Kapitel 6

Es war ein herrlicher Tag in Sault Ste. Marie. Für die meiste Zeit des Jahres konnte man das nicht mit ernsthaftem Gesicht sagen. Vor allem im tiefsten Winter wäre das nur Galgenhumor. An diesem Tag aber, dem Tag nach dem Vierten Juli, konnte es nirgendwo schöner sein als in Sault Ste. Marie.

Im Rest des Landes war es heiß an diesem Tag. Das sah ich morgens auf der Wetterkarte in der Zeitung, all diese hohen dreißiger und sogar vierziger Werte im ganzen Süden, Westen, Mittelwesten, sogar im Nordosten. Es war fünfunddreißig Grad in New York an diesem Tag. Es war vierunddreißig in Detroit. Ich bin bei solcher Hitze schon in Detroit gewesen. Und ich trug dabei eine Polizeiuniform und sah zu, wie die Hitze allen um mich herum zusetzte.

An diesem Tag im Juli, an dem das ganze Land schmorte und köchelte, waren es im Soo achtundzwanzig Grad, mit einer konstanten Brise vom See herüber. Ich war nicht in der Stimmung, sofort wieder in meinen Kleinlaster einzusteigen. Ich brachte es einfach nicht fertig. Der City-County-Bau liegt am Ostende des Schleusenparks, deshalb machte ich einen Spaziergang am St. Marys River entlang. Ein Frachter fuhr auf die Schleusen zu, zusammen mit einigen kleineren Booten und zwei Motorskis. Im Stadtzentrum war viel los. Es war eine Woche mit einem Feiertag und ein so verdammt strahlender Tag, daß ich mich nicht wunderte, all die Leute hier zu sehen. Ich glaube, ich konnte ihnen einfach keinen Vorwurf daraus machen, daß sie auch hier sein wollten. Ich ziehe Touristen jederzeit einem Typen wie Win Vargas vor, mit seinen neureichen Träumen von Anlagen mit Eigentumswohnungen und Golfplätzen. Die Touristen kamen für ein paar Tage hintereinander hierher, wohnten in einem der neuen Hotels, sahen sich einige Schiffe an, die die Schleusen passierten, und kauften ihren Kindern in den Andenkenläden T-Shirts. Vielleicht hatten sie ihre eigenen Boote auf Anhängern dabei, ließen sie im See für ein paar Stunden zu Wasser und angelten Weißfische. Mit den neuen Kasinos jetzt hatten wir vielleicht mehr Touristen als jemals zuvor. Aber damit konnte ich leben. Sie kommen, geben etwas Geld aus, machen ein paar Fotos und sind dann wieder weg.

Ich ging die Water Street hoch, vorbei am Ojibwa Hotel. Es war eines der alten Gebäude der Stadt, mit einem festlich gestalteten Speisesaal, von dem aus man die Schleusen sah. Die neuen Hotels lagen alle im Gewerbegebiet in der Nähe der Fernstraßen.

Vargas hatte etwas über eins der Hotels gesagt, daß seine Frau dort mit dem Anwalt Swanson sei. Und daß sein Privatdetektiv jede Bewegung der beiden festhalte. Ich dachte darüber nach und mußte laut lachen. Dann führte ich mir mein kleines Treffen mit Chief Maven vor Augen und mußte wieder laut lachen.

Zum Teufel, ich war ja ohnehin in der Stadt. Das mußte ich mit eigenen Augen sehen. Ashmun Street, hatte der Chief gesagt. Sein Büro mußte direkt hier in der Stadt sein, da die Ashmun Street senkrecht zum Fluß verläuft, durch das hindurch, was hier als Geschäftsviertel gilt, und dann den alten Kanal des Elektrizitätswerks überquert. Es konnte nicht allzu schwer sein, es zu finden. Verdammt noch mal, schließlich war es die einzige Privatdetektei in diesem Teil des Staates, geschweige denn in dieser Straße.

Ich begann an der Kreuzung mit der Portage Street und arbeitete mich von da nach Süden vor. An beiden Seiten der Straße lagen Andenkenläden, wo man Postkarten kaufen konnte, nachgemachten indianischen Kopfputz und vor allem die kleinen Erzfrachter-Modelle, mit »Sault Ste. Marie, Michigan« auf die Bordwand graviert. Dahinter lag auf der einen Seite eine Eisdiele, auf der anderen eine Buchhandlung, danach ein weiterer Andenkenladen, der sich auf Kristallschmuck und die kleinen Keramikfiguren spezialisiert hatte, die die Leute sammeln. Ein Restaurant, noch ein Andenkenladen, dann überquerte man die Spruce Street. Langsam mußte es warm werden, denn hier machte man schon die ernsteren Geschäfte. Ein dreistöckiges Bankgebäude auf der einen, ein Wirtschaftsprüfer auf der anderen Seite, dann ein Reisebüro und daneben ein Laden, der einem in vierundzwanzig Stunden ein Geschäftsschild anfertigte.

Fast wäre ich an Leons Tür vorübergegangen. Sie lag zwischen dem Schilderladen und einer Kraftfahrzeugversicherung. Die Inschrift auf der Tür lautete »Prudell Ermittlungen. Erster Stock«.

Ich öffnete die Tür und ging eine schmale Treppe hoch. Oben lag ein kleiner Flur mit zwei verschiedenen Büros, die unbenutzt wirkten. Dann stand ich vor der letzten Tür und sah durch die Glasscheibe auf meinen alten Partner Leon Prudell. Er saß am Schreibtisch und starrte aus dem Fenster auf die Straße hinunter. Er war noch ganz der alte, den ich kannte, fünfzig Pfund zu schwer und mit diesem Haar, so rot, daß es schon orange war, und das nach allen Seiten abstand. Er trug diesmal nicht sein übliches Flanellhemd und auch nicht seine Jagdstiefel. Er trug in der Tat ein weißes Hemd mit Schlips. Ich stand eine Zeitlang da und beobachtete ihn und dachte an den Abend, an dem er nach Paradise gekommen war und im Glasgow Inn auf mich gewartet und sich mit Jackys Whiskey Mut angetrunken hatte, um sich mit mir auf dem Parkplatz zu prügeln.

Ich hatte ihm den Job weggenommen – so glaubte er wenigstens. Er hatte ein paar Dinge für Lane Uttley erledigt, einen Rechtsanwalt hier in der Stadt. Lane hatte rausgekriegt, daß ich mal Polizist gewesen war und immer noch eine Kugel in der Brust stecken hatte. Er war zu mir gekommen und hatte mich beschwatzt, es als Privatdetektiv zu versuchen. Ich war blöd genug, das tatsächlich zu tun, gerade lang genug, daß einige wahrhaft gräßliche Dinge passieren konnten. Leon war da auf einmal überzählig und draußen gewesen. Bis zum heutigen Tage, da ich vor seiner Bürotür stand und ihn hinter seinem Schreibtisch beobachtete, wußte er immer noch nicht, welchen Riesengefallen ich ihm damit erwiesen hatte.

Danach war Privatdetektiv so ziemlich das Allerletzte, was ich auf der Welt sein wollte – beziehungsweise noch schlimmer: Privatdetektiv und Leons Partner. Aber er wollte mein Nein einfach nicht akzeptieren. Er fing an, sich als mein Partner aufzuführen, und verdammt noch mal, er hat mir einige Male ganz schön aus der Klemme geholfen. Er hat mir sogar das Leben gerettet. Da habe ich dann gesagt, okay, ich werde dein Partner. Dein stiller Partner. Dein gelegentlicher, dein ruf-mich-an-wenn-du-mich-wirklich-brauchst-Partner. Er hatte mir dann noch einmal aus der Klemme geholfen, aber dieses Mal hatte ich mir überlegt, es sei an der Zeit für mich, Klemmen grundsätzlich zu meiden. Ich bat ihn, meinen Namen aus der Firma zu streichen, auch von der Website, die er eingerichtet hatte. Keine Prudell-MacKnight Ermittlungen mehr. Keine Geschäftskarten mehr, auf der zwei Pistolen aufeinander gerichtet waren. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr oft gesprochen. Ich konnte nicht verhindern, daß ich mich ihm gegenüber ein wenig schuldig fühlte.

Es bedarf keines großen Aufwands, um im Staat Michigan Privatdetektiv zu werden. Man braucht nur drei Jahre als Polizist gearbeitet zu haben oder einen Collegeabschluß in Strafrecht. Leon hatte den Weg übers College gewählt, direkt hier in der Stadt, am Lake Superior State College. Danach wäre er allerdings besser fortgegangen. Er hätte in den Süden des Staates gehen sollen und sein Büro besser in der Detroiter Gegend eröffnet oder in irgendeiner anderen Stadt da unten. Irgendwo, wo es genug zu tun gab, irgendwo, wo ihn nicht jeder noch von der Schule her kannte als den blöden fetten Bengel mit der Brille, der immer in der letzten Reihe gesessen hatte und Schwierigkeiten bekam, weil er unter der Bank Krimis über Privatdetektive las.

Ich klopfte mit dem Knöchel ans Glas. Leon wirbelte herum und sah mich an. Einen Augenblick lang wirkte er verwirrt, dann lächelte er. »Komm rein, Alex«, sagte er. »Die Tür ist offen. Wie findest du mein Büro?«

Ich trat ein und sah mich im Raum um. Er war klein, vielleicht drei mal dreieinhalb Meter. Einige Aktenschränke, Leons Schreibtisch. Davor zwei Stühle für Besucher. An einer Wand hing ein Kalender mit dem Eishockeyteam vom Lake Superior State College. »Go Lakers!« stand darauf. An der anderen Wand hing ein Poster, die Internationale Brücke im Nebel. Und dann noch das Fenster, das auf die Straße einen Stock tiefer sah. Alles sah genauso aus, wie das Büro eines Privatdetektivs aussehen würde, wenn jemand auf die verrückte Idee gekommen wäre, ein solches Büro nach Sault Ste. Marie zu verlegen. »Perfekt«, sagte ich. »Der Raum bist praktisch du.«

»Danke. Schön dich zu sehen.«

»Ich war drüben und habe meinen alten Freund Maven besucht«, sagte ich und setzte mich auf einen der Besucherstühle. »Er hat mir erzählt, daß du jetzt ein Büro hast. Da bin ich mal vorbeigekommen, um Hallo zu sagen.«

»Chief Maven, aha. Ich wette, ich weiß, worüber ihr euch unterhalten habt.«

»Ja, über diesen Typen von Vargas …«

»Mein Klient«, sagte er. »Winston Vargas.«

»Klar, dein Klient.«

»Du warst letzte Nacht in seinem Privathaus anwesend.« Eines der Dinge, die ich an diesem Burschen immer geliebt habe, daß er immer Ausdrücke gebraucht wie »anwesend« und »Privathaus« statt einfach »in seinem Haus«.

»Ich war da. Er hat irgendwann erwähnt, daß du für ihn arbeitest. Irgendwas mit seiner Frau.«

»Insofern er dir gesagt hat, daß ich für ihn arbeite, kann ich das bestätigen.«

Ich sah zur Decke hoch. Das bestätigen, sagt er. »Leon, was ist deine Aufgabe? Hinter seiner Frau herlaufen, um sie mit dem Anwalt der Familie zu erwischen? Wie heißt er noch mal, Swanson?«

»Meine Aktivitäten hinsichtlich meines Klienten sind strikt vertraulich, Alex. Das weißt du.«

»Leon, um Himmels willen, ich bin es schließlich, okay? Wir waren mal Partner.«

»Wir waren Partner, stimmt.«

»Sieh mal, ich hab dir doch gesagt …«

»Schon okay, Alex. Ich mache dir ja keinen Vorwurf daraus. Ich sage nur, daß du weißt, daß ich dergleichen nicht mit dir erörtern kann.«

»Leon, mir ist ganz egal, was du …« Ich hielt inne und regte mich ab. Maven hatte recht, entscheidend ist, wie man auf die Dinge reagiert. Leon zieht halt seine Ein-Mann-Schau ab, und ich werde jedesmal wahnsinnig dabei. Ich sollte mich davon nicht berühren lassen. »Ich wollte nur Konversation machen«, erklärte ich. »Ich würde dich niemals bitten, Informationen preiszugeben, die die Beziehungen zwischen Ermittler und Klienten gefährden könnten.«

»Das ist fair. Ich danke dir.«

»Aber ich war letzte Nacht dabei, als du ihn angerufen hast. Er hat uns erzählt, daß du den beiden in ein Hotel gefolgt bist. Und er war drauf und dran, uns zu beschuldigen, Swanson zu decken. Beziehungsweise Jackie und Bennett und Gill zu beschuldigen. Ich war nur zufällig zugegen. Ich und Kenny.«

Leon griff nach einem Schnellhefter auf seinem Tisch und schlug ihn auf. »Das waren die fünf anderen Spieler letzten Abend.«

»Ja. Bis die Männer mit den Pistolen uns Gesellschaft leisteten.«

»Ich werde Chief Maven um eine Kopie des Polizeiberichts bitten. Ich habe gehört, daß du der einzige warst, der eine brauchbare Beschreibung geben konnte.«

»Ich hatte mir schon gedacht, daß Vargas dich bitten würde, ein Auge darauf zu werfen. Ich habe Maven schon angekündigt, daß er von dir hören wird.«

»Wie hat er darauf reagiert?«

»Das weiß ich nicht. Maven hat das Reagieren aufgegeben. Ärztliche Anordnung.«

»Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen. Ich weiß, daß du und Maven nicht miteinander konntet.«

»Nein, wir schreiben uns nicht gerade zu Weihnachten. Aber darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich frage mich nur, was Vargas genau von dir will. Glaubt er, daß seine Frau und Swanson dahinterstecken?«

Leon sah mich an.

»Ich weiß, ich weiß. Du kannst diese Information nicht preisgeben. Ich frage mich das nur, okay? Schlichte menschliche Neugier.«

»Das verstehe ich. Schließlich warst du gestern abend dabei. Das ist nur natürlich.«

»Er wird wollen, daß du alles genauestens untersucht. Er will wissen, was Sache ist.«

Leon zuckte nur mit den Schultern.

»Ich spar dir Zeit. Ich bin der Typ, den du suchst. Das Ganze war meine Idee.«

»Alex, laß das. Das ist kein Witz.«

»Hast du deinen anderen Job nicht mehr? Das mit den Schneemobilen? Und den Außenbordmotoren im Sommer?«

»Ich bin Privatdetektiv, Alex. Hauptberuflich.«

»Das Büro hier muß doch einiges kosten. Hast du noch andere Klienten außer Vargas? Ich meine, du brauchst natürlich keine Namen zu nennen …«

»Der Großteil meiner Zeit gehört im Moment Mr. Vargas. Er hält mich ganz schön beschäftigt, das kannst du mir glauben.«

»Leon, ich hoffe nur, er verlangt keine Dummheiten von dir. Er scheint mir ganz der Typ dafür zu sein.«

»Du weißt, daß ich den geraden Weg bevorzuge, Alex. Geradewegs und mitten auf der Straße.« Wieder so etwas, was nur Leon sagen würde.

»Was hält deine Frau von alldem?«

»Sie läßt mich den Versuch wagen. Anfangs war sie sich da nicht so sicher. Aber – sie weiß, was das für mich bedeutet. Es ist schon ein Glück, daß ich sie habe.«

»Das stimmt. Was machen die Kinder?«

»Nur Freude.«

»Grüß sie von mir.«

»Mach ich.«

»Und jetzt halte ich dich nicht länger von deiner Arbeit ab.«

»Das ist fair. Ich freue mich, daß du vorbeigekommen bist.«

»Ich mich auch«, sagte ich und stand auf. Ich gab ihm die Hand. »Bis bald.«

»Alex, du weißt doch, daß du immer mein Freund bist, nicht wahr?«

Ich sah ihn an. Die späte Nachmittagssonne schien ihm direkt über die Schulter und warf einen langen Schatten auf seinen Schreibtisch. »Na klar«, sagte ich.

»Du weißt, daß meine erste Priorität mein Klient ist. Und meine zweite Priorität müssen die offiziellen Organe der Verbrechensbekämpfung sein.«

»Warum erzählst du mir das?«

Er antwortete nicht sofort. »So muß es einfach sein«, sagte er schließlich. »Das weißt du doch.«

»Klar. Natürlich. Wenn du mit alldem fertig bist, ruf mich an. Ich spendiere dir dann ein Bier.«

Er nickte und lächelte mir zu. Dann drehte er sich um und sah auf die Straße. Ich verließ sein Büro und schloß die Tür hinter mir. »Was zum Teufel sollte das denn?« sagte ich laut, als ich die Treppe hinunterging. Irgend etwas ging in Leon Prudells Schädel vor sich, und wie stets konnte ich nicht einmal raten, was es sein mochte.

Ich ging zurück zur Ashmun Street, nahm eine Abkürzung hinter dem Haus der Küstenwache zurück zum City-County-Bau. Ich stieg in meinen Laster und fuhr stadtauswärts.

Einer plötzlichen Eingebung folgend hielt ich vor O’Dells Kneipe. Es war ein großes zweistöckiges Holzgebäude am Ende der Bermuda Avenue, in einer Gegend, die »The Shallows« genannt wird. Der Fluß wird dort noch einmal schmaler, ehe er sich zur Whitefish Bay hin verbreitert. Ich würde mir ein Bier genehmigen und sehen, wie es Bennett ging. Ich parkte direkt vor dem Gebäude. Es sah aus, als stünde es schon mindestens hundert Jahre dort. Die Verkleidung aus Zedernholz war grau verwittert durch den ständigen Wind vom See. Ein Haus so herzurichten würde eine Stange Geld kosten. Allein die Kosten für das ›gekälkte‹ Verkleidungsmaterial wären mörderisch.

Bennett zapfte gerade ein Bier hinter der Theke, als ich eintrat, und sah so aus, wie man es vom Eigentümer dieses Hauses erwarten würde – ein gewichtiger Mann, den nichts mehr erschüttern konnte, rauh an den Kanten, wie die Kneipe selbst. Er sah sich das Spiel der Tigers auf einem Großschirm an. Für einen späten Sommernachmittag war es still im Lokal – ich wußte, ab fünf würde es lebhafter werden und bis zwei so bleiben.

»Alex McKnight!« rief er, als er mich sah. »Was führt Sie her? Wo ist Jackie?«

»Als ich zuletzt von ihm gehört habe, lag er noch im Bett. Und wo Sie gerade schon zapfen …«

»Kommt sofort«, sagte er. »Na, ich kann es ihm nicht verargen, wenn er danach mal richtig ausschlafen will. Ich habe selbst die halbe Nacht wach gelegen. Sie wissen, was ich meine? Einfach nur die Decke angestarrt.«

Er sah etwas mitgenommen aus. Aber schließlich war er auch sonst nicht gerade ein Filmstar. »Danke«, sagte ich, als er mir das Bier zuschob.

»Und wissen Sie, was ich mir gedacht habe, als ich so die ganze Nacht die Decke angestarrt habe? Daß es alles meine Schuld gewesen ist.«

»Wie kommen Sie denn da drauf?«

»Vargas, dieser Pferdearsch, als er das Haus baute, war er ein paarmal hier. Wir sind ins Gespräch gekommen, und er hat mich gefragt, ob hier irgendwo regelmäßig gepokert würde. Ja, sagte ich, ich habe da ein paar Typen, die spielen hier zweimal im Monat. Sie wissen doch, Jackie und Gill und einige andere. Da ist er dann immer zu den Pokerabenden erschienen, aber er spielt um höhere Einsätze, als die meisten das hier wollen. Eines Tages hat sich dann die frühere Runde aufgelöst, übriggeblieben sind Vargas und dieser Kenny, der bei ihm arbeitet, ich und Gill und Jackie. Und Swanson.«

Er hielt inne und sah mich an. Unwillkürlich mußte er lächeln.

»Bis er anfing, Vargas’ Frau zu nageln, meine ich. Dann brauchten wir einen weiteren Spieler, so hat Jackie Sie rangeschleppt. Wenn das kein Glücksfall für Sie war!«

»Ein wahrer Segen, ich weiß.«

»Jackie hat sich etwas Sorgen um Sie gemacht, Alex. Sie nehmen mir das doch nicht übel, wenn ich das sage? Er meinte, Sie würden sich zu sehr abkapseln. Meinte, er sähe Sie kaum noch.«

»Ich hatte da so’n Tief. Aber ich bin wieder okay. Bestimmt.«

»Schön zu hören, Alex. Jackie kümmert sich halt ein wenig um Sie, das wissen Sie ja. Er ist ein feiner Kerl. Mein Gott, Jakkie und ich, wir kennen uns schon fast fünfzig Jahre, können Sie sich das vorstellen? Wir haben immer unsere Hausaufgaben zusammen gemacht, da drüben, in der Ecke.« Er wies auf die gegenüberliegende Ecke der Kneipe, wo jetzt ein Dartboard hing.

»Das hier muß doch für Sie voller Erinnerungen stecken.«

»Da können Sie sich gar keinen Begriff von machen.« Er sah wieder zum Schirm hoch. »Können Sie sich vorstellen, daß die da jetzt in dem neuen Stadion spielen? Comerica Park, heißt das nicht so? Ist das deren Ernst?«

»Ich war mal da. Das ist mit dem Tiger Stadium nicht zu vergleichen, das kann ich Ihnen sagen.«

»Natürlich nicht.« Er nahm ein nasses Geschirrtuch und warf damit nach seinem Sohn. Ham O’Dell war noch größer als sein Vater, mindestens einsfünfundneunzig. Er hatte für Northern Michigan im Sturm gespielt. Er war das, was die Zeitungen höflich einen »körperbetonten Spieler« nennen, das heißt, er konnte nicht viel mehr, als anderen massiv im Wege sein. Ham wickelte sich das Tuch vom Gesicht und warf damit nach seinem Vater, wobei er ihn fast um einen Meter verfehlte.

»Basketballspieler«, sagte Bennett. »Keine Koordination.«

Das löste eine längere Kontroverse über die verschiedenen Sportarten aus und dann darüber, welche Generation es schwerer gehabt hätte. Irgendwie kamen wir dann aufs Angeln zu sprechen und schließlich auf die Frauen. Das lockte Mrs. O’Dell aus der Küche. Margaret O’Dell war eine wirklich reizende Frau, und keiner der beiden Männer im Raum verdiente sie. Jedenfalls sagte sie das, und als sie mich darum bat, bestätigte ich das gerne.

»Was macht Jackie?« fragte sie mich. »Ich habe ihn wer weiß wie lange nicht gesehen.«

»Immer noch der alte. Abgesehen von gestern abend geht es ihm gut.«

Während ich mit ihr sprach, fiel mir etwas ein, was Jackie mir mal erzählt hatte. Oder beinahe erzählt hätte, wie er einst in Margaret verliebt gewesen sei, vor vielen Jahren, und wie er sie an seinen besten Freund verloren habe. Ich fragte mich, ob er wohl ihr Gesicht gesehen hatte, als sein Leben vor ihm abgelaufen war.

Es war Abendessenszeit, als ich zurück in Paradise war. Ich hielt am Glasgow Inn. Jackie war aufgestanden, Gott segne ihn, und saß am Kamin. Er sah immer noch ein wenig müde aus, aber nichts, was ein wenig freundschaftliches Sticheln nicht wieder hinkriegte. Ich aß mit ihm zu Abend und erzählte von meinem Tag – meinem Besuch bei Maven, dann bei Leon und wie ich schließlich angehalten hätte, um Bennett zu sehen. Und Margaret.

Er nickte und lächelte, als ihr Name fiel. »Da bist du heute ja ganz schön rumgekommen«, sagte er. »Für einen Einsiedler nicht schlecht.«

Als ich dann endlich an diesem Abend wieder in meiner Hütte war, blinkte wieder das Lämpchen an meinem Anrufbeantworter. Diesmal waren es zwei Nachrichten. Ich drückte den Abspielknopf und hörte eine Stimme, die ich zunächst nicht erkannte. Dann fiel es mir ein. Es war Winston Vargas, der mich für den nächsten Tag zum Mittagessen einlud. Und zwar ausgerechnet auf seinem Boot. Die zweite Nachricht kam von Eleanor Prudell, Leons Frau, die mich bat, sie so schnell wie möglich zurückzurufen.

Es war schon spät, aber ich dachte mir, Vargas’ Nachricht sei eine Einladung, die man schlecht unbeantwortet lassen konnte. Er hatte seine Nummer hinterlassen – ich wählte sie und ließ es fünfmal klingeln, bis eine Frau sich meldete.

»Spreche ich mit Mrs. Vargas?« sagte ich. »Es tut mir leid, daß ich so spät anrufe. Ist Ihr Gatte zu sprechen?«

»Wer ist da?«

»Mein Name ist Alex McKnight. Ich war einer der Männer, die gestern abend in Ihrem Haus Poker gespielt haben.«

»Lassen Sie mich mal raten. Es hat Ihnen so viel Spaß gemacht, daß Sie jetzt anrufen, um gleich das nächste Spiel zu verabreden.«

»Nein, eigentlich hat Ihr Gatte mich angerufen und mich zum Essen eingeladen. Auf seinem Boot. Ich rufe an, um abzusagen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt, Ma’am. Das war gedankenlos von mir.«

»Er ist momentan nicht da«, sagte sie. »Er hat irgend so ein Treffen mit diesem Tölpel, den er angeheuert hat.«

»Mit Leon Prudell? Es ist fast Mitternacht.«

»Den Namen kenne ich nicht. Der große Typ mit den orangen Haaren, der, der mir in den letzten Wochen ununterbrochen nachläuft.«

Das ließ ich besser unkommentiert. »Würden Sie Ihrem Gatten etwas ausrichten, Ma’am? Daß ich leider nicht mit ihm zu Mittag essen kann?«

»Werde ich machen. Ich hoffe, es bricht ihm nicht das Herz.«

»Vielen Dank, Ma’am. Und gute Nacht.«

»Alex, heißen Sie so? Schlafen Sie fest, Alex.«

Den Anruf bei Eleanor Prudell wollte ich mir an sich für morgen aufheben, aber die Angelegenheit mit Vargas wurde von Minute zu Minute immer rätselhafter. Wie Leon sich verhalten hatte, und sein Statement, seine erste Priorität sei sein Klient, seine zweite Priorität sei die Polizei. Ich hatte gedacht, Leon sei eben Leon, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich dachte mir, es sei der Mühe wert, den Anruf sofort zu beantworten, selbst zu dieser späten Stunde. Sie meldete sich beim ersten Klingeln.

»Eleanor«, sagte ich, »hier ist Alex. Ich nehme an, Sie haben noch nicht geschlafen.«

Ich hatte Eleanor Prudell gut genug kennengelernt, um sie zu mögen und sie zu bewundern, weil sie mit den Privatdetektivträumen ihres Mannes umzugehen wußte. Als Leon sich beide Knöchel gebrochen hatte, war ich Zeuge, wie sie ihren Mann im Haus herumtrug, als sei es ein Korb Wäsche. Sollte ich jemals Rückendeckung bei einer Wirtshausschlägerei brauchen, wäre Eleanor meine erste Wahl.

»Wie schön, Ihre Stimme zu hören«, sagte sie. »Schon so lange her.«

»Ist alles in Ordnung? Ihre Nachricht klang etwas besorgt.«

»Ich frage mich nur, worin Leon diesmal verwickelt ist. Dieser verrückte Typ von Vargas hat ihn heute siebenmal angerufen. Im Moment sind sie in einer Kneipe, bei einer Art ›Pow-wow‹, wie er sich ausgedrückt hat.«

»Einem ›Pow-wow‹?«

»So hat er es genannt. Er verhält sich äußerst merkwürdig, Alex. Ich meine, selbst für Leons Maßstäbe. Ich hatte gehofft, Sie wüßten etwas.«

»Wirklich nicht«, sagte ich und spürte ein leichtes Schuldgefühl. »Ich habe in letzter Zeit kaum Zeit mit ihm verbracht.«

»Das wünschte ich mir aber. Sie können ihn manchmal zurück auf die Erde holen.«

»Eleanor, es tut mir leid …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Alex. Ich weiß, daß Sie nicht mehr sein Partner sind. Ich habe nur gehofft, Sie könnten rauskriegen, was los ist.«

»Vielleicht kann ich das auch«, sagte ich und rieb mir die Augen. Ich konnte selbst nicht glauben, was ich da vorhatte. »Vargas will morgen mit mir zu Mittag essen. Vielleicht kann ich dabei rausfinden, was mit Leon los ist.«

»Mein Gott, Alex, würden Sie das machen? Jetzt geht es mir schon besser.«

Ich sagte, das würde ich, sie dankte mir mehrmals, versprach mir, ihre Kinder von mir zu grüßen, dankte mir nochmals und wünschte mir dann eine gute Nacht.

Ich wählte Vargas’ Nummer, entschuldigte mich erneut bei seiner Frau, und sagte ihr, ich könne das mit dem Mittagessen doch einrichten.

»Da bin ich aber froh, das zu hören«, sagte sie. »Ich habe hier schon gesessen und mir die Augen aus dem Kopf geheult. Jetzt werde ich gut schlafen.«

Ich gönnte ihr den Kommentar, wünschte ihr gute Nacht und hoffte zu Gott, ihr niemals persönlich begegnen zu müssen.

Bevor ich diese Nacht einschlief, lag ich im Dunkeln da und lauschte dem Wind, der vom See her wehte. Ich fragte mich, was zum Teufel eigentlich los sei, was Leon wohl im Schilde führe und weshalb Vargas mit mir essen wollte.

Schlaf einfach, sagte ich mir. Morgen wirst du es rausfinden.

Lunch auf einem Boot. Wie schlimm mochte das sein?

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