Nachwort

Weit über dreißig private Detekteien listen die Gelben Seiten zum Kölner Telefonbuch auf – richtig populär sind sie aber in der deutschen Detektivliteratur nicht geworden. Das Fernsehen, öffentliches wie privates, ist hier durchaus repräsentativ: Matula ist eine der Ausnahmen und hält seit Jahrzehnten mit wechselnden Anwälten, für die er meist ermittelt, die Stellung; dominant sind Serien mit polizeilichen Ermittlern. Ähnlich liegen die Verhältnisse in Frankreich, während sich in Großbritannien skurrile Privat- oder besser: Amateurdetektive und beamtete Ermittler – die sich dann aber meist auch wie private verhalten – in etwa die Waage halten.

Anders liegen die Dinge in den USA, und das hat historische Gründe. Zum einen sind hier Privatinitiative und Selbsthelfertum noch immer in einer für Europäer häufig befremdlichen Weise an der Tagesordnung; zum anderen herrscht eine Strafprozeßordnung, die auch den Strafprozeß zum Parteienprozeß, zum Kampf zwischen Staatsanwalt und Verteidigung und damit eigene Ermittlungen zugunsten des Angeklagten erforderlich macht. Vor allem aber war die Strafverfolgung bis tief ins zwanzigste Jahrhundert hinein Sache der Einzelstaaten; erst 1924 wurde die Bundesbehörde FBI gegründet und nach und nach mit wachsenden Vollmachten ausgestattet. Bis dahin füllten private Agenturen wie die berühmte von Allan Pinkerton diese Lücke; entsprechend ist der erste bis heute populäre amerikanische Privatdetektiv, Hammetts namenloser Continental Op, als Operative bei der Continental Agency angestellt – sie bedient den Kontinent, die Polizei nur den einzelnen Bundesstaat.

Was Dashiell Hammett (1894  1961) begründet hat und was später, nach dem vehementen Eintreten seines Schülers Raymond Chandler (1888  1859) für seinen literarischen Ziehvater, die amerikanische Schule genannt wurde, zeigt sich aber nicht nur inhaltlich, sondern vor allem formal. Anders als in seinen Romanen »The Maltese Falcon« und »The Glass Key« bedient sich Hammett in den Romanen und Kurzgeschichten mit dem Continental Op als Ermittler einer von ihm geschaffenen Erzähltechnik, die bis heute die Amerikanische Schule dominiert und unverwechselbar macht: Während bislang die Ich-Erzählung von ihrer inneren Logik dominiert wurde, daß man erst nach dem Erleben erzählen kann und den Ausgang bereits kennt, erzählt Hammetts Held so, als spräche er während der Aktion vor sich hin. Personale Ich-Erzählung nennt man diese von Vorausdeutungen nahezu freie, aktionsnahe Erzählweise. Sie wurde zum Merkmal aller fiktionalen »Private Eyes«, wie die P. I.s, die Private Investigators, aufgrund des phonetischen Gleichklangs liebevoll genannt werden, und auch Detektive, die zufällig irgendwo angestellt sind, wie William L. DeAndreas Matt Cobb bei einem Sender, bedienen sich ihrer.

P. I.s aller Art sind in den USA so zahlreich, daß inzwischen jede größere Stadt, ja man möchte meinen, jedes County einen hat und die mit ihnen befaßten Autoren sich zur Vereinigung der »Private Eye Writers of America« zusammengeschlossen haben. Einer davon zu werden war seit seinen Collegetagen, wo er u. a. Schreibkurse – Creative Writing – belegt hatte, auch der Ehrgeiz von Steve Hamilton. Sobald er sich familiär und beruflich etabliert hatte – er schreibt auch im Dienst nach eigenem Bekunden ›mysteries‹, nämlich Gebrauchsanleitungen für IBM-Geräte –, nahm er diesen Plan in einem Jahresurlaub – in den USA zwei Wochen! – wieder auf; doch der Bildschirm blieb dunkel. Ihm wollte einfach keine Private-Eye-Variante auf dem so reich bestellten Feld einfallen: Aus der Not wurde die Tugend – sein Held wurde gerade der, der sich nicht einstellen wollte, der Privatdetektiv wider Willen mit dem doppelten Heldennamen Alexander McKnight. Vor der originellen Kulisse »nördlich von Nirgendwo«, dem äußersten Norden seines Heimatstaats Michigan, agierend, verhalf er seinem Schöpfer sogleich zum Durchbruch – mit drei Preisen wurde 1998 der Erstling ausgezeichnet.

Ein Privatdetektiv wider Willen sucht sich seine Fälle nicht, zumal das oft so durchschlagende finanzielle Argument bei ihm keine Rolle spielt: Von seinem Vater hat er eine Reihe wochenweise zu vermietender Blockhütten geerbt, als dienstunfähig geschossener Detroiter Polizist bezieht er eine Rente. Er muß daher nicht nur zur Aufnahme des Berufs überredet werden (»Ein kalter Tag im Paradies«, DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek), sondern die Fälle müssen ihn suchen – in aller Regel bringt ihn sein ausgeprägtes Helfersyndrom in zum Teil lebensbedrohliche Verwicklungen (»Unter dem Wolfsmond«, »Der Linkshänder«, DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek). Persönliches Involviertsein und die Aufdeckung der Zusammenhänge führen aber auch dazu, daß er mit jedem Fall einen Freund verliert und mehr und mehr zu dem einsamen Wolf wird, der der amerikanische Privatdetektiv traditionell immer schon ist.

Zu seinem vierten Fall kommt er so höchstpersönlich, daß es nicht mehr zu steigern ist: Er findet sich am Abend des amerikanischen Nationalfeiertags Vierter Juli plötzlich als Zufallsgast einer Pokerrunde mit vier anderen auf dem Boden eines fremden Hauses wieder, während ein Maskierter eine Pistole an seine Schläfe drückt. An sich hatte ihn nur sein letzter verbliebener Freund Jackie, dessen Kneipe Alex sonst das Wohnzimmer ersetzt, aus einer Soziopathen-Existenz erlösen wollen – nun muß er plötzlich sich und den anderen Pokerspielern aus der Klemme helfen, da sie der Komplizenschaft bei dem brutalen Raub bezichtigt werden.

Zugleich geht es um mehr; ihr schillernder Gastgeber arbeitet an einem typisch amerikanischen Plan: Am Ufer des Lake Michigan gibt es seit etlichen Jahren künstliche Städte, wie sie in Deutschland in den siebziger Jahren an Nord- und Ostsee aus dem Boden schossen, nur amerikanischen Dimensionen entsprechend großzügiger und lockerer. Warum sollte dergleichen nicht auch am bislang noch völlig unberührten Lake Superior möglich sein? Noch ist das Seeufer frei und Ufergrundstücke sowie seenahe Flächen sind noch billig zu haben. Hier ein ›development‹, eine künstliche Siedlung komplett mit Infrastruktur durch Großinvestoren aus der Schwarzgeldszene zu errichten und an einzelne Interessenten mit hohen Gewinnen weiterzuverkaufen, bietet sich für Win Vargas geradezu an. Daß die Gegend nördlich von Nirgendwo liegt, ist für die Mobilität der US-Amerikaner mit Flugzeugen und Leihwagen kein Problem. Seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Schleusen zwischen Lake Superior und Lake Huron wegen der Erzfrachter kriegswichtig waren, verfügt die Gegend über einen überdimensionierten Flughafen. Ein großzügiger Golfplatz wird soeben angelegt, und zwei Vorzüge hat die Region zudem exklusiv: Auf dem den ehemals hier siedelnden Indianern zurückgegebenen Land betreiben die einzelnen Stämme Spielkasinos – eine für den US-Amerikaner offenbar unerläßliche Ferieninstitution –, und das in weniger als einer Autostunde erreichbare Kanada erlaubt erheblich freizügigere Nachtclubs als das prüde Michigan.

Erst bei dieser extremen Gefährdung ihrer gewohnten Umgebung wird den Einheimischen klar, daß der Ort, an dem McKnight wohnt, nicht zufällig Paradise heißt. Mag auch der Zukunftsoptimismus früher Siedler und ihre Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu diesem Namen geführt haben – im modernen umweltbezogenen Sinn lebt man hier trotz der langen und harten Winter in einem Paradies. Es ist kein Zufall, daß Hamilton in der Eingangssequenz des Romans mit einem Sonnenuntergang über dem Lake Superior eine seiner schönsten Naturschilderungen überhaupt bietet.

Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß der See in keinem der vorangehenden Romane eine ähnlich zentrale Rolle spielt wie in diesem – er ist Schauplatz dramatischer Entwicklungen und eines Showdown à la James Bond.

Daß es dabei nicht bleibt, ist Steve Hamiltons Markenzeichen: Immer wenn die Handlung einen den Krimifan befriedigenden Abschluß gefunden hat, alle Geheimnisse eine erschöpfende Auflösung erfahren haben, vollzieht der Text eine weitere Volte und gibt wie ein Kippbild plötzlich eine völlig veränderte Sicht des Falles preis.

Steve Hamiltons Erfolg in den USA und zunehmend auch in anderen europäischen Ländern ist nicht nur ungebrochen, sondern wächst ständig. DuMonts Kriminal-Bibliothek ist stolz, diesen jungen Autor für Europa entdeckt zu haben, und verfolgt seinen weiteren Weg mit dem, was er selbst so meisterlich erzeugt: Spannung.

Volker Neuhaus