Kapitel 18
Ich war schon wütend gewesen, als ich den am Fluß sitzenden Bennett verlassen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich. Zu dem Zeitpunkt, als ich in Paradise ankam, war ich soweit, irgendwem den Kopf abzureißen. Ich hätte es besser wissen müssen und nicht am Glasgow Inn vorbeischauen sollen.
Aber ich tat es trotzdem.
»Du hast sehr wohl gewußt, wo das herkam«, sagte ich. Ich war in den Raum gestürzt und hatte mich an die Theke gesetzt.
»Auch dir einen schönen Abend«, sagte er. Er aß ein spätes Abendessen und stand neben der Kasse. »Was zum Teufel ist denn mit deinem Gesicht passiert?«
»Du warst nicht ehrlich zu mir. Du hast mich überall rumlaufen lassen, um rauszufinden, wer dir das angetan hat.«
»Wer hat dich zusammengeschlagen, Alex? War das Bennett?«
»Du hast das die ganze Zeit gewußt. Du hättest mich bremsen können.«
»Ich meine mich zu erinnern, daß ich genau das versucht habe. Es war also Bennett, stimmt’s? Ich weiß, daß er jetzt sehr alt wirkt, aber ich habe ihn zu seiner Zeit bei einigen Prügeleien gesehen, mein lieber Mann.«
»Hör auf mit dem Quatsch, Jackie. Warum hast du mir nicht gesagt, daß es Bennett gewesen ist?«
»Weil ich wußte, daß du dann in die Luft gehen würdest. Wie immer.«
»Und wieso muß ich deine ganze Familiengeschichte von ihm erfahren? Ich habe gedacht, wir sind Freunde.«
»Du hättest mich nur zu fragen brauchen, Alex. Wann hast du mir zum letzten Mal eine Frage gestellt, die meine Person betraf?«
»Fünfzehn Jahre, und du bist nie auf die Idee gekommen, mal zu erwähnen, daß dein Vater da draußen im See untergegangen ist?«
Er legte sein Sandwich auf den Teller und trug ihn in die Küche. Als er zurückkam, nahm er ein kaltes Kanadisches aus dem Kühlschrank und stellte es vor mich. »Du lebst schon lange in deiner eigenen kleinen Welt«, sagte er. »Ganze Wochen vergehen, in denen du keinen Fuß hier reinsetzt. Dann plötzlich schaust du rein und verbringst den ganzen Tag hier. Wenn du dir jemals fünf Minuten Zeit genommen und gesagt hättest: ›Hey, wovon hat dein Vater eigentlich gelebt?‹, oder ›Wann ist übrigens dein Vater gestorben?‹ Irgendwas in der Art, und ich hätte dir die ganze Geschichte erzählt. Aber nein. Wenn du den Mund aufmachst, ist es entweder, um bei mir ein Abendessen zu bestellen oder mich um ein Bier zu bitten oder um mir von deinem neuesten Problem zu berichten – was meistens darauf beruht, daß du mal wieder die Kontrolle über dich verloren und einen Tritt in den Arsch bekommen hast. Und jetzt, wo ich selbst ein Problem habe, das mir Sorgen macht, bist du der letzte Mensch auf der Welt, dessen Hilfe ich möchte. Weil du doch nur losstürzen und noch mehr Ärger machen würdest. So wie dein Gesicht aussieht, hast du genau das bereits getan.«
Ich wußte überhaupt nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es schmerzte mehr als alles, womit mich Vargas an diesem Tage getroffen haben mochte.
»Was hat Bennett dir erzählt?« fragte Jackie. »Hat er dir erzählt, warum er das getan hat?«
»Er hat gesagt, sein Sohn hätte Geld gebraucht.«
»Sein Sohn Sean.«
»Ja.«
»Das hatte ich mir gedacht. Ich wußte, daß Sean ganz schön in der Klemme steckte.«
»Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was sie dir damit angetan haben? Sie haben dich voll mit reingezogen.«
»Weißt du was, Alex? Ich denke, daß Bennett der größte verdammte Idiot auf der ganzen Welt ist. Und weißt du noch was? Deshalb liebe ich ihn. Er hat das bekloppteste Ding durchgezogen, von dem ich je gehört habe, aber er hat es aus den richtigen Gründen getan. Er hat versucht, Sean zu retten. Und diesen alten Zinnbecher, den er mir geben ließ. Verdammt noch mal, wer sonst noch würde so was Verrücktes machen?«
»Nein, es war überhaupt nicht verrückt«, sagte ich. »Denk mal drüber nach. Er wußte, du würdest drauf reinfallen, Jackie. Du hast den Becher, und jetzt gehörst du dazu. Vielleicht würdest du sogar denken, er hat es für dich getan, genau so, wie er es für seinen Sohn getan hat. Der gute alte Bennett. Was für ein Typ!«
»Du kapierst überhaupt nichts.«
»Nein, du kapierst es nicht. Und das macht dich zu einem genau so großen Idioten, wie er es ist.«
Er nahm die Flasche vom Tresen. »Ich glaube, du solltest jetzt gehen«, sagte er.
»Da hast du recht.«
Ich ging.
Als ich nach Hause kam, konnte ich nicht schlafen, also saß ich da und las, einen Eisbeutel an meinen Mund gepreßt. Ich versuchte an nichts anderes zu denken als an die Wörter auf der Seite. Es klappte nicht.
Ich gab auf und ging für eine Weile nach draußen und lauschte den Grillen und dem fernen Geräusch des Sees, bis mich die Mücken fanden.
Das Telefon klingelte, als ich wieder nach drinnen kam. Ich nahm ab und hörte eine Frauenstimme. »Alex, hier spricht Cynthia Vargas.«
»Mrs. Vargas? Ist alles in Ordnung?«
»Oh, ganz reizend. Mein Mann ist die ganze Nacht herumgehumpelt und hat jeden Namen für Sie gebraucht, den das Wörterbuch hergibt. Ich glaube, er will Sie umbringen, Alex. Ich meine wirklich umbringen.«
»Sagen Sie ihm, daß er dafür nach Paradise kommen muß. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es für mich einen Grund gibt, noch einmal Ihr Haus aufzusuchen.«
»Welch ein Jammer. Da wird das Leben hier aber ziemlich eintönig.«
»Ich bin sicher, Ihnen fällt etwas ein, es interessant zu gestalten.«
»Ich wollte nur für Sie die Augen offen halten, Alex. Deshalb müssen Sie nicht gleich zum Sprücheklopfer werden.«
»Das versuche ich doch gar nicht. Ich meine, sehen Sie, ich hatte heute einen schweren Tag …«
»Dann lasse ich Sie auch in Ruhe. Ich dachte nur, ich warne Sie besser. Wenn Sie ihn kommen sehen, seien Sie auf der Hut.«
»Das werde ich. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.«
Sie wünschte mir eine gute Nacht. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihrem Anruf eine gewissen Bedeutung bemessen können. Oder sogar dem Klang ihrer Stimme. An diesem Abend wollte ich das nicht einmal versuchen. Statt dessen versuchte ich erneut einzuschlafen, lag da auf dem Rücken und starrte die Decke an. Du lebst zu viel in deinem Kopf, hatte Jackie gesagt. Recht hatte er.
Als ich endlich Schlaf fand, fand ich ihn gründlich und tief, und er verließ mich erst wieder am späten Morgen. Das Geräusch des Windes weckte mich. Durch das Fenster sah ich einen schieferfarbenen Himmel, und die Kiefern bogen sich, richteten sich wieder auf und bogen sich stärker. Noch regnete es nicht, aber wenn es losging, würde es biblisch sein. Gott helfe jedem, der jetzt draußen auf dem See war.
Ich stand auf und trat vor den Spiegel. Mein Gesicht war so häßlich wie das Wetter, mit Abschürfungen in der linken unteren Hälfte und um beide Augen. Jede Farbe des Regenbogens – nennen Sie sie, ich hatte sie aufzuweisen.
Gut dreißig Minuten stand ich unter der heißen Dusche und wartete darauf, daß sich mein Nacken und meine Schultern entkrampften. Ich machte mir etwas Kaffee und ein kleines Frühstück und verbrachte den Rest des Tages damit, nichts zu tun. Ständig hatte ich einen Eisbeutel bei mir, den ich an den Teil meines Kopfes oder meines Körpers preßte, der gerade weh tat.
Ich aß allein zu Mittag. Ich las ein wenig. Ich trank ein Bier. Ich holte mir neues Eis aus dem Kühlschrank. Draußen hatte der Sturm aufgehört, ohne daß es geregnet hatte. Plötzlich war er weg, einfach so. Die Sonne kam heraus. Ganz plötzlich war es ein schöner Tag geworden. Ich hatte kein Verlangen, rauszugehen und ihn mir anzusehen.
Ich las noch etwas. Ich aß allein zu Abend, eine billige tiefgefrorene Mahlzeit, die ich in der Mikrowelle aufwärmte. Ich trank noch ein Bier. Die Sonne ging unter.
Niemand störte mich. Ich brauchte mich nicht um Bennett O’Dell zu kümmern und den hirnverbrannten Mist, den er sich auf den Hals geladen hatte. Ich brauchte mich nicht um Winston Vargas zu kümmern und nicht um seinen kleinen kläffenden Köter. Oder um einen kanadischen Halsabschneider von der Mafia, der allen Ernstes durch die Gegend lief und sich von den Leuten Blondie nennen ließ.
Oder Jackie. Ich brauchte mich nicht um Jackie zu kümmern, der mir erklärte, daß ich mich aus seinen Angelegenheiten raushalten sollte.
Wieder sah ich mir mein Gesicht im Spiegel an. Ich sah immer noch nicht besser aus. »Du bist schon ein toller Anblick«, sagte ich. »Es war gut, daß du heute drinnen geblieben bist.«
Dann traf es mich wie ein Schlag. Das war es, was Jackie gestern abend gesehen hatte, als er mich angeschaut hatte. Dieses Gesicht hatte er da gesehen. Er wollte, daß ich mich da raushielte. Von Anfang an hatte er mich beiseite geschoben. Und letzten Abend hatte er es mir dann mit der Schrotflinte bedeutet, nur um sicherzugehen.
Vielleicht hatte er einen guten Grund. Man mußte mich nur ansehen. Er versuchte mich zu schützen, mich aus der Sache rauszuhalten, weil er wußte, ich würde wieder einen Weg finden, mir meine Arschtritte zu holen. Wie gewöhnlich. Und ich hatte das nicht kapiert, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, wütend zu sein.
Ich ging nach draußen, gerade in dem Moment, als draußen zwei Minivans vorbeifuhren. Es waren die Männer aus der letzten Hütte, lauter Zahnärzte und Kieferorthopäden aus dem Süden des Staates. Als der Fahrer des ersten Wagens mich sah, hielt er an und kurbelte das Fenster herunter. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Ein kleines Mißverständnis.«
»Tut mir leid, daß wir jetzt erst fahren. Aber es war ein so schöner Tag, da dachten wir, wir bleiben noch hier und fahren in der Nacht nach Hause. Ihr Helfer meinte, das sei okay.«
»Mein Helfer?«
»Ja, ihm haben wir auch das Geld gegeben. Ich hoffe, das war so in Ordnung.«
»Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wen Sie meinen.«
»Dieser große blonde Typ. Er hat gesagt, er arbeitet für Sie.«
»Wann war das?«
»Etwa vor zwei Stunden. Haben wir da Mist gemacht, Alex? Er wirkte in Ordnung.«
»Nein, nein, das ist alles okay. Fahrt ihr mal schön. Ich spreche mit meinem Helfer.«
Er wirkte nicht sehr überzeugt, aber die Minivans fuhren schließlich los. Ich ging zurück in meine Hütte und wühlte in den Tiefen meines Wandschranks, bis ich den Schuhkarton fand. Ich nahm den schweren Revolver heraus und lud ihn. Dann ging ich wieder nach draußen und ging die Straße hinunter, so leise ich nur konnte. Es war gerade noch hell genug, um sehen zu können, wohin ich ging.
Die letzte Hütte liegt etwa sechshundert Meter die Straße hinunter. Als ich näher kam, hielt ich mich an die Seite der Straße; die Äste der Kiefern streiften mich. Als ich um die letzte Ecke bog, blieb ich einen Moment stehen und beobachtete die Hütte. Alles war ruhig. Das letzte Licht des Tages war jetzt nahezu verschwunden.
Du bist ein Narr, sagte ich mir. Zu denken, du kannst den ganzen Tag drinnen bleiben, völlig allein, und alles verschwindet. Es war unmittelbar hier, hier in dieser Hütte.
Ich schlich mich zur Tür, Schritt für Schritt auf dem weichen Teppich aus Kiefernnadeln. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich stieß sie auf, bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegte.
Eine kleine Lampe brannte auf dem großen Tisch mitten im Raum. Ich schaltete die anderen Lampen an, als ich durch die Hütte ging. Sie war leer, aber ich konnte den Rauch seiner Zigarre riechen.
Da auf dem Tisch in der Mitte, im Aschenbecher, ein Zigarrenstummel. Er fühlte sich noch warm an. Darunter waren einige Fetzen zerrissenen Papiers. Ich nahm einen Fetzen und sah die »100«. Es waren Hundertdollarnoten, vielleicht fünf oder sechs. Die Männer mußten ihn bar bezahlt haben. Und das hatte er mit dem Geld gemacht.
Der Rest des Hauses sah unberührt aus, aber das hier reichte schon, um mein Blut zum Kochen zu bringen, allein die Tatsache, daß er hier gewesen war.
Das war die letzte Hütte, die mein Vater gebaut hatte, bevor er gestorben war. Diese Holzbalken hatte er zugeschnitten, diese Steine hatte er mit bloßen Händen zusammengefügt, um diesen Kamin zu errichten. Das war sein Meisterstück. Mehr als alles andere in der Welt war es diese Hütte, die mich an meinen Vater erinnerte.
Wie der Zinnbecher? Was hatte Jackie zur Erinnerung an seinen Vater? Den See selber, und was noch? Zum Teufel, ich wußte nicht einmal mehr, was ich denken sollte.
Ich warf den Stummel nach draußen, ließ das zerrissene Geld im Aschenbecher liegen, schloß sorgfältig ab und ging zu meiner Hütte zurück. Es war dunkel, als ich sie erreichte. Sterne standen am Himmel. Ich ließ den Wagen an und fuhr zum Glasgow. Als ich eintrat, dachte ich, ich könnte den Zigarrenrauch wieder riechen. Vielleicht bildete ich mir das ein.
Vielleicht auch nicht.
»Jonathan«, sagte ich, »hat hier einer diese kleinen Zigarren geraucht?«
»Und ob. Ich hasse die Dinger. Sie riechen wie ein Zuckerapfel, der brennt, oder so was.«
»Wie sah er aus?«
»Mal überlegen … Ganz hellhäutiger Typ, helles Haar. Fast weiß.«
»Wann ist er hier gewesen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht vor gut zwei Stunden gegangen. Willst du mal sehen, was er mir als Trinkgeld dagelassen hat?« Jonathan packte ein Häufchen neben der Kasse. »Sieht aus wie ein in kleinste Stücke gerissener Hunderter. Ist das bekloppt oder was?«
»Wo ist Jackie?«
»Er ist nicht da.«
»Wo ist er?«
»Das soll ich dir nicht sagen.«
»Jonathan«, sagte ich. »Er könnte in größten Schwierigkeiten stecken. Wenn etwas schiefläuft, könntest du damit leben?«
Er sagte nichts.
»Er ist bei Bennett, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wo sind sie hin?«
»Das hat er mir nicht gesagt, Alex. Das schwöre ich.«
»Wann ist er los?«
»Gegen sechs, würde ich sagen. Unmittelbar nachdem Bennett ihn angerufen hat.«
»Was hat Jackie gesagt? Hat er dir gesagt, warum er ihn sehen wollte?«
»Er hat gesagt, er wolle ihm bei was helfen. Das war alles.«
Es war genug. Mit Höchstgeschwindigkeit raste ich auf die Straße und hoffte, daß es noch nicht zu spät war.
