Kapitel 10
Ich fuhr die wenigen Blocks vom City-County-Bau zu Leons Büro auf der Ashmun Street, parkte den Wagen auf der Straße und kletterte die enge Stiege zu seinem Büro hoch. Durchs Fenster konnte ich sehen, daß er nicht da war. Er hatte kein Schild an der Tür, das einem gesagt hätte, wann er wieder zurück sei.
Ich ging auf die Straße zurück, stieg in den Wagen und dachte nach, was ich als nächstes tun sollte. Leon war möglicherweise bei Vargas, überlegte ich mir. Ich war mir nicht sicher, ob ich es über mich brächte, bei Vargas an die Tür zu klopfen und nach ihm zu fragen. Zum Teufel, dachte ich. Wenn das erforderlich ist, mache ich es eben.
Ich fuhr in den Ostteil der Stadt, zu Vargas’ Haus am Fluß. Ein blauer Miata stand in der Einfahrt, ein Saab in der offenen Garage. Leons kleiner roter Schrotthaufen war nirgendwo zu sehen.
Okay, dann brauche ich also nicht an Vargas’ Tür zu klopfen, dachte ich. Zumindest jetzt nicht.
Statt dessen fuhr ich zurück durch die Stadtmitte und in südlicher Richtung auf die I-75. Nach wenigen Kilometern nahm ich die Ausfahrt nach Rosedale und fuhr hinüber zu Leons Haus in der Nähe des Chippewa-Flughafens.
Sobald ich auf seiner Straße war, sah ich ihn auch schon aus seiner Haustür kommen. Er legte eine Aktentasche ins Auto, stieg dann selbst ein und begann, rückwärts aus seiner Ausfahrt zu setzen. Ich hielt mit dem Wagen hinter ihm und versperrte ihm den Weg.
Ich stieg aus. Er bewegte sich nicht. Er blieb im Wagen und starrte stur geradeaus. Die Fenster waren heruntergekurbelt, so brauchte ich nicht mit den Knöcheln dagegen zu klopfen, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Er trug heute nicht nur einen Schlips – der Kerl besaß doch tatsächlich einen Anzug!
»Leon«, sagte ich, »wir müssen reden.«
»Ich bin auf dem Weg zu meinem Klienten.«
»Da kannst du auch hin, sobald wir geredet haben.«
»Es gibt nichts, worüber wir reden könnten, Alex.«
»Und ob«, sagte ich und legte meine Unterarme auf die Motorhaube seines Wagens. Mein Gesicht war jetzt kaum vierzig Zentimeter von seinem entfernt. »Und ob es etwas gibt.«
»Was hast du jetzt vor? Hab ich gleich deine Faust im Gesicht?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil du wütend bist. Das machst du immer, wenn du wütend bist.«
»Leon, ich schlage keine Freunde.«
Er sah mich zum erstenmal an. »Es tut mir leid, daß es so gekommen ist. Neulich, als du mich in meinem Büro besucht hast, habe ich zwei geschlagene Stunden da gesessen. Ich habe mir überlegt, wie ich mich korrekt verhalten sollte.«
»Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
»Daß ich das Band meinem Klienten aushändigen müßte. Ich bin davon ausgegangen, daß er es auf der Stelle zur Polizei brächte. Es sieht jetzt ganz so aus, als habe er einen Tag gewartet, aber schließlich hat er es dann doch getan.«
»Was hast du sonst noch für deinen Klienten gemacht? Hast du beispielsweise meine Hütte durchsucht?«
»Nein. Selbstverständlich nicht.«
»Irgendwer hat es getan.«
»Das würde ich nie machen, Alex. Selbst dann nicht, wenn er mich darum bäte.«
»Hat er sonst noch jemanden, der für ihn arbeitet?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Okay, ist auch egal. Es ist nicht wichtig. Was ist denn nun auf dem Band?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Du brauchst es mir auch nicht zu sagen. Du kannst es mir zeigen.«
»Ich habe das Original an Vargas weitergegeben. Ich habe es nicht mehr.«
»Dann zeig mir die Kopie.«
»Wer sagt denn, daß es eine Kopie gibt?«
»Du soeben. Du hättest nicht ›Original‹ gesagt, wenn es keine Kopie gäbe.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann sie dir nicht zeigen, Alex.«
»Okay, dann werde ich doch noch zuschlagen müssen.«
Wieder sah er mich an.
»Das war Quatsch«, sagte ich. »Das ist auch nicht der Grund, weshalb du mir das Band jetzt zeigen wirst.«
»Und was ist der Grund?«
Ich stieß die Luft aus. Zwei Eichhörnchen jagten einander den Baum in Leons Vorgarten hoch. »Jackie ist im Gefängnis. Jetzt im Moment ist er da und wartet darauf, daß Maven mit den Formalitäten durch ist. Dann werden die Haftgründe offiziell genannt, und die Kaution wird festgesetzt. Und wenn das nicht alles bloß ein Albtraum ist, kommt es zum Prozeß. Was auch immer auf diesem Band drauf ist, wird dann gezeigt. Und ich werde im Gerichtssaal sein und es mir so wie jeder andere angucken …«
Ich ließ das so stehen. Nach einer kurzen Pause räusperte sich Leon und sagte: »Und?«
»Und nichts. Nichts von alledem wird passieren. Zum einen willst du gar nicht, daß es passiert. Weil du weißt, daß es nicht stimmt. Zur Hölle mit Vargas und Maven und wem auch immer. Du weißt, daß sie das nicht getan haben können.«
»Darüber habe nicht ich zu befinden.«
»Doch, hast du. Du kannst dich entscheiden. Du hast das Band. Du wirst es mir jetzt auf der Stelle zeigen. Nicht, weil ich zuschlage, wenn du es nicht tust. Nicht, weil du mein Freund bist oder weil du früher mal mein Partner gewesen bist. Das spielt alles keine Rolle. Du wirst mir das Band zeigen, weil es so richtig ist. Ich kann diesen Männern nicht helfen, wenn du nicht zuerst einmal mir hilfst, Leon. Du brauchst keine Kopie für mich zu machen. Du brauchst auch keinem davon zu erzählen. Du zeigst mir nur einmal das Band, und schon bin ich weg.«
»Bei dir klingt das alles so einfach«, sagte er. »So ist es richtig. Als ob das alles wäre. Auf meine Verantwortung gegenüber meinem Klienten, der mich bezahlt, kommt es nicht an. Auch nicht auf den Eid, den ich unterschreiben mußte, stets mit der Polizei und den Gerichten zusammenzuarbeiten. Auf all das kommt es nicht an, wie?«
»Jetzt in dieser Sekunde kommt es nicht darauf an«, sagte ich. »Und das weißt du.«
Darüber dachte er eine Weile nach. »Alex, geh mir aus dem Weg«, sagte er schließlich.
»Ich gehe nicht weg.«
»Geh von der Tür weg«, sagte er. »Wie soll ich denn sonst aussteigen?«
Ich ließ ihn aus dem Wagen und folgte ihm dann ins Haus. Seine Aktentasche hatte er dabei.
»Wo sind Eleanor und die Kinder?« fragte ich.
»Sie sind auf einer Geburtstagsfeier. Ich wäre auch hingegangen, aber im Moment ist alles etwas verrückt.«
»Dann sprich mit mir drüber. Sie macht sich Sorgen um dich, das weißt du.«
»Ich weiß.«
Er führte mich ins Wohnzimmer, wo sein Fernseher inmitten einer Schrankwand prangte, einer von diesen riesigen Dingern mit einer Verkleidung aus imitiertem Furnier. Ein Videorecorder stand auf dem Apparat, ein zweiter auf dem Boden.
»Ich habe gerade noch eine zweite Kopie gezogen«, sagte er. »Ich war auf dem Wege zu Vargas, um sie ihm zu bringen. Das Original hatte ich ihm schon gegeben – das war übrigens ein VHS-Kompaktband – etwa so groß.« Er zeigte mir mit Daumen und Zeigefinger ein Format von unter zehn Zentimetern. »Hast du mal eins gesehen?«
»Nein.«
»Man braucht eine Adapter-Box, um es auf einem normalen VHS-Gerät abspielen zu können. Vargas hat versucht, selbst eine Kopie zu machen, aber er ist damit nicht zu Rande gekommen. Weißt du, du mußt es auf einem Recorder abspielen und es dabei auf den anderen über …«
»Schon gut«, unterbrach ich ihn. »Das kannst du dir schenken. Wenn ich jemals so was machen muß, ruf ich dich an.«
»Nun gut, das hier ist wirklich eine Kopie vom Original«, sagte er und hielt ein normales VHS-Band in die Höhe. »Für ihn mußte ich dann eine Kopie von der Kopie machen. Ich weiß nicht, wie gut die Qualität sein wird. Vermutlich sollte ich ihm die bessere Kopie geben. Jedenfalls, das hier ist es …«
Er schaltete den Fernsehapparat ein, schob das Band in einen der Videorecorder und drückte den Abspielknopf.
Nach einigen Sekunden Schneegestöber erschien ein Bild auf dem Schirm. Es sprang auf und ab und es war schwierig, es im Blick zu behalten. Auch schwankte es ständig von einer Seite auf die andere, so stark, daß man seekrank wurde, wenn man zu lange hinsah. Eine Art Korridor war zu sehen. Es gab viele Türen.
»Ist das ein Hotel?«
»Ja, das mit all den Bewegungen tut mir leid. Ich bin bei der Aufnahme gegangen. Ich gehe durch diesen Teil im Schnelllauf …«
»Nein«, sagte ich. »Laß mich ruhig alles sehen.«
»Dafür gibt es keinen Grund«, sagte er. »Laß es mich nur schnell …«
»Ich will das ganze Ding sehen, Leon. Laß einfach laufen.«
Er rieb sich die Stirn. »Oh Gott. Na gut.«
»Was passiert jetzt?«
»Das ist im Best Western. Draußen an der Ringstraße. Ich bin Vargas’ Frau dorthin gefolgt. Swansons Wagen stand schon auf dem Parkplatz. Den habe ich in letzter Zeit so oft gesehen, daß ich ihn mit Sicherheit erkenne.«
Ein Gesicht erschien auf dem Bildschirm und füllte ihn bis zum letzten Zentimeter aus. Auf Anhieb konnte ich Leon nicht erkennen – vielleicht, weil ich ihn noch nie mit schwarzen Lokken und einem langen Schnauzbart gesehen habe.
»Mein Gott, Leon, was hast du denn an?«
»Ich habe mich verkleidet.«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, setzte auf dem Band Leons hastiges Geflüster ein. »Hier spricht Leon Prudell aus dem Best Western Hotel in Sault Ste. Marie, Michigan. Ich habe Mrs. Cynthia Vargas observiert, wie sie an der Rezeption eingecheckt hat und dann auf Zimmer eins-siebzehn gegangen ist.« Die Kamera schwenkte zurück in die Eingangshalle, dann liefen die Türen vorbei, während Leon sich zum fraglichen Raum begab.
»Was machst du da? Eine Reportage fürs Fernsehen?«
»Ich halte nur Ort und Zeit fest. Das ist wichtig, sollte das je vor Gericht verwandt werden.«
»Du gehst da wirklich mit einer Videokamera den Flur entlang?«
»Nein, natürlich nicht so. Sie ist in meiner Armbanduhr versteckt.«
»In deiner Armbanduhr? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Durch den Ärmel läuft ein Draht. Er ist mit einem Aufzeichnungsgerät in meinem Jackett verborgen.«
»Ich kann das alles nicht glauben. Wofür braucht er ein Video? Wenn du sie doch schon dabei erwischt hast, wie sie sich heimlich mit Swanson trifft …«
»Mr. Vargas ist sicher, daß seine Frau bald die Scheidung einreicht. Zweifellos mit Swanson als ihrem Anwalt.«
»Du hast mir selbst einmal erzählt, daß in Michigan ganz rigide die Zugewinngemeinschaft gilt. Daß da wer seinen Ehemann nach Strich und Faden betrogen hat, spielt keine Rolle, wenn das Gericht das Vermögen aufteilt.«
»Das habe ich Mr. Vargas auch gesagt. Es schien ihm aber nichts auszumachen. Ich glaube, er will das Band aus anderen Gründen.«
»Welche wären das?«
»Zum Beispiel, den beiden das Scheidungsverfahren unsäglich peinlich zu machen.«
Auf dem Fernsehschirm schwenkte die Kamera wieder auf Leons Gesicht. »Ich stehe hier vor Zimmer eins-siebzehn. Ich unternehme den Versuch, die Anwesenheit sowohl von Douglas Swanson als auch von Cynthia Vargas in diesem Zimmer zu dokumentieren.«
»Was trägst du da jetzt?«
Er räusperte sich. »Ich bin als Zimmerkellner angezogen. Ich bringe ihnen eine Flasche Champagner vom Haus.«
»Ach du guter Gott …«
»Jetzt geht’s los«, sagte er und deutete auf den Schirm. »Von hier ab geraten die Dinge ziemlich außer Kontrolle.«
Die Hotelzimmertür öffnete sich. Rechtskonsultant Swanson erschien in einem weißen Bademantel. Er wirkte nicht gerade glücklich ob der Unterbrechung. »Was gibt’s?«
»Champagner, Sir. Mit den Grüßen des Hauses.« Die Stimmen klangen weit entfernt.
»Wir haben keinen Champagner bestellt.«
»Mit unseren Grüßen, Sir. Er kommt vom Haus.«
»Wieso das? Warum kriegen wir Gratis-Champagner?«
Im Hintergrund war eine Stimme zu hören. Sie war kaum zu verstehen, klang aber weiblich, und allein schon vom Kontext her nahm man an, sie erkundige sich, wer da an der Tür sei.
»Ein Kerl mit Champagner!« Swanson wandte sich dem Inneren des Zimmers zu. Dabei öffnete er die Tür ein wenig weiter. Im Hintergrund schimmerte etwas Weißes, ein weiterer Bademantel. Dann schob sich etwas vor das Bild, es füllte den ganzen Schirm. Man hörte das Geräusch von einer Art Aufprall, dann brüllte jemand. Die Kamera schwenkte wie wild hin und her, um sich dann auf die Decke zu fokussieren. Nach wenigen Sekunden wurde der Schirm schwarz.
»Was ist passiert«, fragte ich.
»Ich habe versucht, ein klares Bild von Mrs. Vargas aufzunehmen. Ich wollte die Kamera in meiner Armbanduhr dafür in Position bringen, und dabei muß ich Swanson mit dem Tablett direkt auf den Kopf geschlagen haben.«
»Leon, an jedem anderen Tag wäre das das komischste Video, das ich jemals gesehen habe.«
»Na, da freue ich mich aber, daß es wenigstens Unterhaltungswert hat. Unglücklicherweise ist mir nämlich keine klare Aufnahme von Mrs. Vargas gelungen. So läßt das Ganze mich lediglich als Idioten dastehen.«
»Und was passiert jetzt?«
Nach einigen weiteren Sekunden Dunkelheit erschien ein anderes Bild auf dem Schirm. Es war Nacht, aber mit all den Lampen, die da brannten, gab es keinen Zweifel, wessen Haus wir da sahen. Leon drückte auf den Pausenknopf und hielt das Bild an.
»Laß mich dir erzählen, was da vor sich geht«, sagte er. »Bevor du es dir ansiehst.«
»Das ist Vargas’ Haus«, sagte ich. »Das ist die Nacht, in der …«
»Ja. Es ist immer noch dieselbe Nacht. Nach meinem kleinen Unfall dachte ich, ich schließ mich mit Mr. Vargas kurz und frage ihn, was ich als nächstes tun soll. Ich habe ihn wieder per Handy angerufen. Es hat ein paar mal geklingelt, aber dann blieb das Signal weg. Ich wußte, daß er es kaum erwarten konnte, zu hören, was ich rausgefunden hatte, also versuchte ich es noch mal. Aber ich kam nicht durch. Die Batterie von meinem Handy war so gut wie leer – das verdammte Ding läßt sich nie richtig laden –, also denke ich, ich rufe ihn von ’nem Münzfernsprecher aus an, will aber dafür nicht ins Hotel zurückgehen. Jedenfalls überlege ich mir, wo das nächste Telefon sein mochte. Dann dachte ich, Teufel auch, ich bin doch bloß zehn Minuten von seinem Haus entfernt.«
»Also bist du hingefahren.«
»Ich habe in der Einfahrt geparkt. Direkt hinter dem Ford Explorer, den du da siehst.«
»Das ist der von O’Dell. Da drin hat er mich gestern noch mitgenommen.«
»Das ist O’Dells Fahrzeug, stimmt. Jedenfalls, noch bevor ich an der Haustür bin, hörte ich ein lautes Geräusch, wie ein Fenster, das zu Bruch geht. Statt zu klopfen gehe ich auf die Seite des Hauses. Ich sehe, wie ein Teleskop aus einem der hinteren Fenster fliegt.«
»Dann bist du da gewesen, als alles vonstatten ging. Hast du die Polizei gerufen?«
»Nun, in dem Moment hatte ich mein Handy nicht dabei, falls es das überhaupt noch tat. Als erstes habe ich mich zur hinteren Veranda geschlichen und versucht, nach drinnen zu sehen. Ich sah, wie ein Mann direkt ans Fenster kam. Es sah aus, als hätte er eine Chirurgenmaske an. Und er hatte eine Pistole.«
»Ja. Die beiden Männer, die unten geblieben sind – als sie warten mußten, ist einer zum hinteren Fenster gegangen und hat rausgeguckt.«
»Ich habe mich sofort geduckt, damit er mich nicht sieht. Dann bin ich zum Wagen zurück. Als erstes bin ich rückwärts aus der Einfahrt raus und ein kurzes Stück die Straße runter. Ich schaltete das Licht aus. Und habe wieder das Handy probiert. Es tat es nicht, Alex, es tat es einfach nicht. Kennst du diese kleine blöde Verbindungsschnur, die in den Zigarettenanzünder paßt? Womit du Batterien aufladen kannst?«
»Ja, ich habe so eine.«
»Ich habe eine Zweitausend-Dollar-Mini-Video-Kamera in meiner Armbanduhr versteckt, aber ich habe nicht das Kabel, um die Telefonbatterien aufzuladen.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Ich wußte, daß ich dringend an ein Telefon kommen mußte. Aber ich hatte folgende Idee. Ich habe meine Armbanduhr ausgezogen und sie auf das Armaturenbrett gelegt, genau in Richtung Haus. Da stand noch ein Haus die Straße runter – ich dachte mir, ich steige aus und laufe dahin …«
»Und deine kleine Wunderuhr nimmt derweil alles auf, was in Vargas’ Haus passiert. Zumindest von außen.«
»Genau. Also ziehe ich die Uhr aus, lege sie aufs Brett, richte sie exakt aus … Und da kommen sie schon raus. Gerade als ich mich anschicke, die Tür aufzumachen.«
»Die drei Männer?«
»Die drei Männer, ja. Also habe ich eine Entscheidung zu treffen. Warte ich, bis sie weg sind, und rufe dann die Polizei an? Oder soll ich ihnen folgen?«
»Oh, Leon, du wirst doch nicht im Ernst …«
»Im Grunde ein Kinderspiel in dem Moment. Ich wußte, daß ihr die Polizei alarmieren würdet, sobald sie weg waren. Da dachte ich mir, das Beste, was ich im Interesse aller tun konnte, war, hinter ihnen herzufahren.«
»Okay, dann muß das wohl das Fluchtauto sein, stimmt’s?« Ich wies auf den Wagen links in der Einfahrt, direkt hinter Jakkies Lincoln.
»Nein, ich glaube, das ist Gill LaMarches Wagen.«
»Stimmt, das macht Sinn. Er ist nach uns gekommen. Aber wenn das nicht ihr Wagen ist, wo ist er dann?«
Er drückte wieder auf den Pausenknopf und ließ die Bilder laufen. Mir wurde regelrecht schwindlig bei dem, was ich jetzt zu sehen bekam.
Bei einer Entfernung von dreißig bis vierzig Metern und Lichtverhältnissen, die alles andere als ideal waren, war es schwer zu erkennen, was da vor sich ging. Aber auch wieder nicht so schwer, daß man keinen allgemeinen Eindruck bekommen hätte. Drei Mann verließen das Haus – vielleicht trugen sie die Masken noch, vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle, weil man ihre Gesichter ohnehin nicht sah. Alle drei stiegen in den Ford Explorer, die Scheinwerfer wurden angeschaltet, der Wagen setzte rückwärts aus der Einfahrt und fuhr los, die Straße runter.
»Das ist O’Dells Wagen«, sagte ich. »Was machen die denn jetzt?«
»Sie fahren weg, Alex. Natürlich habe ich damals nicht gewußt, daß es O’Dells Wagen war. Ich war nur froh, daß ich nicht mehr mit meinem Wagen hinter ihnen parkte.«
»Das ergibt doch alles keinen Sinn. Haben sie ihn gestohlen?«
»Hat er vielleicht erwähnt, daß sein Wagen gestohlen worden ist?«
»Nein, hat er nicht. Und wie ich schon sagte, gestern hatte er ihn, als er mich zur Marina gefahren hat.«
Auf dem Videoband erschien Leons Wagen jetzt in Bewegung. O’Dells Explorer war etwa hundert Meter vor ihm. Man sah den Lichtkegel der Scheinwerfer, die rotglühenden Rücklichter, das beleuchtete hintere Nummernschild.
»Moment mal«, sagte ich und starrte auf den Schirm. »Wer sagt denn, daß das überhaupt O’Dells Wagen ist? Weißt du was? Jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ich mich nicht einmal daran erinnern, seinen Wagen in der Einfahrt gesehen zu haben, als wir ankamen.« Ich dachte darüber nach. Ich versetzte mich zurück in Jackies Auto, als wir in die Einfahrt abbogen und ich mich fragte, warum ich ins Haus dieses Fremden ging, um zu pokern. Ich öffne die Beifahrertür und steige aus …
»Nein, ich bin mir fast sicher«, sagte ich. »O’Dell war schon da, als wir kamen. Aber ich glaube nicht, daß sein Wagen da stand. Das ist überhaupt nicht sein Wagen, den die da fahren, Leon.«
»Sieh es dir an.«
Das Bild auf dem Schirm sprang von Lichtraum zu Lichtraum. Immer wenn der Wagen unter einer Straßenlaterne durchfuhr, wurde deutlich, daß Leon immer denselben Wagen verfolgte und das verdammt gut machte.
»Wohin fahren sie?« fragte ich.
»Das wirst du sehen. Und zwar bald.«
Ich sah zu ihm hinüber. Er saß ganz still da und betrachtete mit ausdruckslosem Gesicht das Band.
»Da wären wir«, sagte er schließlich, als die Bremslichter des Explorers rot aufglühten. Das Fahrzeug fuhr auf einen Parkplatz.
»Wo ist das?«
»Sieh genau hin. Erkennst du es nicht?«
Ich sah hin. Es war ein zweistöckiges Gebäude. In den Fenstern leuchteten Bierreklamen. »Das ist O’Dells Kneipe«, stellte ich fest.
»Genau. Und hier hatte ich eine weitere Entscheidung zu treffen. Sieh dir an, was passiert.«
Die Türen auf der Beifahrerseite öffneten sich, und zwei Männer stiegen aus. Ihre Gesichter konnte ich noch immer nicht erkennen, obwohl es so aussah, als hätten sie die Masken abgelegt. Die beiden Männer stiegen in einen Wagen, der unmittelbar neben dem Explorer geparkt war. Bevor sie noch den Motor anlassen konnten, leuchteten die weißen Rückscheinwerfer des Explorer auf, und er setzte zurück.
»Unsere Männer trennen sich hier«, sagte Leon. »Wem soll ich jetzt folgen?«
»Dem Explorer.«
»Das habe ich auch gedacht. Er ist immer noch das Tatfahrzeug. Allerdings habe ich mir sicherheitshalber die Nummer von dem anderen Wagen auch gemerkt.«
»Und die hast du auch der Polizei gegeben?«
»Ja. Es war übrigens eine Nummer aus Ontario.«
»Ich habe gleich gedacht, einer der Männer könnte Kanadier sein. Das überrascht mich also nicht. Ist der Eigentümer schon ermittelt?«
»Mit Sicherheit. Warum fragst du nicht Maven?«
»Das mache ich. Wenn wir das nächste Mal zusammen einen saufen gehen, komme ich darauf zu sprechen.«
»Wie dem auch sei, an dieser Stelle verlieren wir die beiden Männer. Vermutlich sind sie danach schlicht über die Brücke gefahren. Ich setze die Verfolgung des ursprünglichen Fahrers fort. Und ab hier betätige ich auch den Vorlauf. Das Band zeigt einfach nur, wie ich ihn weiter verfolge.« Er drückte den Knopf, und alles begann vorbeizufliegen.
»Du hast jede Sekunde der Verfolgung aufgenommen?«
»Ich wollte keine Unterbrechungen auf dem Band. So ist es beweiskräftiger, wenn es soweit ist.«
Ich sah ihn an. Ich hatte mich so in die Betrachtung des Bandes vertieft, daß ich fast vergessen hatte, worum es ging. Bei dem Wort ›beweiskräftig‹ war alles wieder da.
»Okay, hier sind wir bei Stop Nummer zwei«, sagte er. »Kannst du erkennen, wo wir sind?«
Ein großes Gebäude kam ins Bild, mit ganz vielen Lichtern und den charakteristischen dreieckigen Logos an der Fassade. »Das Kewadin Casino.«
»Ja. Wir werden zu einem Privathaus fahren, bloß zwei Blocks weiter.«
Man sah eine Straße mit Häusern, und der Explorer fuhr in eine Einfahrt.
»Ich fahre einige Häuser weiter, so als wollte ich auf der Straße parken. Wie du sehen kannst, steigt der Fahrer aus, um irgend etwas zu erledigen, aber es dauert nicht lange.«
Es war alles so, wie Leon gesagt hatte. Die Tür ging auf, der Fahrer stieg aus, begab sich zu einer Seite des Hauses, kam dann zum Wagen zurück und setzte aus der Einfahrt heraus.
»Du hast nie sein Gesicht sehen können?« fragte ich.
»Kein einziges Mal.«
»Ich brauche wohl nicht zu fragen, wessen Haus das gerade war.«
»Gill LaMarche.«
»Ich habe da so ein unangenehmes Gefühl, was als nächstes kommt.«
»Ich lasse es wieder vorlaufen«, sagte er. Den ganzen Weg aus der Stadt raus, das zieht sich.»
»Nun sag es schon, Leon. Der nächste Halt ist Jackies Kneipe?«
»Dorthin ist er als nächstes gefahren, ja. Willst du es sehen?«
»Ja. Mach weiter.«
Wir sahen uns die ganze Fahrt im Schnelldurchgang an, über die M-28 zur M-123, die ganze Strecke bis Paradise. Er schaltete auf normale Geschwindigkeit zurück, sobald der Explorer die Stadt erreichte.
»Wie spät war es in diesem Moment?« fragte ich.
»Vielleicht Mitternacht, vielleicht auch etwas später.«
»Also als wir noch in Vargas’ Haus waren und mit der Polizei redeten.«
Der Explorer kam auf Jackies Parkplatz zum Stehen, drüben auf der Seite, wo Jackie seinen eigenen Wagen immer parkt. Als der Fahrer ausstieg, hielt er einen Moment inne und sah sich um.
»Jetzt könnte man fast sein Gesicht sehen«, sagte ich. »Verdammt, wenn doch das Licht besser wäre.«
»Ich glaube, er hat zu dem Zeitpunkt Verdacht geschöpft«, sagte Leon. »Es ist nicht so leicht, jemanden durch ganz Chippewa County zu verfolgen.«
Der Mann verschwand für kurze Zeit aus dem Blickfeld der Kamera, vielleicht für fünfzehn Sekunden. Dann saß er schon wieder in seinem Wagen und war wieder unterwegs.
»Was hat er denn da gerade gemacht?« fragte ich.
»Sieht ganz so aus, als hätte er etwas hingelegt«, sagte Leon. »Aber das ist bloß eine Annahme. Wir wissen nicht, was da wirklich passiert ist.«
»Wenn er nur etwas deponiert hat, muß das direkt vor Jakkies Tür gewesen sein. Er hatte keine Zeit, ins Haus zu gehen.« Was Jackie aber nicht viel zu helfen schien, nicht, wenn man das, was da deponiert wurde, später unter seinem Bett gefunden hatte.
»Ich versuche jetzt vorsichtig zu sein«, sagte er, als beide Wagen Paradise verließen und sich wieder auf die einsame Strecke begaben. »Ich will mich nicht selbst verraten, deshalb bleibe ich etwas zurück.«
»Und wo begibt sich der Weihnachtsmann jetzt hin?«
»Na ja, jetzt passieren zwei Sachen. Zunächst einmal war das Band zu Ende. Diese kleinen Compact-VHS-Bänder fassen nur so viel. Deshalb sehen wir bald nicht mehr viel. Um genau zu sein, ab jetzt …«
Der Schirm wurde schwarz.
»Aber du bist ihm doch weiter gefolgt?«
»Ja, das bin ich. Aber, wie ich schon sagte, habe ich mich diesmal weiter hinten gehalten. So kamen zwei Wagen zwischen uns. Eine Zeitlang hatte ich ihn dann ganz aus den Augen verloren, und da habe ich mir gedacht, ich fahre direkt zurück zu O’Dells Haus. Als ich da ankam, stand der Explorer auf dem Parkplatz. Aber vom Fahrer war nichts zu sehen.«
»Hatten sie noch auf?«
»Ja, ich glaube, es war gegen halb zwei.«
»Bist du reingegangen und hast dich umgesehen?«
»Doch, das habe ich gemacht. Es waren vielleicht noch, ich weiß nicht, zehn oder zwölf Gäste drin. Aber ich hatte ja keine Vorstellung davon, nach wem ich suchte.«
»Wer war hinter der Theke? O’Dells Frau? Oder sein Sohn?«
»Sie waren beide da. Mir war klar, daß keiner von ihnen den Wagen gefahren hatte. Zum einen war der Fahrer mit Sicherheit ein Mann. Und dann – O’Dells Sohn ist doch so um die zwei Meter, oder?«
»So ungefähr.«
»Er war es nicht.«
»Und wann hast du dieses Band dann Vargas ausgehändigt? Vor zwei Tagen?«
»Ja. Ich habe dir doch erklärt …«
»Ist schon in Ordnung, Leon. Du mußt deine Rede nicht noch mal halten. Ich verstehe, daß du das getan hast, was du für deine Pflicht gehalten hast. Du hast Vargas das Band gegeben, und soviel ich weiß, hat er dir dann ein paar Fragen über mich gestellt.«
»Du standst auf der Liste, Alex. Du bist in dieser Nacht da gewesen.«
»Er glaubt, daß ich dabei mitgemacht habe. Er hält mich für den Mann, den sie eigens eingeschleust haben. Wußtest du das?«
»Das ist mir neu. Da werde ich ihn von abbringen müssen.«
»Wenn du ihn schon davon abbringst, warum bringst du ihn nicht gleich dazu, daß das Ganze bewußt so arrangiert worden ist? Ich werde mit Bennett über seinen Wagen sprechen müssen, aber ich bin sicher, daß da was nicht zusammenpaßt. Und was Jackie und Gill angeht, könnte der Typ ihnen doch bewußt belastendes Material untergejubelt haben. Selbst wenn Jackie es dann ins Haus reingebracht hat, was heißt das denn? Ein guten Glaubens begangener Fehler. Ich weiß immer noch nicht, was sie überhaupt gefunden haben. Das ist das erste, was ich ihn frage, wenn ich ihn sehe.«
»Und wer würde ihnen so was unterjubeln wollen?«
»Einfach aus der Hüfte geschossen – wie wäre es mit Swanson? Er wußte über den Safe Bescheid, er wußte, Vargas würde die ganze Nacht dort sein – zum Teufel, wo er schon seine Frau im Hotelzimmer hatte, warum dann nicht gleich den Abend zu einer runden Sache machen? Und weil er kein kompletter Idiot ist, stellt er es so an, daß es aussieht, als steckten Bennett, Jackie und Gill dahinter.«
»Mir kommt das ein bißchen weit hergeholt vor.«
»Weniger weit hergeholt, als daß es diese drei wirklich gewesen sind. Was hältst du davon, daß wir zu Swanson gehen und schauen, wie er reagiert, wenn wir ihm das auf den Kopf zusagen? Wenn er den Test besteht, versuchen wir’s bei Kenny.«
»Und wieso sollten ›wir‹ irgendwas machen, Alex?«
»Ich dachte, du wolltest wieder mein Partner sein und mir helfen, rauszufinden, was wirklich passiert ist.«
»Du meinst, dir helfen, das Durcheinander zu ordnen, in das ich deine Freunde verstrickt habe?«
Ich sah ihn an. »Es geht hier nicht um dich. Es geht um Vargas. Und darum, daß die Polizei die falschen Leute in ihrem Knast hat.«
»Vargas ist noch immer mein Klient.«
»Dein Klient ist sowieso vermutlich schon stinksauer, weil die Polizei mich nicht auch eingebuchtet hat. Ich schlage zurück, Leon. Auf wessen Seite stehst du?«
»Ich will der Sache ebenfalls auf den Grund gehen. Ich bin auf niemandes Seite.«
»Das heißt, ich bin auf mich gestellt.«
»Nun hör mal, ich habe dir das Band gezeigt.«
»Tu noch eines mehr. Schreib alle Informationen auf, die du über Swanson und Kenny hast, machst du das? Mein Gott, wie heißt Kenny überhaupt mit Nachnamen?«
»Heiden.«
»Du hast doch bestimmt ihre Telefonnummern. Schließlich stehen sie auch auf der Hauptliste der Verdächtigen. Direkt unter McKnight.«
»Wenn du wirklich mit ihnen reden willst, kann ich dich nicht hindern.«
»Und wenn du heute deinen Klienten siehst, richte ihm was von mir aus, ja?«
»Und was bitte?«
»Sag ihm, daß der, der ihn wirklich ausgeräubert hat, sich über uns alle kaputtlacht.«
