Kapitel 9
Ich wollte irgendwas machen, mich einmischen, irgendwen sprechen, ihnen klarmachen, daß sie einen Fehler begingen. Aber ich wußte, ich würde so erfolgreich sein wie Vargas’ kleiner Hund, bellen und an ihren Fersen knabbern, ohne irgend etwas zu bewirken. So saß ich nur in meinem Laster, wartete bei heruntergekurbeltem Fenster, damit ich in der Hitze nicht erstickte, und sah den Polizisten zu, wie sie in Jackies Kneipe ein- und ausgingen. Irgendwann wurde Jackie aus der Vordertür geführt. Er blinzelte, als das grelle Sonnenlicht ihn plötzlich traf; an den Händen trug er Handschellen. Ich stieg aus meinem Wagen, stellte mich hin und sah zu, wie sie ihn zu einem der Streifenwagen vom Soo brachten.
Sie öffneten eine Hintertür für ihn. Unmittelbar, bevor er einstieg, erwiderte er meinen Blick und sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht so recht einzuordnen wußte. Ich habe viele Leute gesehen, die in Streifenwagen abtransportiert wurden. Neulingen sieht man dabei an, daß sie restlos fertig und am Ende sind, wie ein Tier, wenn ein Löwe es an der Kehle gepackt hat. Leute mit beachtlicher krimineller Karriere versuchen dagegen möglichst cool auszusehen, als handelte es sich lediglich um eine Taxifahrt. Jackie wirkte weder noch. Teufel noch mal, er wirkte fast so, als amüsiere ihn das Ganze. Er lächelte und nickte mir zu, bevor er den Kopf senkte und in den Wagen glitt.
Ich widerstand der Versuchung, ihnen auf die Wache zu folgen. Ich wußte, daß es eine Weile dauern würde, bis er ordnungsgemäß eingeliefert war, noch länger, wenn sie versuchten, ihn zu verhören. Das Beste, was ich im Moment tun konnte, war auszuharren und zu versuchen, Jackies Sohn zu Gesicht zu bekommen, mich zu vergewissern, daß es ihm gut ging, und ihn zu fragen, ob Jackie einen guten Anwalt hatte.
Die Polizisten blieben noch etwa eine weitere Stunde. Zuerst verschwanden die vom Staat, danach die vom Soo. Der letzte, der ging, hatte offensichtlich die Hausschlüssel. Er verschloß die Haustür, prüfte noch einmal, ob sie auch zu war, stieg dann mit seinem Partner in ihren Wagen und schleuderte beim Starten den Kies des Parkplatzes hoch. Jetzt, wo alle fort waren, wirkte der Ort gespenstisch ruhig. Die einzigen Geräusche kamen von den Bienen, die in den Feldblumen am Rand des Parkplatzes summten, und von den Wellen, die sich hundert Meter entfernt an den Uferfelsen brachen.
Ich stieg aus und ging zum Vordereingang. Innen steckte ein handgeschriebenes Schild. »Heute geschlossen« stand darauf. Ich sah nach drinnen. Alles war dunkel. Ich klopfte an die Tür.
Nichts.
Ich ging zur Rückseite des Hauses, zu Jackies Privateingang. Ich klopfte. Ich wußte, daß Jonathan sein Zimmer direkt über der Tür hatte. Wenn er zu Hause war, mußte er mich hören.
Nichts. Wo zum Teufel steckte er?
Als ich zu meinem Laster zurückging, fuhr ein Wagen auf den Parkplatz. Ein Mann stieg aus, jemand, den ich schon mehrmals in der Kneipe gesehen, mit dem ich mich aber noch nie unterhalten hatte. »Was ist los?« fragte er. »Hat Jackie offen?«
»Jackie hat zu. Kommen Sie morgen wieder.«
»Wieso hat er zu?«
»Kommen Sie morgen wieder.«
Der Mann glotzte mich wütend an und kehrte zu seinem Wagen zurück. Beim Losfahren schleuderte er noch mehr Kies hoch als die Polizisten.
Während ich zum Soo fuhr, rief ich in Leons Büro an. Er war nicht da. Ich hinterließ ihm eine Nachricht und bat ihn, mich baldmöglichst anzurufen. Als nächstes wählte ich seine Privatnummer – kein Leon, keine Eleanor. Ich hinterließ dort dieselbe Nachricht.
Dann rief ich bei Jackie an und hinterließ dort eine Nachricht für seinen Sohn. Ich sei auf der Wache, sagte ich. Komm, so schnell du kannst.
Als ich den City-County-Bau erreichte, war Jonathan schon da.
»Alex«, sagte er, als er mich sah. »Ich habe versucht dich anzurufen.«
»Wie bist du hierhin gekommen? Am Glasgow Inn habe ich dich nicht gesehen.«
»Zuerst haben sie mir gesagt, ich sollte mich zu ihrer Verfügung halten. Später hieß es, ich sollte verschwinden. Ich sollte später auf der Wache anrufen und mich erkundigen, wie die rechtliche Lage meines Vaters sei. Aber wohin zum Teufel sollte ich gehen? Ich würde wahnsinnig werden. Also bin ich einfach hergekommen.«
»Ich muß dich verfehlt haben«, sagte ich. »Erzähl mir alles, was passiert ist.«
»Also.« Er holte tief Luft und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Sie sind heute morgen gekommen. Ich weiß nicht mehr, um neun oder um halb zehn. Ein halbes Dutzend Soo-Polizisten und ein halbes Dutzend vom Staat. Chief Maven war dabei. Er hat gesagt, sie hätten einen Durchsuchungsbefehl für das gesamte Gebäude. Es waren ein paar Gäste zum Frühstück da – Maven hat sie rausgeschmissen und gesagt, wir hätten heute den ganzen Tag geschlossen. Mein Vater mußte sich dann an einen der Tische setzen, und ein Mann vom Soo hat ihn die ganze Zeit bewacht. Dann, ja, mein Gott, Alex, sie haben einfach alles durchsucht. In der Kneipe haben sie angefangen und sich dann durchs ganze Haus durchgearbeitet. Mein Zimmer. Vaters Zimmer. Maven ist wieder runtergekommen. Das war, als er mir sagte, ich sollte verschwinden. Ich glaube, die offizielle Verhaftung ist passiert, als ich gerade weg war.«
»Was haben sie gefunden? Hast du eine Idee?«
»Nein, Alex. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen.«
»Haben Sie dir gesagt, was im Moment mit ihm geschieht?«
»Sie haben gesagt, er würde eine ganze Weile hierbleiben. Ich weiß nicht, ob sie ihn jetzt verhören oder was.«
»Sollte das der Fall sein, ist er hoffentlich so schlau und hält den Mund.«
»Er hat nichts getan, Alex.«
»Das weiß ich. Trotzdem sollte er im Moment den Mund halten. Wie steht es mit einem Rechtsanwalt? Hat er einen Anwalt, weißt du das?«
»Es gibt da einen in Brimley. Er hat schon mal für Vater gearbeitet. Testament aufgesetzt, so was. Ich habe ihn angerufen, aber er war nicht da, und da habe ich ihm eine Nachricht hinterlassen, er solle hierher kommen.«
»Okay, das ist gut. Wenn alles gutgeht, setzen sie wahrscheinlich gegen Abend die Höhe der Kaution fest.«
»Wir stellen doch die Kaution für ihn? Wir wollen schließlich nicht, daß er die Nacht im Gefängnis verbringt.«
»Klar holen wir ihn raus. Keine Sorge. Wir müssen einen Kautionsagenten hierher kriegen. Das Problem ist nur, daß Leon immer noch der einzige Kautionsagent in der Stadt ist.«
»Dann nehmen wir eben ihn.«
»Nein, das geht nicht. Ich erklär dir das später. Ich versuche mich zu erinnern – als Leon damit anfing, sagte er, der nächste Agent sei weit weg in Mackinac City. Da drüben ist ein Telefonbuch. Sieh doch in den Gelben Seiten unter ›Kautionen‹ nach und versuch ihn zu finden. Ich will noch einmal mit Maven sprechen.«
»Okay, wenn du das für eine gute Idee hältst.« Er wirkte nicht so, als ob er es dafür hielte. Ich war mir selbst da nicht sicher, aber ich wußte nicht, was ich sonst machen sollte.
Am Tisch in der Halle saß eine Empfangsdame. Ich wartete, bis sie ein Telefonat beendet hatte, und fragte sie dann, ob ich Chief Maven sprechen könne. Sie sagte mir, Chief Maven sei im Moment außerordentlich beschäftigt, und fragte mich, ob ich ihm eine Nachricht hinterlassen wolle. Ich bat sie, ihn doch liebeswürdigerweise anzurufen und ihm zu sagen, Alex McKnight wolle ihn sofort wegen der heutigen Festnahmen sprechen. Sie dachte eine Sekunde darüber nach, griff zum Hörer und rief ihn an. »Er empfängt Sie«, sagte sie. »Wissen Sie, wo sein Büro ist?«
»Ich fürchte ja.«
Er wartete schon in der Tür auf mich, als ich dort hinkam. Ich trat ein und setzte mich auf meinen gewohnten Stuhl.
»Ich nehme an, Sie wollen Ihrer ursprünglichen Aussage etwas hinzufügen? Derjenigen, die Sie gegenüber den Beamten in der fraglichen Nacht gemacht haben? Hier ist Papier, falls Sie es aufschreiben wollen.«
»Gelte ich im Moment als Verdächtiger?«
»Nicht zu diesem Zeitpunkt, nein. Aber wenn Sie sonst irgend etwas über die Sache wissen und jetzt eine Aussage machen wollen …«
»Ich weiß sonst nichts.«
»Obwohl Ihr bester Freund und zwei seiner Freunde alle darin verwickelt zu sein scheinen, haben Sie keine weiteren Informationen?«
»Sie hatten nichts damit zu tun. Die einzige weitere Information, die ich für Sie habe, ist die: Sie haben einen großen Fehler begangen.«
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Einen großen Fehler. Ich sollte sie also auf der Stelle laufen lassen. Wollen Sie das sagen?«
»Ich will Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»McKnight, ich habe hier sehr viel zu tun.«
»Zunächst einmal: Wann kann ich Jackie sprechen?«
»Wenn er die Kaution gezahlt hat. Falls er das tut. Die Höhe wurde noch nicht festgesetzt.«
»Hat er um einen Anwalt gebeten?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn noch nicht gesprochen.«
»Was ist auf dem Videoband, das Sie haben?«
»Das kann ich nicht erörtern.«
»Sie haben gesagt, Prudell hat es aufgenommen. Mir leuchtet nicht ein, wie das möglich gewesen sein soll. Er hat Vargas in der Nacht angerufen. Offensichtlich verfolgte er dessen Frau. Laut Vargas war sie mit Swanson in einem Hotel. Wenn er sie beschattet hat, wie konnte er dann irgend etwas in Vargas’ Haus aufnehmen?«
»Dieselbe Antwort. Ich kann dazu im Moment nichts sagen.«
»Er ist nicht dagewesen. So einfach ist das. Selbst wenn er angeblich zum Haus rübergekommen sein sollte, so sage ich Ihnen: Er war nicht da. Was könnte er da aufgenommen haben?«
Maven sah auf seine Uhr.
»Diese drei Leute lagen auf dem Boden«, sagte ich. »Auf sie waren Waffen gerichtet. Was zum Teufel kann da auf einem Videoband sein, das sie belasten könnte? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Ich verstehe, warum Sie ratlos sind, McKnight. So viel kann ich sagen.«
»Vargas war das. Sie müssen sich klarmachen, Maven, das ist alles Vargas. Ich hatte gestern einen Zusammenstoß mit ihm. Er hat mich gewarnt, er plane etwas.«
»Ich würde Ihnen raten, Vargas aus dem Wege zu gehen. Das heißt, das ist mehr als ein Rat …«
»Was haben Sie in Jackies Schlafzimmer gefunden? Geld aus Vargas’ Safe? War es das? War es das, was Sie auch in Bennetts und Gills Häusern gefunden haben?«
Maven sah mich nur an.
»Sie haben von der Entgegennahme gestohlener Güter gesprochen. Meinen Sie damit das Geld? Andere ›Güter‹ wurden nicht gestohlen. Ansonsten haben sie das Zimmer verwüstet und sind verschwunden.«
»McKnight …«
»Was auch immer es war, glauben Sie nicht, daß man es ihm untergeschoben hat?«
»Ich werde diese Theorie im Hinterkopf behalten. Wäre es das jetzt?«
»Das da drinnen ist mein Freund. Das ist ein Mann, der einmal gewendet hat und hundertfünfzig Kilometer zu einem Restaurant zurückgefahren ist, nur weil ihm plötzlich aufgefallen ist, daß er zu wenig Geld auf den Tisch gelegt hat. Wenn Sie glauben, er hat mit der Sache irgend etwas zu tun, liegen Sie falsch. Und ich bin sicher, daß das auch für Bennett und Gill gilt. Irgendwas stinkt hier fürchterlich, Chief, und ich werde rauskriegen, was das ist.«
»Ich dachte mir, daß Sie das sagen würden, McKnight. Nur dieses Mal sind Sie kein Privatdetektiv mehr, Sie erinnern sich doch? Dieses Mal sind Sie ein wichtiger Zeuge und nur Zentimeter davon entfernt, selbst festgenommen zu werden. Sie werden also schön hier in der Gegend bleiben, falls ich Sie brauche. Und Sie werden sich nicht in diese Untersuchung einmischen. Mir ist klar, daß das für Sie eine schwierige Vorstellung ist. Also mache ich es ganz einfach. Gehen Sie zurück nach Paradise. Bleiben Sie da, bis ich Ihnen was anderes sage. Das ist alles. Meinen Sie, Sie schaffen das?«
Ich stand auf. »Nur so aus Neugier«, sagte ich, bevor ich zur Tür ging, »was ist aus ›dem neuen Chief Maven‹ geworden, mit dem ich vor zwei Tagen gesprochen habe?«
»Den gibt es noch«, meinte er. »Ihnen zuliebe, dachte ich, hole ich noch mal das Originalmodell raus. Sozusagen der alten Zeiten wegen.«
Als ich in die Halle zurückkam, herrschte dort lebhafter Betrieb. Ham O’Dell war jetzt da, überragte alle und wirkte so, als wolle er etwas kaputtschlagen. Zwei Männer vom Sault-Stamm sah ich auch.
»Alex, was zum Teufel ist hier los?« fragte Ham. »Niemand spricht mit mir. Ich bin heute morgen vorbeigekommen, und das Restaurant war geschlossen. Es wimmelte von Polizisten. Sie haben gesagt, mein Vater sei schon verhaftet.«
»Wir kümmern uns alle gemeinsam darum«, sagte ich. »Jonathan, hast du den Kautionsagenten erreicht?«
»Er ist schon unterwegs«, sagte er. »Ich dachte mir, Ham könnte ihn auch brauchen.«
»Ihr braucht zehn Prozent von der Kaution; den Betrag kennen wir aber noch nicht. Schafft ihr das beide? Falls nicht, könnte ich helfen.«
»Egal wie viel«, sagte Jonathan, »ich besorge es.«
»Ich ebenfalls«, sagte Ham.
»Vielleicht fragt ihr die beiden Herren drüben wegen Gill«, sagte ich. »Ich kann mir aber nicht denken, daß sie einen Agenten benötigen. Der Stamm wird die Kaution für ihn aufbringen.«
»Die haben weiß Gott genug Geld von den Kasinos«, sagte Ham.
Ich ließ das unkommentiert.
»Hast du Jackies Anwalt erreicht?«
»Habe ich«, meinte Jonathan. »Er ist auch hierhin unterwegs.«
»Okay, dann setzt ihr beiden Hübschen euch am besten still hierhin. Ich weiß nicht, wie lange die noch da drin sein werden, aber es wird noch eine Weile dauern, bis die Kaution festgesetzt ist.«
»Was hast du vor?« fragte Jonathan.
»Ich suche einen alten Freund auf. Und rede mit ihm über ein Videoband.«
