Kapitel 22
Ich hielt die Tasche über die Reling, mit dem Anker nach vorne. Sie sollten ihn sehen. Sie sollten sich über eines von vornherein im klaren sein: Wenn sie mich erschössen, würde das Geld ein Bad nehmen – ein Bad in etwa hundertfünfzig Meter Tiefe.
Ich sah, daß Blondies Bruder das Gewehr jetzt in einer Hand hielt und mir mit der anderen zuwinkte. Es sah so aus, als riefe er mir etwas zu, aber beim Dröhnen des Motors konnte ich es nicht hören.
»Drehen Sie langsam bei«, sagte ich zu Bennett, ohne mich zu ihm hinzuwenden.
»Wo ist Jackie?« sagte er. »Ich sehe Jackie nicht.«
»Er muß da sein«, sagte ich eher zu mir selbst. »Nun komm schon, Jackie. Wo zum Teufel bist du?«
Als wir näher kamen, konnte ich hören, was Blondies Bruder brüllte: »Geh zurück von der Reling! Zurück, oder ich schieße!«
»Mach nur weiter«, schrie ich zurück. »Schieß, und das Geld liegt auf dem Seeboden.«
Er sah über seine rechte Schulter. Da, im Schatten eines Sonnensegels, konnte ich zwei Männer erkennen. Als wir noch näher kamen, sah ich Jackie vor Blondie stehen. Jackie hatte silbernes Isolierband über den Mund geklebt, seine Hände waren hinter seinem Rücken.
»Bleiben Sie auf etwa sechs Meter Distanz«, sagte ich zu Bennett. »Und schieben Sie den Monitor stärker nach vorne.«
Er schob das Gas fast bis zum Leerlauf zurück. Dann stieß er den Stuhl mit dem Fuß mitten auf das Deck.
»Was ist das für ein Ding?« fragte Blondie. Ich konnte jetzt seine Pistole erkennen; sie war auf Jackies Kopf gerichtet. »Wollen Sie Ihren Freund auf der Stelle sterben sehen?«
»Das würde ich nicht machen«, sagte ich. Blondies Bruder zielte mit seiner Rifle auf meine Brust. Ich versuchte mit aller Macht, dies zu ignorieren. Es funktionierte nicht.
»Nehmen Sie den Anker von der Tasche«, sagte Blondie. »Und zwar in drei Sekunden.«
Ich riskierte einen Blick zurück. Während ich auf den Monitor sah, drehte ich meinen linken Arm, mit dem ich die Tasche hielt – einfach nur so. Ihr Boot erschien auf dem Schirm, aber der Seegang machte es schwer, ein stetiges Bild zu erzielen.
»McKnight, haben Sie mich gehört? Nehmen Sie den Anker weg!«
Ich schluckte hart. Es war an der Zeit, etwas richtig Blödes zu tun. Über das Wasser weg sah ich auf Jackie, sah in seine Augen.
»Sie sollten besser lächeln, Blondie«, sagte ich. Ich mußte meine Stimme ganz natürlich klingen lassen, als sei überhaupt nichts dabei, als sei ich nicht dabei, vor Angst den Verstand zu verlieren. »Sie wollen doch einen guten Eindruck auf Mr. Isabella machen, oder etwa nicht?«
Das hatte gesessen. Er konnte die Wirkung nicht verbergen. Sein Bruder sah von seiner Rifle auf.
»McKnight, wovon reden Sie da?«
»Sie sind im Moment live vor der Kamera«, sagte ich. »Sehen Sie auf den Monitor, Blondie. Mr. Isabella beobachtet jede Ihrer Bewegungen.«
Es war schwierig für ihn, aus sechs Metern Entfernung etwas zu erkennen, aber er starrte mit großen Augen auf den Monitor, als sei das ein Gerät aus seinem schlimmsten Albtraum. »Was zum Teufel …«
»Sie haben einen Fehler gemacht, Blondie. Sie haben sich den Falschen geschnappt. Sie haben sich nicht klar gemacht, wie die zwei zueinander stehen. Jackie und Mr. Isabella sind wie Brüder. Stimmt das nicht, Jackie?«
Nun mach schon, Jackie, dachte ich. Geh auf das Spiel ein.
Jackie nickte. Blondie legte den Arm eng um Jackies Hals und preßte ihm die Pistole direkt gegen die Schläfe.
»Ich glaube Ihnen von alledem kein Wort, McKnight. Schmeißen Sie die Tasche rüber. Auf der Stelle.«
Ein Geräusch. In der Ferne, ein Motor.
»Wer ist das?« schrie Blondie. Sein Gesicht war jetzt puterrot. »Ich habe Ihnen gesagt, wenn noch wer hier auftaucht, stirbt Ihr Freund.«
»Das sind nur ein paar von Isabellas Leuten. Sie wollen ein Wort mit Ihnen reden.«
Blondie und sein Bruder sahen sich an. Für einen Moment war ich versucht, nach meiner Pistole zu greifen.
Nein, noch nicht, Alex. Noch nicht.
»Ich weiß, daß Sie kein Idiot sind«, sagte ich. »Sie wissen, was passiert, wenn Isabellas Männer hierhin kommen. Was auch immer Sie mit uns anstellen, die Typen werden Sie umlegen. Geben Sie Jackie her, und wir geben Ihnen das Geld. Dann haben Sie einen Riesenvorsprung und sind lange weg, wenn die hier auftauchen.«
Blondies Bruder zielte wieder mit der Rifle auf mich.
»Nehmen Sie das Geld«, sagte ich. Ich war drauf und dran, meine freie Hand in die Tasche zu stecken, einige Scheine zu greifen und sie ihnen zu zeigen.
Eine schlechte Idee, Alex. Die denken dann, du greifst nach einer Pistole.
Blondie legte den Arm noch enger um Jackies Hals. Sein Blick ruhte auf dem offenen Wasser.
»Seien Sie doch kein Narr!« rief Bennett. »Nehmen Sie schon das gottverdammte Geld!«
Nein, Bennett, nein. Das können wir jetzt nicht brauchen.
»Diese Typen schneiden Sie in eine Million Stücke!«
Halt die Schnauze, Bennett. Schnauze, Bennett, Schnauze.
»Das sind siebenhunderttausend Dollar, ihr verdammten Arschlöcher! Nehmt das Geld und haut ab! Solange ihr das noch könnt!«
»Werfen Sie die Tasche rüber«, sagte Blondie.
»Geben Sie uns erst Jackie«, sagte ich.
»Werft die Tasche rüber!«
»Zuerst Jackie.«
Das Boot kam näher. Ich wagte nicht hinzusehen. Aber ich war sicher, daß sich alle vier Männer an der Reling aufgestellt hatten – Leon, Jonathan, Ham und Gill, und Vargas saß am Steuer. Ich konnte mir nur vorstellen, wie es wirken würde, vier Männer in Schwarz, mit riesigen schwarzen Gewehren. Ich hoffte, daß das reichen würde.
»Heilige Scheiße«, sagte Blondie.
Sein Bruder sah nicht auf. Er hielt seine Rifle weiter auf meine Brust gerichtet. »Wir laufen nicht weg«, sagte er.
»Sieh sie dir doch an«, sagte Blondie.
»Wir laufen nicht weg«, sagte der Bruder. »Ich glaube, es ist ein Trick.«
Ich hielt die Tasche noch etwas weiter übers Wasser. Das Gewicht des Ankers ließ meine Unterarmmuskeln sich verkrampfen und schmerzen. Aber ich wußte, wenn ich das Ganze nur eine Sekunde nach innen holte, würde mich eine Kugel durchbohren.
Dann, eine Stimme hinter mir. »Runter mit den Waffen!« Es klang wie Leon, der in ein Megaphon brüllte.
Der Bruder blinzelte nicht einmal. »Sie werden sterben, McKnight.«
Blondie stieß Jackie unter dem Sonnensegel hervor. »Zurück da!« schrie er. »Er hat eine Kugel im Kopf, wenn ihr näher kommt.«
»Waffen runter, aber sofort!«
Ich wußte, daß Vargas’ Boot nicht zu nahe herankommen konnte, ohne daß sie alles durchschauen würden. Das Isolierband auf den Gewehren, die billigen Windjacken. Die Illusion wäre hin.
»Ihr zerstört eure letzte Chance«, sagte ich. »Wenn ihr uns jetzt Jackie gebt, könnt ihr noch mit dem Leben davonkommen.«
»Ich bringe ihn um, McKnight. Das schwöre ich bei Gott.«
Ich sah Jackie an. Er hatte die Augen geschlossen.
»Ihr seid so gut wie tot«, sagte Bennett. »Gebt ihn raus, oder ihr seid tot.«
»Schnauze«, sagte ich, »Bennett, halt die Schnauze.«
»Das sind Isabellas Leute, und ihr seid geliefert.«
»Das sind nicht seine Leute«, sagte Blondies Bruder, ohne sie sich überhaupt anzusehen. »Da gibt’s kein Vertun.«
»Wie auch immer«, sagte ich. »Ihr seid zahlenmäßig unterlegen. Das seht ihr doch wohl selbst. Ihr kommt hier niemals lebend raus.«
»Das soll dann wohl so sein«, sagte Blondie. »Ich denke mir, darauf läuft’s raus.«
Alles erstarrte. Sekunden vertickten. Das ist es, dachte ich. Ich wartete auf die erste Salve.
Statt dessen eine Stimme.
»Hey Marcus! Derrick!« Ich wandte mich um und sah Vargas an der Reling seines Bootes stehen. Er hatte das Sprechgerät seiner Funkanlage in der Hand. »Hier ist Mr. Isabella. Er will euch sprechen.«
Das löste den Zauber. Beim Klang seines Namens wandte sich Blondies Bruder um, feuerte seine Rifle ab und streckte Vargas nieder. Als ich mich aufs Deck warf, sah ich Blondies Waffe aufblitzen, die sich von Jackies Kopf löste und auf mich zielte. Hinter mir hörte ich, wie Glas explodierte. Bennett schrie auf und schlug hart aufs Deck. Weitere Schüsse folgten, von Blondies Boot, von Vargas’ Boot. Und mittendrin klatschte etwas ins Wasser.
Ich griff nach meinem Revolver auf dem Bord unter der Reling und riß ihn hoch, umklammerte ihn mit beiden Händen. Jackie konnte ich nicht sehen. Wo zum Teufel war Jackie? Blondies Bruder tauchte hinter der Reling auf und feuerte auf Vargas’ Boot. Ich nahm ihn ins Visier und zog den Abzug. Neben meinem Ohr explodierte etwas, Holzsplitter flogen mir ins Gesicht. Ich warf mich wieder nieder. Ich sah Bennett auf Deck liegen. Er blutete an der Stirn, hatte aber die Augen offen. »Unten bleiben«, rief ich.
»Jackie ist im Wasser. Ich hab ihn reinspringen sehen.«
Ich hörte zwei weitere Schüsse und dann das Geräusch einer Schiffsschraube, die das Wasser quirlte. Jemand bewegte sich.
Ich sah über den Schiffsbord. Blondie war am Steuer. Das Boot bewegte sich von uns weg, und das verdammt schnell. Vargas’ Boot beschleunigte ebenfalls und kam auf uns zu.
»Paßt auf Jackie auf!« schrie ich. »Wo ist er?«
Ich suchte das Wasser ab. Ich konnte ihn nicht sehen.
»Wo bist du, Jackie? Wo zum Teufel bist du?«
Da!
Ich tauchte mit Kopfsprung in den See und spürte den eisigen Schock des Wassers. Ich schwamm zu der Stelle, wo ich ihn gesehen hatte, gegen die Wellen und die brutale Kälte ankämpfend. Als ich ihn endlich erreichte, kämpfte er verzweifelt darum, seinen Kopf über Wasser zu halten. Die Hände auf den Rücken gebunden und mit Isolierband über dem Mund hatte er keine Chance.
»Ich hab dich, Jackie! Ich hab dich!«
Ich packte ihn, warf seinen Kopf nach hinten und versuchte ihn nach bester Rettungsschwimmerart abzuschleppen. Mein Körper war schon gefühllos. Selbst Mitte Juli ist der See so verdammt kalt. Ein paar Minuten hast du, dann bist du hinüber.
Vargas’ Boot erreichte uns als erstes. Ham kam die Leiter an der Seite hinuntergestiegen; ein Bein schon im Wasser, grabschte er sich Jackie. Er hob ihn wie eine Puppe aus Lumpen hoch und hievte ihn über die Reling. Dann wiederholte er das Ganze mit mir, legte einen seiner langen Arme um mich und zog mich aus dem Wasser.
Ich landete auf dem Deck und richtete mich mühsam auf, indem ich mich auf Hände und Knie stützte. Ich versuchte zu atmen. Als ich aufsah, hatten Jonathan und Gill schon das Isolierband von Jackies Mund entfernt. Sie waren damit beschäftigt, seine Hände loszubinden.
Vargas lag hinter ihnen auf dem Deck.
Oh Gott nein. Plötzlich sah ich es wieder. Blondies Bruder trifft ihn aus nächster Nähe, der Schuß haut ihn um.
Vargas hob den Kopf. Er sah mich an und lehnte den Kopf gleich wieder zurück.
»Vargas!« Ich kroch zu ihm.
»Fassen Sie mich nicht an, McKnight. Lassen Sie mich wieder zu Atem kommen.«
»Was ist passiert? Ich sah, wie Sie hingeschlagen sind.«
»Er hat mich mitten auf der Brust getroffen«, sagte er. »Der Hundesohn.«
»Was? Wieso sind Sie …«
»Meinen Sie denn, ich fahre mit euch Clowns raus ohne meine Weste? Halten Sie mich denn für wahnsinnig?«
Ich blickte an seinem Körper hinunter. Die dicke schwarze Weste war unübersehbar, aber mir war sie nicht einmal aufgefallen. »Sie hatten eine Weste aus Kevlar-Fasern an?«
»Meinen Sie, Kevlar hätte die Kugel aufgehalten? Aus einem Sturmgewehr? Die ist aus Keramik.« Er zuckte zusammen, als er die Hand hob und leicht darauf tippte. »Ich hatte sie in der Kabine. Aber nur eine. Tut mir leid, wenn ich da egoistisch gewesen bin.«
»Was haben Sie mit dem Funk gemacht? Sie haben ihre Namen genannt.«
»Marcus und Derrick. Die Forsythe-Brüder. Ich habe über Funk Isabella angerufen und ihre wirklichen Namen erfahren.«
»Sie haben ihn wirklich gesprochen?«
»Die Dinge sahen nicht gut aus. Ich dachte, ich habe keine andere Wahl.« Er schob sich in eine sitzende Position. »O Gott, tut das weh! Morgen werde ich da einen höllischen Bluterguß haben.«
»Alex.«
Ich wandte mich um und sah Jackies Gesicht. Er sah aus wie eine ertrunkene Ratte. Ein wunderschöner Anblick.
»Bist du okay?« fragte ich.
»Ich brauche einen Drink.«
»Du bibberst ja. Wir müssen dich gewärmt kriegen.«
»Ich sehe meinen Vater nirgends«, sagte Ham. »Ach du Scheiße, wo ist der denn?«
»O Gott«, sagte ich, »der ist noch auf dem Boot.« Ich stellte mich auf meine wackligen Beine und sah über die Reling. Das Boot war etwa fünfzehn Meter entfernt, aber ich konnte Bennett nirgends sehen. »Fahren wir hin.«
»Mach ich sofort«, sagte Vargas und ließ sich vorsichtig auf dem Kapitänssitz nieder. Er wendete das Boot.
Bennett lag noch auf dem Deck, seine Stirn blutete. Das Blut war ihm in die Augen und über die Nase gelaufen. Ham sprang über die Reling und landete mit sattem Aufprall auf dem Deck des anderen Bootes. Leons Bildschirm fiel vom Stuhl.
»Paß auf, verdammt noch mal!« sagte Bennett. »Du bringst dich ja noch um!«
»Du blutest«, sagte Ham. »Bist du getroffen?«
»Und ob ich getroffen bin. Von mindestens fünfzig explodierenden Glassplittern!«
»Wir müssen die Blutung zum Stillstand bringen.«
»Das macht nichts«, sage Bennett. »Wo ist Jackie? Alles in Ordnung?«
»Ihm geht es gut«, sagte Ham. »Allen geht es gut.«
Bennett schloß die Augen. »Wie um Himmels willen haben wir das bloß durchziehen können?«
»Weiter im Text«, sagte Vargas. »Wir müssen das Boot einholen.«
»Warum?« fragte ich.
»Muß ich das wirklich sagen? Wenn er davonkommt, dann wissen Sie genau, daß er zurückkommt, um uns alle zu machen.«
»Ich glaube, ich habe seinen Bruder umgelegt«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher.«
»Ein Grund mehr«, sagte Vargas. »Los, weiter, er entkommt uns.«
Ich versuchte, mir einen guten Grund einfallen zu lassen, um ihm zu widersprechen. Mir fiel nichts ein.
»Gill, Sie gehen besser auf das andere Boot. Einer muß es steuern, während sich der andere um Bennett kümmert. Vargas, haben Sie einen Erste-Hilfe-Kasten?«
»In der Kabine. Rechts an der Wand.«
Gill ging hinein und griff ihn sich und kletterte dann über die Leiter an der Seite auf Bennetts Boot.
»Ihr fahrt direkt nach Hause«, sagte ich. »Wir treffen euch später da.«
»Seid vorsichtig«, sagte Gill.
»Jonathan, du bringst Jackie besser nach unten und siehst zu, ob du ihn warm kriegst.«
»Ich habe Decken dabei«, sagte Vargas. »Die unteren Schubladen links.«
Sobald Gill auf dem anderen Boot war, schob Vargas den Gashebel durch und schoß hinter Blondie her. Ich saß im Sitz neben ihm, und Leon saß gleich hinter ihm. Die kalte Luft rauschte an mir vorbei und ließ mich genau so heftig zittern wie Jackie.
»Du nimmst dir besser auch eine Decke«, sagte Leon. »Schließlich seid ihr total naß.«
Ich ging in die Kabine. Jackie zog sich die nassen Kleider aus, während Jonathan mit den Decken neben ihm stand.
»Gib mir auch eine«, sagte ich.
Jackie packte mich am Arm und sah mir in die Augen.
»Du bist ein ganz schöner Idiot«, sagte er.
»Das weiß ich.«
Er sah mich weiterhin an. Schließlich lächelte er. »Gut gemacht.«
Eingewickelt in eine Decke ging ich nach draußen und setzte mich wieder neben Vargas.
»Sie bluten ein wenig«, sagte er.
Ich griff an meine Wange und fühlte das Blut.
»Splitter«, sagte ich. »Die Kugel hat mich knapp verfehlt.«
Vargas fuhr weiter mit Vollgas. Wolken waren aufgezogen. Der Wind peitschte die Wellen bis zu einem Meter hoch. Wir schlugen heftig auf die Wogen.
»Warum haben Sie Isabella nicht gleich zu Beginn angerufen?« fragte ich.
Er sah mich an.
»Ich beklage mich nicht«, erklärte ich. »Ich frage nur. Hätte das nicht alles erheblich einfacher gemacht?«
»Man ruft Isabella nicht einfach so an. Und man stellt ihm mit Sicherheit keine Fragen zu anderen Leuten im Geschäft.«
»Ich verstehe. Natürlich, ihn über Funk zu rufen … Was haben Sie gemacht, sein Boot angefunkt?«
»Ja, ich habe zu seinem Boot gefunkt.«
»Auf der ganz normalen Frequenz?«
»Ja. Er hat übrigens über Funk ganz freundlich geklungen, als wäre ich sein bester Kumpel und er würde sich echt freuen, von mir zu hören. Das ist kein gutes Zeichen. Wie gesagt, die Dinge hier sahen gar nicht gut aus. Sonst hätte ich das niemals getan.«
Ich sah auf das Wasser hinaus. Von Blondies Boot war nichts zu sehen.
»Woher wissen Sie, welche Richtung er eingeschlagen hat?«
»Der nächstgelegene Landeplatz für ihn ist Batchawana Bay. Ich denke mir, daß er dahin will.«
»Wie weit ist das?«
»Von hier vielleicht eine, vielleicht anderthalb Stunden. Natürlich ist da auch Isabellas Boot. Das kann interessant werden.«
Eine weitere halbe Stunde schnitten wir die Wellen, bis wir ihn endlich sahen. Sogar mit der Fracht war Vargas’ Boot erheblich schneller.
»Wir haben ihn«, sagte er. »In fünf Minuten sind wir neben ihm. Wollen Sie den Ehrenschuß?«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich sah zu Leon hinüber. Blondies Bruder hatte ich in der Hitze des Augenblicks erschossen. Jetzt Blondie kalten Blutes erschießen …
Ich mußte an Jackie denken, die Hände auf den Rücken gefesselt, den Mund mit Klebeband verschlossen, die Pistole gegen den Kopf gepreßt.
Ich mußte an die Hütte meines Vaters denken, von der nur noch ein Aschenhaufen übrig war.
Brachte ich es fertig?
»Wo fährt er hin?« sagte Vargas. »Er wendet.«
Wir beobachteten, wie das Boot nach Norden abdrehte. Dann sahen wir auch, warum.
»Ach du Scheiße«, sagte Vargas. »Das ist Isabella.«
In der Entfernung war das schwer auszumachen, aber das Boot, das auf uns zuraste, hatte einen langgestreckten Bootskörper und schoß über das Wasser wie ein Höchstgeschwindigkeitsrennboot.
»Wir müssen hier weg«, sagte er. Er wendete hart; alles an Deck rutschte von der einen Seite auf die andere. Als wir davonrasten, ging ich ans Heck und sah zu, wie das große Boot wendete, um Blondie abzufangen. Über das Dröhnen unseres Motors, über drei Kilometer offenes Wasser hinweg konnten wir die Schüsse hören. Alle Zweifel, die ich wegen Blondies kaltblütiger Erschießung gehegt haben mochte, wurden in diesem Moment wohl gegenstandslos.
»Ich hoffe, Blondie leistet ihnen erheblichen Widerstand«, sagte Vargas. »Das könnte sie etwas aufhalten.«
»Werden sie danach uns verfolgen?« fragte ich.
»Ich würde jedenfalls nicht dagegen wetten.«
»Ist das Ihr Kontaktmann in Kanada?« fragte Leon. »Derjenige, dem Sie die Geräte liefern?«
Vargas sah jeden von uns an, dann blickte er wieder aufs Wasser. »Nicht an ihn direkt. Aber er hat seine Finger im Spiel. Gestern habe ich wegen des Wetters nicht geliefert, und heute bin ich rausgefahren, um die Brüder Forsythe zu erschießen. Das ist nicht exakt das Verhalten, das er bei seinen Geschäftspartnern gerne sieht.«
Vargas fuhr das Boot weiterhin mit Höchstgeschwindigkeit. Die Wellen waren jetzt an die einszwanzig hoch. Jonathan steckte den Kopf aus der Kabine und fragte, ob wir wirklich ganz so hart auf die Wellen knallen müßten. Der Ausdruck auf meinem Gesicht schickte ihn ohne ein weiteres Wort in die Kabine zurück.
Isabellas Boot kam näher. Es würde uns nicht so bald einholen, aber es würde uns einholen. Vargas sah sich nicht um. Er hielt das Boot auf geradem Kurs. Ich sah auf die GPS-Anzeige – wir waren noch zwei Stunden von Zuhause entfernt.
Leon schob sich über das Deck und versuchte die Gewehre einzusammeln. Bei dem Seegang sah das aus, als bewege er sich auf einem Trampolin.
»Versuchen Sie’s gar nicht erst«, schrie Vargas. »Wenn sie uns erreichen, sind Sie tot. Egal, was wir machen.«
Leon setzte sich aufs Deck und hielt sich an der Reling fest. Der Himmel wurde immer dunkler, die Wellen erreichten jetzt bald zwei Meter. Das ließ unsere Geschwindigkeit auf unter zwanzig Knoten sinken. Wir konnten nur hoffen, daß sie das Boot hinter uns genau so verlangsamten.
Als wir endlich die Whitefish Bay erreichten, hatten sie die Distanz auf achthundert Meter verringert. Ich wartete auf die erste Kugel.
Dann sah ich den zweiten wunderschönen Anblick an diesem Tage. Es war ein Patrouillenboot der Küstenwache, zwölf Meter geballter seemännischer Autorität, in blitzendem Weiß mit den charakteristischen orangefarbenenen Streifen. Ein zweites Boot war direkt daneben.
Bennett.
»Wir müssen die Waffen loswerden!« sagte Leon. Bevor wir noch näher herankamen, sammelten Leon und ich die vier mit Isolierband aufgemotzten Gewehre und meinen Revolver ein und warfen alles am Heck über Bord. Dabei konnten wir sehen, wie Isabellas Boot hastig wendete. Sie waren so nahe herangekommen, daß wir zwei Männer an der Reling erkennen konnten, die uns anstarrten. Beide waren schwarz gekleidet, mit schwarzen Sonnenbrillen.
»Ich hätte nie gedacht, daß ich das einmal sagen würde: Gott sei gedankt für die US-Küstenwache«, sagte Vargas. »Wenn Sie nichts dagegen haben, danke ich ihnen aber nicht persönlich. Die Jungs können sehr neugierig sein.«
Er wählte einen neuen Kurs nach Südwesten und beschrieb einen kilometerweiten Bogen um die beiden Boote. Als das Schiff der Küstenwache sich schließlich von Bennett löste und in Richtung des Flusses fuhr, lenkte Vargas zu Bennett hinüber.
Er war nirgends zu sehen. Nur Ham und Gill saßen friedlich an den Schalthebeln und erwarteten unsere Ankunft. Das unruhige Wasser erschwerte die Annäherung.
»Was ist passiert?« fragte ich sie. »Wo ist Bennett?«
Wie auf ein Stichwort hin öffnete sich die Kajütentür. Bennett steckte den Kopf hinaus, die Stirn mit Binden umwickelt. »Sind sie weg?«
»Uns ist das Benzin ausgegangen«, sagte Gill. »Wir mußten die Küstenwache über Funk rufen. Wir hatten schon Angst, ihr würdet uns bei der Rückfahrt verpassen. Bennett ist in der Kajüte verschwunden, damit sie nicht zu viele Fragen stellten. Immerhin hatten wir ja schon diese kaputte Frontscheibe zu erklären.«
»Natürlich haben wir auch eine Abreibung erster Klasse bekommen«, sagte Ham. »Die ganze Zeit, wo sie uns aufgetankt haben, hielten sie sich dran, wie wir auf den offenen See rausfahren könnten, wo das Wetter sich doch so verschlechterte, und dann noch ohne Benzin. Sie müssen uns für die größten Idioten auf dem ganzen See gehalten haben.«
»Ich glaube nicht, daß ich ihnen da widersprechen würde«, sagte ich. »Los, fahren wir nach Hause.«
Wir fuhren durch die Bucht auf den Fluß zu. Jetzt, wo uns keiner jagte, konnten wir uns Zeit lassen. Ich ging nach drinnen und sah nach Jackie. Er hatte sich in die Decken gehüllt und schnarchte.
»Heißt das, er hat bei alldem geschlafen?« fragte ich.
»Sobald wir nicht mehr so auf die Wellen knallten«, sagte Jonathan. »Da war er plötzlich weg.«
»Wir sind bald zu Hause.«
»Wann kann ich denn anfangen, dir zu danken, Alex?«
»Das nächste Mal, wo du meinen Deckel kassierst.«
Er schenkte mir ein müdes Lächeln. Ich schlug ihm auf die Schulter und ging zurück an Deck.
Leon hatte das Steuer übernommen. Vargas saß am Heck und rieb sich die linke Schulter.
»Morgen wird Ihnen alles weh tun«, sagte ich.
»Und ob, aber wenn ich an die Alternative denke, nehme ich das gerne in Kauf.«
»Wie groß ist das Problem, das Sie jetzt haben? Mit Isabella, meine ich.«
»Ich denke, mit der Masche ist es jetzt vorbei. Ich habe mich in diesem Moment zur Ruhe gesetzt.«
»Lassen die das mit sich machen? Daß Sie so einfach weggehen?«
»Das müssen sie wohl. Ich schmeiße die Brocken hin.«
»Und dieses Gerede, daß man hier im großen Stil Häuser baut, das neue Bay Harbor – da hat doch auch Isabella hintergesteckt, oder?«
»Er hat. Das ist jetzt wohl auch vorbei.«
»Vielleicht ist das auch gut so.«
Er sah mich an. »Ja, das denke ich auch. Mir hat es jedenfalls nichts eingebracht. Hat mich nur zur Zielscheibe gemacht.«
»Ich weiß nicht, wie der heutige Tag ohne Ihre Hilfe verlaufen wäre. Ich glaube nicht, daß er ein gutes Ende genommen hätte.«
»Ich habe mir gedacht, es sei in meinem eigenen Interesse, euch alle am Leben zu halten. Irgendwer hat schließlich mein Geld. Sie haben mir die komplette Geschichte versprochen, Alex. Ich warte.«
Ich erzählte ihm, was ich wußte, von Bennett und seinem Sohn und von dem Geld, das schon lange weg sei. »Sie werden das mit Bennett ausfechten müssen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst sagen soll.«
»Wir werden darüber wohl bei Gelegenheit gemütlich zu plaudern haben.«
»Wenn wir gleich bei seiner Kneipe sind, kommen Sie doch einfach mit rein und trinken was.«
»Das mache ich später irgendwann. Vielleicht schaue ich morgen mal rein.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ich will jetzt nach Hause und Miata rauslassen. Er war den ganzen Tag drinnen. Cynthia will einfach nicht mit ihm spazierengehen.«
»Vielleicht gehen Sie erst mal besser woanders hin. Ziehen sich eine Zeitlang aus dem Verkehr, wenn Sie wissen, was ich meine. Verdammt noch mal, vielleicht sollten Sie sogar Leon wieder anheuern. Nach dem, was er heute gebracht hat, ist er wohl allem gewachsen.»
»Ich weiß Ihre Sorge um mich durchaus zu schätzen. Aber machen Sie sich um mich keine Gedanken. Ich kann schon auf mich aufpassen.«
Als wir Bennetts Haus erreicht hatten, verließen wir alle die Boote. Jackie war jetzt wach und nicht allzu glücklich darüber, eine Leiter hinabsteigen zu müssen, mit nichts als mit einer Decke bekleidet. Als wir alle auf dem Dock standen, sah Vargas uns lange an, nickte kurz und legte ab.
»Hey, Alex«, sagte Bennett. »Was ist eigentlich aus der Geldtasche geworden?«
»Wie bitte?«
»Sie wissen doch, die Tasche mit den zweitausend Dollar drin?«
»Die habe ich wohl ins Wasser fallen lassen, Bennett. Das tut mir aber so was von leid.«
»Machen Sie sich da keine Gedanken, Alex. Ich sage doch gar nicht, Sie hätten auf sie aufpassen sollen. Ich wollte nur fragen.«
»Ich brauche einen Drink«, sagte ich. »Den brauchen wir wohl alle.«
Ich verließ das Dock als letzter. Ich sah den Fluß hinunter, sah Vargas am Steuer seines Bootes, gerade bevor er um die Kurve verschwand.
Es war das letzte Mal, daß ich ihn lebend sehen sollte.
