Kapitel 14
Das War Memorial Hospital liegt mitten im Geschäftsbezirk des Soo, ein paar Blocks südlich vom Fluß, ein paar Blocks westlich von Leons Büro. Ich war einige Minuten vor eins da und ging in den Warteraum der Ambulanz. Maven saß dort und las in einem Magazin. Die Stühle neben ihm waren leer. Er lächelte nicht einmal, als er mich sah.
»Warum zum Teufel haben Sie so lange gebraucht?« sagte er beim Aufstehen. Das Magazin warf er auf den Stapel zurück.
»Ich bin schon über hundert gefahren. Ich habe nicht wie Sie eine Sirene, die ich anschmeißen kann.«
»Gehen wir.« Ich folgte ihm zum Aufzug.
»Haben Sie die ganze Zeit hier gewartet?«
»Natürlich nicht. Meinen Sie, ich hätte die Zeit, zwei Stunden in einem Wartezimmer zu sitzen? Ich war im Büro und bin gerade zurückgekommen.«
»Und wieso schnauzen Sie mich dann an, daß ich so lange gebraucht habe?«
»Niemand schnauzt Sie an, McKnight. Sie sind immer viel zu empfindlich.«
Ich schüttelte nur den Kopf, stieg mit ihm in den Aufzug, und wir fuhren ins Basement.
»Wann sind Sie das letzte Mal im Leichenschauhaus gewesen?« fragte er.
»Neunzehnhundertvierundachtzig.«
»In Ihrem letzten Jahr bei der Polizei?«
»Ja.«
»Lange her.«
»Ich denke nicht, daß sich viel geändert hat.«
Der Aufzug hielt. Die Tür ging auf. Maven führte mich einen langen Korridor entlang. Als er die Tür zum Leichenraum öffnete, roch ich die Antiseptica, spürte den kalten Hauch auf meiner Haut. Maven hatte recht – es war lange her. Aber alles kam wieder.
Der Leichenbeschauer saß an seinem Schreibtisch, als wir eintraten. Er stand auf, um mir die Hand zu geben. Es war ein kleiner rundlicher Mann, und sein weißer Arztkittel ließ ihn eher wie einen Konditor als wie einen Pathologen wirken. »Mr. McKnight«, sagte er. »Ich bin Dr. Pietrowski, der Leichenbeschauer vom Chippewa County. Wir sind Ihnen dankbar, daß Sie sich herbemüht haben.«
Ich sah zu Maven hinüber. »Aber das ist doch selbstverständlich.«
»Er ist in diesem Raum«, sagte der Pathologe und ging mit mir zur gegenüberliegenden Tür. »Sind Sie bereit, ihn zu sehen?«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Ist es Ihnen sehr unangenehm?«
»Nein, ich weiß nur nicht, ob ich ihn wirklich wiedererkennen werde.«
Er nickte. »Warten wir es ab.«
Ich folgte ihm durch die Tür, Maven kam hinter mir her. Mitten im Raum stand ein Stahltisch. Die Leiche darauf war komplett mit einem weißen Tuch bedeckt. Die Neonröhren über uns summten.
Der Pathologe zog Latexhandschuhe an, zog dann das Tuch zurück und faltete es sorgfältig über den Schultern des Toten. Das Gesicht war so weiß, daß es fast schon blau war. Die Augen standen halb offen. Der Mund stand halb offen. Ich trat einen Schritt näher.
»Ist das einer von denen?« fragte Maven.
Ich ließ den Abend noch einmal vor mir ablaufen, sah auf das leblose Gesicht vor mir und versuchte eine Art Verbindung zu ziehen.
»Richtig gesehen habe ich nur die beiden Männer, die unten bei uns geblieben sind. Einer war sehr hellhäutig, mit blonden Haaren und blonden Augenbrauen. Das war der, der sich für mich kanadisch angehört hat. Der ist es auf jeden Fall nicht. Der andere Mann war schwerer … Was hat der hier gewogen?«
Der Pathologe griff zu seinem Klappbrett. »Zweihundertundzwanzig Pfund. Da sind ein paar Liter Blut schon abgezogen.«
Ich nickte. Das klang in etwa korrekt. »Wie groß ist er?«
»Einsachtzig.«
»Er hat eine Maske getragen. Eine Chirurgenmaske und auch so eine Kappe.«
Der Pathologe ging zu seinem Arbeitstisch. »So wie diese?« fragte er und hielt eine grüne Maske und eine grüne Kappe hoch.
»Ja.«
Einen Moment lang blickte er zu Maven hinüber und trat dann hinter den Kopf des toten Mannes. Mit der Mütze bedeckte er die schwarzen Haare des Mannes und drapierte dann die Maske über seinem Mund. »Hilft Ihnen das?«
Ich sah auf den Toten hinunter. Ich holte tief Luft und versuchte mich auf den Boden in Vargas’ Haus zurückzuversetzen. Die Männer umkreisten uns. Der Hund kläffte. »Jetzt kommt er mir bekannt vor«, sagte ich. »Ich glaube, das kann der andere Mann sein, der unten gewesen ist. Hundert Prozent sicher bin ich mir allerdings nicht.«
»Im Bericht hat etwas von Schuhen gestanden«, sagte Maven hinter mir. »Würden Sie die Schuhe wiedererkennen?«
»Wenn er dieselben Schuhe getragen hat, denke ich schon.«
Der Pathologe ging wieder zu seinem Arbeitstisch, öffnete eine schwarze Plastiktür und holte ein Paar alter Turnschuhe heraus. Er brachte sie zu mir herüber. »Sehen Sie sie sich gut an, aber berühren Sie sie bitte nicht.«
Es waren alte, abgetragene Schuhe, einst weiß, jetzt schmutziggrau. Zwei blaue Streifen verliefen auf beiden Seiten diagonal. »Sie sehen wie die Schuhe aus, die er anhatte.«
Der Leichenbeschauer ging zurück, um die Schuhe wieder wegzulegen. Ich sah auf den toten Mann herunter, der immer noch die Kappe und die Maske trug. »Was ist passiert?«
»Er wurde in den Rücken geschossen«, sagte der Pathologe. »Zwei Kugeln aus einer Fünfundvierziger. Die eine ging durch den Oberbauch, die andere blieb am Brustbein stecken.«
»Wie lange ist er schon tot?«
»Etwa vier Tage.«
»Vier Tage. Das wäre …« Ich dachte darüber nach. »Das wäre dann die Nacht des Raubüberfalls gewesen, nachdem sie weggefahren sind. Wo hat man ihn gefunden?«
Der Pathologe sah mich nur an, während er die Handschuhe abstreifte. »Danach müssen Sie den Chief fragen.«
»Gehn wir«, sagte Maven. »Hier sind wir fertig.«
»Ich habe meinen Teil erledigt«, sagte ich. »Sagen Sie mir, was passiert ist.«
»Ich gehe jetzt nach oben«, sagte Maven. »Sie können gerne hierbleiben.«
Der Leichenbeschauer zuckte nur mit den Schultern, als ich ihn ansah. Ich ging hinter Maven her durch das Büro, den Korridor entlang zum Aufzug. Nebeneinander warteten wir auf ihn.
»Wo haben Sie ihn gefunden?« fragte ich.
»Direkt in seinem Blut.«
»Wie heißt er?«
»Das brauchen Sie nicht zu wissen.«
»Das ist eine allgemein zugängliche Information. Morgen steht sie in der Zeitung.«
»Nicht unbedingt. Wir könnten sie noch ein paar Tage zurückhalten.«
»Und wieso ist das so ein tolles Geheimnis?«
»Wenn ich Mr. Connery hierher bestellte oder Mr. O’Dell oder Mr. LaMarche, glauben Sie, einer von ihnen würde ihn erkennen?«
»Das bezweifele ich. Ich glaube nicht, daß einer von den anderen ihn deutlich sehen konnte.«
»Unter der Voraussetzung, daß sie nicht ohnehin wußten, wer er war.«
»Ja, unter der Voraussetzung.«
»Wenn sein Name Danny Cox wäre, würde Ihnen das irgendwas sagen?«
»Ist das sein Name?«
»Ich frage nur, wenn er es wäre …«
»Ich habe diesen Namen noch nie zuvor gehört.«
»Ist das Ihre Antwort? Einfach nur so? Sie haben ja nicht mal ’ne Minute gebraucht, um drüber nachzudenken.«
»Da muß ich nicht drüber nachdenken. Ich kenne den Namen nicht.«
»Fast jeder würde sagen ›Hmm … lassen Sie mich nachdenken. Danny Cox … Danny Cox … Nee, von dem habe ich noch nie was gehört.‹«
»Ich denke gerne noch drüber nach, wenn Sie das fröhlicher macht.«
»Vergessen Sie’s.« Er sah auf die Ziffern über dem Aufzug. »Was haben Sie da unten im Süden gemacht?« sagte er dann, ohne mich anzusehen.
»Ich hatte eine Verabredung.«
»Und ich will das vermutlich nicht mal wissen, wie?«
Der Aufzug tat sich auf. Wir stiegen ein.
»Ich weiß, daß zwei der Räuber in einem Wagen mit kanadischem Nummernschild weggefahren sind. Haben Sie das schon überprüft? Ich glaube nicht, daß amerikanische Privatdetektive diese Information aus Kanada einfach übers Telefon bekommen können.«
»Zunächst mal, woher wissen Sie etwas über ein kanadisches Nummernschild? Und zweitens sind Sie kein Privatdetektiv mehr, oder haben Sie das vergessen?«
»Ich bin noch mal aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Sie brauchen offensichtlich ein wenig Hilfe, Chief. Ihre persönlichen Vorurteile sind Ihnen bei diesem Fall im Wege. Sie sollten nach derjenigen Person suchen, die wirklich hinter alldem steckt.«
»Lassen Sie mich mal raten … Ihre Verabredung heute morgen …«
»Kendrick Heiden«, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß er etwas mit der Sache zu tun hat, falls Sie meine Meinung hören wollen.«
»Sie wissen, wie sehr ich Ihre Meinung zu schätzen weiß, McKnight. Wer steht als nächster auf Ihrer Liste?«
»Douglas Swanson.«
»Er war an diesem Abend nicht zugegen.«
»Ja, das weiß ich.«
Maven rieb sich die Augen. »Ich kriege Kopfschmerzen.«
»Sagen Sie mir, wem der Wagen gehört. Ich finde das sowieso heraus.«
»Dann machen Sie mal. Beißen Sie sich die Zähne aus.«
»Wenn es eine echte Spur wäre, würden Sie das nicht sagen. Es hat sich wohl um einen gestohlenen Wagen gehandelt. Zumindest um ein gestohlenes Nummernschild. Richtig?«
Die Tür ging auf; wir waren im Erdgeschoß. Maven ging hinaus und rasch zur Eingangstür. Im Sonnenlicht fühlte ich mich Millionen Meilen weit entfernt vom kalten Licht des Leichenschauraums. »Ich habe viel zu erledigen«, sagte er.
»Ich auch.«
Er blieb stehen und wandte sich um, um mir ins Gesicht zu sehen. »Wissen Sie was? Glauben Sie wirklich, so Ihren Freunden zu helfen? Da will ich Ihnen mal was sagen. Der Bezirksstaatsanwalt hat seinen Vorschlag auf den Tisch gelegt. Der erste von den Typen, der auspackt, wird nicht wegen verbrecherischer Verschwörung angeklagt. Bloß Hehlerei in minder schwerem Fall, Bewährung, kein Tag im Knast. Aber jetzt haben wir ’ne Leiche dazu. Man hat ihn in den Rücken geschossen und dann im Wald liegen lassen, so daß zwei kleine Kinder ihn heute morgen gefunden haben. Und da meinen Sie, ich bin in der Stimmung, mir von Ihnen anzuhören, ich bräuchte Hilfe in diesem Fall? Und daß ausgerechnet Sie es sind, der mir hilft?«
»Maven, es ist doch alles so einfach. Sie liegen völlig schief. Sie verdächtigen die Falschen.«
»Weil Sie tief in Ihrem Herzen wissen, daß sie unschuldig sind?«
»So ungefähr.«
»Und ich bin derjenige, der die persönlichen Vorurteile hat. Denken Sie noch mal drüber nach.« Damit ging er.
