm irgendwer die Farbe ins Gesicht zurückwatschen.

»Win«, sagte er. »Was zum Teufel ist da oben passiert?«

»Er hat mich gezwungen, den Safe zu öffnen«, erklärte Vargas. »Dann hat er das Fenster zertrümmert und danach jedes Scheißding im Zimmer.«

»Die Polizei ist schon auf dem Weg hierher«, sagte Bennett. »Gill ist draußen.«

»Wo ist mein Hund?«

»Eine der Türen haben sie aufgebrochen«, sagte Bennett. »Ich nehme an, die beiden anderen waren nicht verschlossen.«

»Klar, ich hatte schließlich nicht mit einer Invasion gerechnet«, sagte Vargas. »Wenn dem Hund was passiert ist …«

Der Schock läßt jetzt nach, dachte ich. Ich kannte das schon. Jetzt war es für ihn an der Zeit, wütend zu werden …

»Komm her, Miata«, sagte er und öffnete die Schranktür. Der Hund kam herausgeschossen, bereit, jemanden zu ermorden. Er lief in die Küche, rutschte dort mit allen Beinen über den glatten Boden, dann zurück ins Pokerzimmer, ins Wohnzimmer, in jeden Raum des Hauses und bellte sich dabei heiser.

»Ist das nun der tapferste kleine gottverdammte Hund, den ihr jemals gesehen habt, oder nicht?« wollte Vargas wissen. »Wenigstens einer, der sich gewehrt hat.«

»Ich meine mich zu erinnern, daß Bennett für Sie ganz schön was eingesteckt hat«, sagte Jackie.

»Und wann war das?«

»Um Himmels willen«, sagte Jackie, »als man Sie vom Boden hochgerissen hat, hat er ihnen gesagt, sie sollten Sie in Ruhe lassen, erinnern Sie sich? Dafür hat er einen Tritt in die Rippen bekommen.«

Vargas sah Bennett an und schien die Szene noch einmal in seinem Kopf ablaufen zu lassen. »Hat nichts zu bedeuten«, sagte Bennett. »Blöd war es obendrein.«

Vargas sah ihn weiterhin an und wollte etwas sagen, als Gill ins Zimmer kam. »Von der Polizei ist noch nichts zu sehen«, sagte er. »Sie müßten längst hier sein.«

»Haben Sie die Polizei vom Soo verständigt?« fragte ich. »Oder die staatliche?«

»Soo«, sagte er. »Ich denke, da sind wir doch, oder?«

Vargas nahm die Flasche Jack Daniels vom Pokertisch und tat einen ordentlichen Zug. Dann ging er zur Schiebetür, öffnete sie und trat auf die Veranda hinaus. Der Gedanke an frische Luft muß auf jeden von uns seinen Reiz ausgeübt haben, denn wir alle folgten ihm.

Ich trat als letzter nach draußen. Als ich auf der Veranda war, war Vargas schon die Stufen zum Fluß hinuntergegangen. Er hob das Teleskop am Ufer auf und hielt es in den Händen.

Kenny folgte ihm und stellte sich neben ihn. Der Rest blieb auf der Terrasse und beobachtete sie. »Was haben Sie genommen?« fragte er.

»Sie haben den Safe leergeräumt.«

»Was war drin?«

Vargas sah ihn an und dann hoch zu uns anderen. »Ihr wißt doch alle, was in dem Safe war.«

»Wieviel Geld war drin?« fragte Kenny noch einmal.

»Wenn die Polizei kommt, erzähle ich denen das mit dem Safe«, sagte Vargas. »Hat das jeder verstanden?«

Wieder kam ein Frachter den Fluß hinunter. Er war über zweihundert Meter lang; für etwas so Großes bewegte er sich im Grunde zu leise. Bennett, Jackie und Gill lehnten sich über das Geländer und sahen zu, wie er vorbeifuhr. Er führte die amerikanische Flagge.

»Was haben Sie sonst noch mitgenommen?« fragte Kenny. »Noch irgendwas?«

»Sieht ganz so aus, als hätten sie den ganzen Scheiß aus dem Fenster geworfen«, sagte Vargas. »Einiges davon ist wohl im Wasser gelandet. Der Rest …«

»Hier ist etwas aus deiner Vitrine«, sagte Kenny und hob eine kleine Glocke auf. »Die Landkarten dürften wohl hinüber sein.«

»Das hier war ein Tausend-Dollar-Teleskop«, sagte Vargas. Mit einer plötzlichen Bewegung führte er es hinter seinen Rükken und schleuderte es dann in den Fluß. Es drehte sich im Fluge um sich selber und klatschte über dreißig Meter weit ins Wasser.

»Das war unter Umständen ein Beweisstück«, meinte Ken.

»Wie bitte?« sagte Vargas. Er wirkte so, als wolle er dringend Ken hinter dem Teleskop her werfen.

»Ich meinte nur so«, sagte Kenny. »Ich meinte … ist auch egal.«

»Den Schmuck haben sie nicht angerührt«, sagte Vargas. »Die ganzen Diamanten, die ich meiner Frau zu jedem gottverdammten Weihnachten schenke. Sie sind direkt in mein Zimmer gegangen, direkt zu meinem geheimen Safe und haben mir dann das angetan. Hat einer von euch eine Idee?«

Niemand sagte etwas, aber ich hatte so ein Gefühl, daß das alles etwas mit den Anspielungen zu tun hatte, die er gerade machte, als die Räuber hereingestürmt kamen – mit der ganzen Geschichte mit Swanson und seiner Frau.

Und, großer Gott im Himmel, mit dem Privatdetektiv, den er angeheuert hatte, um sie zu verfolgen. Über all der Aufregung hatte ich diese reizende kleine Neuigkeit vollkommen vergessen.

»Irgend jemand?« sagte Vargas. »Nicht so schüchtern.«

Da hörten wir die Sirenen. Es klang nach drei Wagen, vielleicht auch vier, die gleichzeitig in seine Straße einbogen.

»Wißt ihr was?« sagte Vargas. »Der Mann, der mich nach oben gebracht hat, dessen Augen habe ich richtig gut sehen können. Wenn ich diese Augen jemals wiedersehe, erkenne ich sie auf der Stelle.« Er schnipste mit den Fingern, um seinen Satz zu unterstreichen.

Wir hörten von drinnen eine Stimme. »Hallo! Ist da jemand?«

»Und denkt dran«, sagte er, während er die Stufen hochkam. »Ich erzähle von dem Safe.«

Schließlich waren vier Polizisten vom Soo mit uns im Haus, plus dem diensthabenden Detective. Ich wartete darauf, jeden Moment den Polizeichef selbst am Tatort aufkreuzen zu sehen. Er und ich hatten in der Vergangenheit einiges miteinander erlebt, und alles andere, was an diesem Abend schiefgehen konnte, war schon eingetreten. Da schien ein Besuch von Chief Maven ebenso konsequent wie unvermeidlich.

»Wo ist der Chief?« fragte ich den Detective. »Meines Erachtens müßte er längst hier sein.«

»Er war heute runter in den Süden«, sagte der Mann. »Ich denke nicht, daß er vor morgen zurück ist.«

»Und es gibt doch einen Gott!« sagte ich. »Das ist das erste Positive, was heute am ganzen Abend passiert ist.«

Er widersprach mir nicht. Schließlich arbeitete er für Maven und wußte, wovon ich sprach. Ich erzählte ihnen alles, was ich wußte – die teilweise Beschreibung der beiden Männer, die unten geblieben waren, der schwerere in den Turnschuhen mit den blauen Streifen, der Blonde, der kanadisch geklungen hatte. Die Glocks. Es war nicht viel, aber er notierte sich alles und bedankte sich bei mir.

Mitternacht war vorbei, als sie endlich mit uns fertig waren. Ich wußte, sie würden am nächsten Tag wiederkommen und den Tatort im hellen Tageslicht untersuchen. Die Untersuchung würde in den nächsten paar Tagen im Mittelpunkt von Vargas’ Leben stehen, aber für den Rest von uns war sie abgeschlossen, so hoffte ich wenigstens. Ich hatte genug von dem Haus. Ich wollte es nie, nie wiedersehen. Und seinen Besitzer genausowenig.

»Gehen wir, Jackie«, sagte ich, sobald die Polizei weg war. »Wir müssen dich nach Hause bringen. Du mußt ja so was von erschöpft sein.«

Wir ließen Vargas an seiner Bar zurück, neben dem Pokertisch. Die ganzen Chips und die Karten lagen noch da. Niemand hatte sich ums Aufräumen gekümmert.

Jackie ließ mich seinen Wagen fahren. Er saß auf dem Beifahrersitz und sah aus dem Fenster. Ich fuhr den Weg zurück, den wir gekommen waren, durch die Stadt zur Six Mile Road, die ganze Strecke hoch nach Brimley, an den beiden indianischen Kasinos vorbei mit ihren in die Nacht hinausstrahlenden Lichtern und ihren vollen Parkplätzen, vorbei am Golfplatz, auf dem das schwere Gerät sich unter einer einzigen Sicherheitslampe hoch an einem Mast versammelt hatte, und dann auf den Lakeshore Drive. Der Halbmond spiegelte sich im Wasser. Der Himmel war wolkenlos.

Der alte Eisenbahnwaggon stand wieder an der Ecke, so tief im Schatten, daß man ihn nicht bemerkt hätte, wenn man nicht wußte, daß er da war. Aus irgendeinem Grunde erschien mir dieser Eisenbahnwagen in diesem Augenblick als schlechthin vollkommen. Es war, als ob ich das Auto auf der Stelle anhalten könnte, die Tür öffnen und einsteigen könnte. Für mich würde sich die Tür auftun. Ich würde auf dem nackten Fußboden schlafen, neben den Ratten und den Waschbären und Gott weiß wem sonst noch, in einem verlassenen nutzlosen alten Eisenbahnwagen, der nie, nie wieder irgendwohin fahren würde.

Ich weiß nicht, was in mir diese Überlegungen auslöste. Ich weiß nicht, wieso ich mir vorstellte, mich in diesem alten Waggon schlafen zu legen und nie mehr aufzuwachen. Es war höllisch, sich so etwas vorzustellen, wenn man gerade von einem bewaffneten Raubüberfall herkam.

»Na schön«, sagte Jackie schließlich. »Immerhin habe ich dich heute abend aus deiner Hütte gekriegt.«

»In der Tat«, sagte ich. »Ich kann es gar nicht abwarten, mitzukriegen, was du für morgen abend geplant hast.«

»Was hast du gedacht?« fragte er. »Als wir da so auf dem Boden gelegen haben?«

»Und die Pistolen auf uns gerichtet waren?«

»Ich meine mich zu erinnern, daß sie ein bißchen mehr auf deinen Kopf gerichtet waren als auf meinen, aber ja, was hast du da gedacht?«

»Du kennst doch die alte Redensart, wie das Leben blitzartig vor einem vorüberzieht?«

»Ja?«

»Sie stimmt. Genau daran habe ich gedacht. An mein ganzes Leben.«

»Und?«

»Und was?«

»Was ist dabei als Summe rausgekommen?« fragte er. »Bei deinem ganzen Leben, meine ich.«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Ich will das wirklich wissen.«

»Bei Gott nicht viel. Wie war das bei dir? Was hast du gedacht?«

»Dasselbe, mehr oder weniger. Nur bei mir hatte es ein Happy End.«

»Und das war?«

»Ich habe gedacht, daß ich, wenn das mein letzter Abend auf Erden ist, mir wenigstens nicht mit ansehen muß, wie die ganze Gegend hier zerstört wird.«

»Glaubst du wirklich, daß das geschieht? Schließlich leben wir hier oben doch mitten in einer Art Niemandsland, mitten im Scheißnichts.«

»Wir leben noch hinter dem Nichts«, meinte er. »Ein gutes Stück nördlich von Nirgendwo. Aber das heißt nichts. Eines Tages kommen sie. Du kannst die Gegend hier nicht für immer geheimhalten.«

»Ich hoffe, daß du unrecht hast«, sagte ich. »Aber ich glaube, drauf setzen würde ich nicht.«

Ich fuhr still weiter. Jackie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.

»Wo wir gerade vom Setzen sprechen«, sagte ich. »Du läßt mich doch wohl nicht noch mal mit dem Arsch Karten spielen, oder?«

»Nein«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er uns noch mal einlädt.«

Da waren wir schon jenseits von allem. Es gab nur noch Bäume, das Seeufer, sanft anschlagende Wellen, das schwarze Wasser, das bis ins Unendliche reichte.

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