Kapitel 21

Gegen fünf Uhr rollten wir in Vargas’ Einfahrt. Der Himmel begann sich soeben am östlichen Horizont einzufärben. Ohne Schlaf, mit dem Bild der noch brennenden Hütte im Kopf und Jackies Stimme am Telefon lief ich nur noch auf Adrenalin. Mich darum zu kümmern blieb reichlich Zeit, wenn wir erst einmal alles hinter uns hätten. Falls ich überlebte.

Ich klopfte an Vargas’ Eingangstür. Wie wir da standen und warteten, fiel mir der Abend ein, an dem Jackie und ich an genau derselben Stelle gestanden und gewartet hatten, daß uns Vargas zum Pokerspielen hineinbat. Irgendwo drinnen hörten wir das vertraute Kläffen des schärfsten Chihuahuas der Welt.

Mrs. Vargas kam an die Tür; sie trug einen Bademantel, steckte den Kopf durch den Türspalt und hinderte mit dem Fuß den Hund am Herausstürzen. »Alex«, sagte sie, »was ist los?«

»Wir müssen dringend Ihren Gatten sprechen.«

»Ihr Gesicht haben Sie aber hübsch zugerichtet, Alex. Und das muß wohl Mr. Prudell sein. Hat er Sie nicht gestern gefeuert?«

»Wo ist er?«

»Ich bin zur Stelle«, sagte Vargas und tauchte hinter ihr auf. Er trug einen purpurroten Seidenschlafanzug. Auf einem Arm trug er den Hund. »Was zum Teufel geht hier vor sich? Wieso sind Sie hier?«

Ich schob die Tür auf. »Wir wollten Sie um einen kleinen Gefallen bitten.«

»Was wollen Sie? Sie können hier nicht reinkommen.«

»Rufen Sie doch die Polizei«, sagte ich. »Sagen Sie ihr, wir träfen uns alle an Ihrem Boot. Sie sollen aber auf jeden Fall jemanden vom Zoll mitbringen.«

»Wovon reden Sie?«

»Wir haben keine Zeit für Spielchen, Vargas. Wir brauchen Ihr Boot.«

»Das ist ein guter Witz.«

»Leon, hast du das Handy klar? Ruf die Polizei an und sage ihr, sie soll zur Marina kommen.«

»Schon klar, warten Sie«, sagte Vargas. »Lassen Sie uns darüber reden. Wozu brauchen Sie mein Boot?«

»Ich gebe Ihnen die Stenoversion«, sagte ich. »Einer der Männer, die bei Ihnen eingedrungen sind, hat Jackie in seiner Gewalt. Wir sollen uns mit ihm mitten auf dem See treffen. Ein Boot haben wir, brauchen aber ein zweites. Und zwar ein schnelles. Sie geben uns Ihr Boot, wir bringen es heute noch zurück, wir vergessen alles, was wir über Ihr kleines Nebengeschäft wissen, und Sie sehen uns nie wieder. Das ist unser Angebot. Und jetzt geben Sie uns die Schlüssel.«

»Wollen Sie mir erzählen, daß einer der Männer, die in dieses Haus eingedrungen sind und eine Pistole an meinen Kopf gehalten haben, Sie draußen auf dem See treffen will?«

»Nicht der, der Sie nach oben begleitet hat«, sagte ich. »Er gehörte zu denen, die mit dem Rest von uns unten geblieben sind.«

»Alles klar. Geben Sie mir fünf Minuten, um mich anzuziehen.«

»Vargas, Sie kommen nicht mit!«

»Und ob ich mitkomme. Wenn Sie das Boot nehmen, nehmen Sie mich mit.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte ich. »Völlig ausgeschlossen.«

»Sie kriegen das Boot ohne mich nicht mal aus dem Hafen. Mr. Shadmore läßt Sie niemals raus.«

»Das ist dann wohl der Hafenmeister, oder? Doch, stimmt, das ist ein scharfer Hund.«

»Sie haben ja keinen Schimmer davon, wie man die Schleusen passiert. An wen wendet man sich? Auf welcher Welle?«

Ich sah Leon an. »Ziehen Sie sich an«, sagte ich zu Vargas. »Beeilung bitte. Und, so wahr mir Gott helfe, wenn Sie meinen, daß Sie den Hund mitnehmen …«

»Der Hund geht überall mit hin, wo ich hingehe.«

»Vargas, im Wagen habe ich eine Pistole. Wenn Sie den Hund mitnehmen, schwöre ich Ihnen, daß ich ihn abknalle.«

Irgendwie reagierte der Hund auf diese Äußerung und fing wieder an zu bellen. Vargas war noch dabei, ihn zu beruhigen, als er schon die Treppe zu seinem Zimmer hochging.

»Sie sollten dem Hund nicht drohen«, sagte Mrs. Vargas. »Er ist das einzige, was er auf der Welt liebt. Außer Geld.«

»Danke für den Tip.«

»Ach, das tue ich doch so was von gerne. Wohin wollen Sie mit dem Boot?«

»Tut mir leid, Mrs. Vargas. Wir haben keine Zeit, das zu erörtern.«

»Schon gut. Reden wir also nicht darüber. Wißt ihr was, ihr zwei seht so aus, als ob ihr dringend einen Kaffee brauchen könntet.«

»Wenn Sie einen fertig haben.«

»Nein«, sagte sie im Weggehen, »habe ich nicht.«

Wir standen weitere fünf Minuten da und warteten, bis Vargas wieder die Treppe hinunterkam, vom Kopf bis zum dicken Zeh in schwarzes Nylon gekleidet. Wenn man sich noch eine Maske dazu dachte, hätte er einen perfekten Ninja abgegeben. Mein Herz stand still, als ich die schwarze Baretta in seiner Hand sah. Ich wartete darauf, daß er damit auf mich zielte. Statt dessen überprüfte er die Sicherung, zog den Reißverschluß seiner Jacke auf und verstaute sie im Schulterhalfter. »Ich bin fertig«, sagte er.

»Ich hoffe, Sie können mit dem Ding umgehen«, sagte ich.

»Gelegentlich gehen wir mal zusammen auf den Schießstand, McKnight. Dann zeige ich es Ihnen.«

Wir fuhren in meinem Laster zur Marina. Es war richtig gemütlich, wir drei so eng zusammengepfercht auf den Vordersitzen, mit Leon in der Mitte, aber es war nur eine kurze Fahrt. Als wir angekommen waren, nahm Leon den Wagen und fuhr weiter, um einzukaufen. »Wir sollten dem lieben Gott dafür danken, daß der Super Kmart vierundzwanzig Stunden offen hat«, sagte er. »Wir sehen uns dann in O’Dells Kneipe wieder.«

So blieben Vargas und ich als Bootsbesatzung zurück. Der Hafenmeister beäugte uns mißtrauisch, als wir eincheckten. »Wo ist denn der andere?« fragte er. »Ich dachte, da waren zwei, die gewartet haben.«

»Der ist nach Hause«, sagte ich. »Er ist immer wieder eingeschlafen.«

Als wir zum Boot kamen, sprang Vargas hinein und ließ es an. Ich sprang hinter ihm her. »Was Ihr Gesicht anbelangt, habe ich ganze Arbeit verrichtet«, sagte er, während er das Boot rückwärts vom Liegeplatz lenkte. »Haben Sie Eis draufgetan?«

»Ich habe gehört, daß Sie recht merkwürdig gewatschelt sind«, erwiderte ich.

Er sagte nichts. Er schob nur das Handgas nach vorne und fuhr den Fluß hinunter zu den Schleusen.

»Dann ist die Sache wohl schief gegangen«, sagte er schließlich. »Streit in eurem kleinen Team, wie?«

»Von welchem Team sprechen Sie?«

»Sie haben gesagt, daß einer der Räuber Jackie in seiner Gewalt hat. Da hat es wohl Streit über die Aufteilung der Beute gegeben?«

»Wenn alles vorbei ist, sorge ich dafür, daß Sie alle Einzelheiten erfahren, das verspreche ich Ihnen. Für den Augenblick sage ich Ihnen nur zwei Dinge. Jackie hatte damit nichts zu tun und ich genausowenig. Das ist bei Gott die reine Wahrheit, Vargas. Ich habe keinen Grund, Sie anzulügen.«

»Okay, wenn Sie es sagen.«

Ein leichter Nebel lag über dem Fluß. Hinter uns ging allmählich die Sonne auf.

»Wie viel haben Sie denn nun wirklich genommen?« fragte ich.

»Wenn Sie dabei gewesen wären, brauchten Sie doch nicht zu fragen.«

»Klar, sag ich doch.«

Er dachte einen Moment lang nach. »Sie haben etwas über siebenhunderttausend erbeutet.«

»Ganz schön viele Kühlschränke.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Alles nur Bargeld, um Zoll und Steuern zu sparen? Oder steckt da mehr dahinter? Vielleicht ein paar Herde, die vom Lastwagen gefallen sind? Das wäre dann hundert Prozent Reinverdienst, stimmt’s? Oder transportieren Sie noch etwas anderes, wenn Sie so am Zoll vorbeifahren?«

»Sie erzählen mir nicht die ganze Geschichte, warum sollte ich das dann tun?«

»Da haben Sie recht.«

Im Nebel sah ich die Schleusen auftauchen.

»Wer ist der Mann, den Sie treffen wollen?« fragte er. »Der, der Jackie hat …«

»Man nennt ihn Blondie.«

»Den Namen habe ich schon mal gehört. Typ aus Kanada, stimmt’s?«

»Ja.«

»Linker Vogel, dieser Blondie.«

»Alles, was Sie mir über ihn erzählen können, kann uns hilfreich sein.«

»Ich bin ihm nie begegnet. Ich habe nur gelegentlich seinen Namen gehört. Von einigen der …, nun ja, der Leute, mit denen ich Geschäfte mache.«

»Denken Sie weiter nach.«

»Dieser Typ, den sie da gefunden haben, Cox, der war doch auch in meinem Haus, stimmt’s? Ich nehme an, Blondie hat ihn umgenietet?«

»Sieht ganz so aus.«

»Blondie ist in meinem Haus gewesen. Er ist mit einer Waffe in mein Haus eingedrungen.«

»Ja.«

»Ich will ihn haben, Alex.«

»Ich will ihn auch haben, das können Sie mir glauben.«

Die Schleusen kamen näher.

»Wer war der dritte Mann?« wollte er wissen.

Ich zögerte. »Jemand von außerhalb«, sagte ich. »Sie kennen ihn nicht.« Es war nur halb gelogen. Ich wollte nicht, daß Vargas jetzt schon auf die O’Dells losging. Dafür war später immer noch Zeit genug. »Wie ich schon gesagt habe, ich werde dafür sorgen, daß Sie alles erfahren, wenn wir da durch sind.«

Er griff zum Handfunkgerät und sprach mit dem Schleusenwart. Sobald wir in der Schleuse waren, ließ er den Motor im Leerlauf weiterlaufen. Wir warteten, daß das Wasser uns sieben Meter in die Höhe hob.

»Ich habe mich für verdammt schlau gehalten, daß ich das Geld da im Safe hatte«, sagte er schließlich. »Keine Steuern, keine Ex-Frau, keine zukünftige Ex-Frau. Ich hätte mir denken können, daß so etwas passieren mußte. So viel Geld kann man nicht lange verstecken. Manche Leute riechen das geradezu. Wissen Sie, was ich meine?«

»Ich habe eine Bitte«, sagte ich. »Sie erinnern sich doch an den Zinnbecher in Ihrer Sammlung? Den von der Royal Navy?«

»Klar, was ist damit?«

»Ich nehme an, die Polizei wird ihn Ihnen eines Tages zurückgeben. Sie können ihn dann in Ihren Glaskasten zurückstellen. Wenn aber irgendwer Sie fragen sollte, ob er ihn haben kann, tun Sie mir dann einen Gefallen?«

»Und der wäre?«

»Geben Sie ihm den Becher.«

Es war kurz nach sechs Uhr, als wir hinter O’Dells Lokal anlegten. Dort lag schon ein anderes Boot, eine acht Meter lange Motoryacht. Es war bei weitem nicht mit Vargas’ Boot zu vergleichen, aber ähnlich sah es ihm schon.

Bennett und Ham hielten aus verschiedenen Fenstern Ausschau, als wir ins Haus kamen. Gill saß allein in einer Ecke. Margaret war nirgends zu sehen, und Leon war offensichtlich noch mit seinem Einkauf zugange.

Bennetts Augen wurden riesengroß, als er Vargas hinter mir hereinkommen sah. »Was zum Teufel will der denn hier?«

»Er leiht uns netterweise sein Boot«, sagte ich. »Außerdem hat er eine Pistole, und ich wette, er kann damit umgehen. Wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können.«

»Der fährt nicht mit uns da raus!«

»Bennett, was auch immer Ihr Problem ist, halten Sie den Deckel drauf, ja? Wir holen uns Jackie, und dann setzt ihr zwei euch hin und sprecht euch mal so richtig aus. Ich bin sicher, Sie haben ihm ein paar interessante Sachen zu erzählen.«

Er schluckte hart, sagte aber nichts weiter.

Ich zog einen Stuhl für Vargas heran. »Setzen Sie sich doch«, sagte ich. »Außerdem sollten wir alle etwas essen. Wir werden die Energie bitter nötig haben.«

Die nächsten beiden Stunden beäugte Bennett Vargas argwöhnisch. »Wieso, verdammt noch mal, mußten Sie ihn hierher bringen?« sagte er, als er mich endlich in einer Ecke für sich allein hatte. »Und was sollte das, daß ich ihm bestimmt viel zu erzählen hätte?«

»Ich dachte, Sie wollten ihm vielleicht erzählen, was wirklich abgegangen ist. Aber einen guten Rat gebe ich Ihnen. Wenn es zwischen euch zu Gewalttätigkeiten kommt, wenden Sie besser schmutzige Tricks an.«

»Das kann ich durchaus, keine Bange.«

»Haben Sie eine Tasche, die wir benutzen können? Um das Geld reinzutun?«

»Sie meinen das, was wir als das Geld ausgeben?«

»Es sei denn, Ihr Sohn taucht noch rechtzeitig mit dem wirklichen Geld auf.«

»Alex, das haben wir doch wohl schon besprochen, ja? Was soll ich denn sonst noch sagen?«

»Dann zeigen Sie mir die Tasche.«

Er griff nach einer blauen Sporttasche. »Alles Geld, was ich in die Finger kriegen konnte, habe ich obendrauf gepackt«, sagte er und öffnete sie. »Da oben sind zweitausend Dollar. Der Rest besteht aus zerrissenen Zeitungen.«

»Das muß dann wohl ausreichen.«

»Alex, wir haben Sonntagmorgen. Die Banken haben zu. Das Geld hier stammt aus der Schublade; das ist jeder Dollar, den ich finden konnte.«

»Immer mit der Ruhe, Bennett. Das spielt alles keine Rolle. Blondie hat vermutlich vor, Sie zu erschießen, sobald Sie in Schußweite sind. Das hier ist nur der kleine Streich, den Sie ihm dann noch spielen.«

»Was zum Teufel sollen wir denn machen, Alex? Wie soll das denn funktionieren?«

»Warten Sie, bis Leon hier ist. Dann reden wir darüber.«

Leon kam gegen sieben Uhr, mit Kmart-Einkaufstüten in beiden Armen. Bis zu Blondies Anruf blieb uns noch eine Stunde. Wir benutzten sie, um alle Jagdgewehre mit schwarzem Isolierband zu umwickeln. Leon nahm einen schwarzen Griff für einen Fahrradlenker und befestigte ihn mit Klebeband an einem Flintenschaft. »Na, wie wirkt das von weitem?« sagte er und hielt das Gewehr in die Luft.

»Wie ein Sturmgewehr«, sagte Bennett.

»Ein schweres Sturmgewehr«, sagte Ham. »Eins, das dir deinen verdammten Kopf weghaut.«

»Wer auch immer auf Vargas’ Boot fährt, zieht eine von diesen Windjacken an.« Er zog die entsprechenden Exemplare aus einer anderen Tüte. Sie waren alle schwarz. »Und für jeden eine schwarze Baseballkappe. Und diese Sonnenbrillen. Alex hat gesagt, der Typ hat jeden von euch zumindest einmal gesehen. Deshalb werde ich der Vorderste sein.«

»Wie«, sagte Bennett, »Sie meinen, er soll denken, das FBI kommt uns zu Hilfe oder sonst was?«

»Genau das hatte ich mir ursprünglich gedacht«, sagte Leon. »Jetzt habe ich was Besseres, glaube ich. Oder, von Blondie aus gesehen, was Schlimmeres.«

»Was ist schlimmer als das FBI?«

Leon sah zu Vargas hinüber. Vargas saß ruhig auf seinem Stuhl, etwa einen Meter vom Tisch entfernt, und sah uns zu.

»Mr. Vargas«, sagte Leon. »Wir brauchen einen Namen.«

Er sagte nichts.

»Irgendwen in Kanada. Wir benötigen den Namen, bei dessen Klang Blondie in die Hose macht.«

Er dachte darüber nach. »Wenn wir den Namen dieses Mannes benutzen«, sagte er schließlich, »müssen Sie vergessen, daß Sie ihn jemals gehört haben. Wenn wir hiermit durch sind, muß der Name aus Ihrem Gedächtnis ausradiert sein.«

»Kapiert.«

»Dieser Name lautet Isabella.«

Eine ganze Zeit sagte niemand ein Wort.

»Ich kann mir vorstellen, warum der so eingeschüchtert sein soll«, sagte Bennett schließlich. »Das ist der gräßlichste Name, den ich je gehört habe. Jedenfalls für eine Ballerina.«

»Es ist ein Mr. Isabella.«

»Und?« sagte Bennett. »Irgendein Schlaumeier, der sich bei den Gangstern im Soo, Canada, nach oben gearbeitet hat?«

Vargas starrte ihn an. Es war derselbe Blick, den er mir gewidmet hatte, bevor er mit seiner Moo-Duk-Kwan-Show meinen ganzen Körper malträtierte.

»Blondie und Isabella«, sagte Bennett. »Nicht gerade Bugsy und Scarface, wie? Die blöden Kanucken kriegen nicht mal ihre Namen auf die Reihe.«

»Nun mal halblang«, sagte ich. »Ihr habt gehört, was er gesagt hat. Wir benutzen den Namen und vergessen ihn danach sofort wieder.«

»Ist das der Plan?« fragte Jonathan. »Das zweite Boot stößt dazu, als wollte Mr. Isabella die Fete sprengen?«

»Das ist die Idee«, sagte Leon. »Es muß nur so lange wirken, daß sie überrascht und verunsichert sind. Sie sollen den Eindruck gewinnen, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, Jackie freizugeben.«

»Und was dann?«

»Dann sehen wir, was passiert«, sagte Leon. »Und handeln entsprechend.«

Jonathan wirkte nicht glücklich. Aber er sagte weiter nichts mehr.

Zu dieser Zeit war es fast acht Uhr, fast die Zeit für Blondies Anruf. Jeder von uns saß da, hing seinen Gedanken nach und wartete auf das Läuten des Telefons. Acht Uhr kam und ging vorbei. Fünf weitere Minuten vergingen. Dann zehn.

Als das Telefon endlich schrillte, sprang jeder hoch.

»Lassen Sie mich drangehen«, sagte ich. Ich ging hinter den Tresen und hob ab.

»Guten Morgen«, sagte er. »Ist dort Alex?«

»Ja.«

»So ist’s brav. Sind Sie bereit, Ihren Freund abzuholen?«

»Lassen Sie mich mit ihm reden.«

»Tut mir leid, er kann sich im Moment nicht freimachen, Alex. Sie erinnern sich doch an die Pistole, die ich bei Ihrer kleinen Pokerpartie an Ihre Schläfe gehalten habe? Genau das passiert in diesem Moment mit Ihrem Freund.«

»Ich schwöre bei Gott, wenn ihm etwas zustößt …«

»Wenn ihm etwas zustößt, wird das Ihre Schuld sein, Alex. Es wird bedeuten, daß etwas anders gelaufen ist, als es laufen sollte. Ist das zwischen uns klar?«

»Sagen Sie uns, was wir machen sollen.«

»Das klingt schon besser. Ich will, daß Sie und Bennett uns an einer bestimmten Stelle des Sees treffen. Ich gebe Ihnen jetzt die GPS-Koordinaten durch. Sind Sie bereit?«

»Schießen Sie los.«

Er nannte mir Breite und Länge in digitaler Form. Ich schrieb sie auf und zeigte sie Bennett.

»Bennett ist am Steuer, und Sie haben das Geld. Sonst ist niemand an Bord. Wenn wir sonst wen sehen, ist Jackie tot. Wenn wir eine Waffe sehen, wenn wir eine Hand am Funkgerät sehen, wenn wir eine gottverdammte Seemöwe sehen, die uns verdächtig vorkommt, hat Jackie eins in der Schläfe. Sind wir uns auch in diesem Punkt einig?«

Bennett hielt eine Karte vom See hoch und deutete grob das entsprechende Gebiet an. Es war ein gutes Stück hinter der Whitefish Bay, Richtung Seemitte.

»Die Stelle ist fast zweihundertfünfzig Kilometer entfernt«, sagte ich. »Sie wissen doch, daß man mit einem kleinen Boot nicht so weit raus darf. Das Wetter kann hier jede Minute umschlagen.«

»Das Wetter ist das bei weitem kleinste Problem, das Sie haben. Wir treffen uns dort am Mittag.«

»Am Mittag«, bestätigte ich.

Bennett warf die Arme in die Luft.

»Wir brauchen mehr Zeit«, sagte ich. »Ich denke nicht, daß unser Boot so schnell ist.«

»Lassen Sie es mich so ausdrücken, Alex. Wir werden am Mittag dort sein. Wenn Sie dann nicht da sind, muß Jackie halt schwimmen.«

Er hatte eingehängt.

»Los«, sagte ich. »Wir haben nicht mal mehr vier Stunden.«

Wir gingen alle durch die Hintertür. Ich sagte Margaret, ich würde sie per Handy anrufen, sobald wir wieder in Reichweite wären. »Wenn Sie um vier Uhr noch nichts von uns gehört haben, verständigen Sie die Polizei.«

Bennett und ich stiegen in das von ihm geliehene Boot. Vargas steuerte das andere, das Leon, Ham, Jonathan und Gill an Bord hatte. Die Idee war, daß sie drei oder vier Meilen hinter uns zurückbleiben und erst nachkommen sollten, wenn wir den Kontakt hergestellt hätten.

»Moment mal, Sie brauchen noch das hier«, sagte Leon und setzte einen Fernsehmonitor auf den Stuhl neben Bennetts Führersitz. Er schloß ihn am Zigarettenanzünder an.

»Was ist das?« fragte Bennett.

»Meine Videokamera in der Armbanduhr«, erklärte er. »Alex zieht sie an und hält sie auf die Typen gerichtet. Dann sehen die sich selbst auf dem Schirm.«

»Das kapier ich nicht. Was soll das bewirken?«

»Warten Sie nur ab, wenn Alex ihnen erzählt, daß Mr. Isabella sie mit einer Kamera live überwacht. Das sollte ihnen Gottes heiligen Schrecken einjagen.«

Bennett sah mir zu, wie ich die Uhr anlegte. »Da ist ’ne echte Kamera drin?«

»Schon gut«, sagte ich. »Legen wir ab.«

Leon ging zurück zu dem anderen Boot, und dann fuhren wir alle den Fluß hinunter auf die Bucht zu. Bennett schob den Gashebel auf volle Pulle. Wir machten etwa fünfunddreißig Knoten. Die Sonne begann endlich, den Morgennebel zu verbrennen.

»Haben wir genug Benzin?« Ich mußte das Röhren des Motors überschreien.

»Das hoffe ich.«

Ich dachte daran, nachzufragen, wieso er sich nicht früher darum gekümmert hätte. Aber ich ließ es bleiben.

»Das ist alles meine Schuld!« schrie er.

»Das bringt jetzt auch nichts mehr.«

»Ich habe gedacht, das Geld könnte bei meinem Sohn Gutes bewirken. Als ob Geld jemals für irgendwen etwas Gutes bewirkt hätte!«

Ich nickte mit dem Kopf.

»Geld ist böse, Alex! So einfach ist das!«

»Okay, Bennett!»

»Ich hasse es!«

»Fahren Sie lieber das Boot!«

Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Ich sah hinter uns. Sogar mit der schweren Fracht hatte Vargas’ Boot kein Problem, unser Tempo mitzuhalten.

Scheiße, die Fracht, dachte ich. Ich hätte ihn das Zeug aus der Kabine schaffen lassen sollen, um die Geschwindigkeit noch zu steigern. Du mußt denken, Alex. Du mußt einen klaren Kopf behalten. Jackie braucht dich.

Wir brauchten gut zwei Stunden, um Whitefish Point hinter uns zu lassen. Die Sonne kam heraus und brannte auf unsere Rücken, als wir über die Wellen glitten. Ein Frachter glitt an uns vorbei, er fuhr in die Gegenrichtung, auf die Schleusen zu. Das Röhren des Motors, das stete Heben und Senken des Decks, die Gischt in unseren Gesichtern – alles wirkte einlullend, fast hypnotisierend. Ich blickte auf die GPS-Anzeige am Armaturenbrett. Wir näherten uns 47 Grad Nord und 85 Grad West. Die Koordinaten des Treffpunktes waren noch über eine Stunde entfernt.

Dies hier war der größte See der Welt, über dreißigtausend Quadratmeilen offenen Wassers, größer als einige Staaten zusammengenommen. Es ergab einen schrecklichen Sinn, daß Blondie uns hier draußen treffen wollte. Niemand würde uns sehen. Hier draußen gab es kein Gesetz, keine Konsequenzen, wenn man es brach. Und der See war tief genug, um einen Toten darin zu verbergen. Oder zwei Tote. Oder drei. Du wirfst sie einfach über Bord, und sie verschwinden für immer.

Als wir den 47. Breitengrad passiert hatten, begann Vargas mehr und mehr zurückzubleiben. Bald war sein Boot nur noch ein Punkt am Horizont.

»Wir sind fast da«, rief Bennett, der auf die GPS-Anzeige sah.

Ich nahm das Fernglas und sah nach vorne.

Da. Ich sah das Boot. Es war zu weit entfernt, um Details erkennen zu können, aber es war da. Zeit, alles vorzubereiten.

Ich nahm meinen Revolver heraus und legte ihn auf das Brett unterhalb der Reling. So kam ich leichter an ihn dran. Ich sah noch einmal ins Glas. Es war ein großes Boot, ungefähr genau so groß wie das von Vargas. Es sah aus, als nähme es eine Richtung, die von uns weg führte. Ich konnte einen Mann am Heck stehen sehen, und es sah so aus, als hielte er eine bedrohliche Waffe – eine Art Sturmgewehr, ohne Zweifel. Ein richtiges.

Ich knüpfte den Anker von seiner Leine los und band ihn an den Griff der Geldtasche.

»Was machen Sie da?« schrie Bennett.

»Sie werden auf uns schießen, sobald wir in Reichweite sind!« sagte ich. »Es sei denn, ich gebe ihnen einen guten Grund, es nicht zu tun.«

Wir kamen näher. Bennett drosselte den Motor auf halbe Geschwindigkeit. Der Mann am Heck beobachtete uns durch sein Fernglas. Es war Blondies Bruder. Blondie konnte ich noch nicht sehen. Oder Jackie.

»Unser Auftritt!« sagte ich. Ich rückte Leons Videouhr am linken Handgelenk zurecht und stellte sie dann an. Ein Bild erschien auf dem Monitor – erst der Himmel, dann die Bootswand. Ich griff nach der Geldtasche und dem Anker.

Meine Hände zitterten.

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