2
 
 
Sie war erschöpft, ihr ganzer Körper schmerzte, und sie wurde unerträglich eng gegen die Brust dieses hünenhaften Fremden gepresst. In den Armen eines Verrückten, dem Haus eines Verrückten und einer verrückt gewordenen Welt gefangen gab Kelly Doyle schließlich ihren Widerstand auf. Keiner der beiden Männer schien Englisch zu sprechen, und sie konnte sich nicht mehr auf ihr Schulfranzösisch besinnen und somit auch nicht versuchen, sich in dieser Sprache mit ihnen zu verständigen. Allerdings klang es auch nicht so, als würden die beiden Französisch sprechen. Oder Spanisch oder Deutsch oder sonst irgendeine Sprache, die sie hätte erkennen können. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als in den Armen dieses gut aussehenden, muskulösen Fremden stillzuhalten und mit aller Macht die Tränen zurückzudrängen.
Es fiel ihr unendlich schwer. Manche Menschen hatten schlechte Tage, sie hatte ein ganzes schlechtes Jahrzehnt. Erst waren ihre Eltern vor drei Jahren bei einem von einem betrunkenen Fahrer verursachten Autounfall umgekommen und hatten sie fast mittellos zurückgelassen. Dann war ihr ein verheißungsvoller Job angeboten worden, um dessentwillen sie aus ihrer Heimat fortziehen und ihre restliche Familie und ihre Freunde zurücklassen musste. Und dann hatte ihre neue Firma vor eineinhalb Jahren bankrott gemacht, und alle Angestellten waren entlassen worden.
So hatte sie sich darauf verlegt, ihre Hobbys zu ihrem Beruf zu machen. Sie konnte nähen, sticken und Spitze klöppeln und fertigte Kissenbezüge, Wandbehänge, Quilts, Flickenpuppen und Kleider an – in allen Stilrichtungen vom Modernen bis hin zur Mode des Mittelalters. Das Clubhaus der Freunde des Mittelalters war der einzige Ort in ihrer neuen Umgebung und ihrem neuen Leben, wo sie dank gemeinsamer Interessen rasch Freunde fand, obwohl die einheimischen Mitglieder anfangs völlig Fremde für sie waren. Hope, inzwischen ihre beste Freundin, hatte sie im Kreis der Anhänger der Erhaltung alter Sitten und Bräuche sofort herzlich willkommen geheißen.
Doch ihre Mitgliedschaft in dem Verein der »Freunde des Mittelalters« hatte sie in der winzigen Stadt im Mittelwesten rasch in Verruf gebracht. Man unterstellte ihr, heidnische Rituale zu vollziehen, und bezichtigte sie der Hexerei und aller möglicher anderer gotteslästerlicher Aktivitäten, obwohl sich ihre Gruppe lediglich historischen Studien verschrieben hatte.
Hasserfüllte anonyme Botschaften wurden auf Kellys Mailbox hinterlassen, Zettel mit unmissverständlichen Drohungen an ihre Tür geklebt. Die sich wie ein Lauffeuer verbreitenden Gerüchte bewirkten, dass ihre einheimische Kundschaft ausblieb und sie auf die wenigen Touristen angewiesen war. Und eines Abends hatte sie ein Mann unsanft gegen eine Wand gestoßen, als sie auf dem Heimweg vom Kino gewesen war. Sie hatte den Angreifer in die Flucht geschlagen und war einmal mehr froh darüber gewesen, dass ihre Eltern sie in ihrer Jugend einen Kung-Fu-Kurs hatten absolvieren lassen. Der maskierte Mann hatte hastig das Weite gesucht.
Als sie den Vorfall allerdings bei der Polizei anzeigte, erhielt sie zur Antwort, sie habe den Angreifer wohl absichtlich provoziert. Die Beamten, die bezüglich ihrer Person dieselben Vorurteile hegten wie der Rest der Stadt, ignorierten die wachsenden Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war, und verweigerten ihr mit der Begründung, sich um »schwerwiegendere« Verbrechen kümmern zu müssen, jegliche Hilfe – und das in einer Stadt, wo es zu keinen schlimmeren Zwischenfällen kam als zu Schlägereien unter Betrunkenen oder einem gelegentlichen Ladendiebstahl.
Eine Weile hatte Kelly gehofft, die Schikanen würden aufhören, nachdem sie die Polizei eingeschaltet hatte. Doch schon bald waren neue Hassbotschaften eingetroffen, zusammen mit fotokopierten Seiten alter Bücher, die das Schicksal von Frauen behandelten, die, der Hexerei beschuldigt, in England und den Kolonien gehenkt und in Schottland und Frankreich verbrannt worden waren.
Eines Morgens war sie aus dem Haus gekommen, um die zu einem kleinen Laden umgebauteVeranda mit dem dahinterliegenden Wohn- und Esszimmerbereich zu fegen, und hatte dort eine von der Verandadecke herabbaumelnde Henkerschlinge vorgefunden. Daran war eine Nachricht befestigt, die in aus Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben die »Hexe« aufforderte, unverzüglich die Stadt zu verlassen, sonst … Vor Wut schäumend hatte sie die Nachricht zur Polizei gebracht, wo man nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen und sie darauf hingewiesen hatte, dass weder ihr Name explizit erwähnt noch näher darauf eingegangen wurde, was unter »sonst« zu verstehen war.
Die Antwort auf diese Frage erhielt sie eine Woche später, als sie von sengenden Schmerzen geweckt in ihrem Bett hochschreckte und sah, dass das Haus ringsherum in Flammen stand. Während sich ihre Lungen mit Rauch füllten, der Schmerz unerträglich wurde, sich auf ihrer Haut Brandblasen bildeten und die immer höher schlagenden Flammen ihr jeden Ausweg aus dem Inferno versperrten, war die Welt plötzlich irgendwie aus den Fugen geraten, hatte sich um sie gedreht … und dann war sie wieder zu sich gekommen und hatte sich hierwiedergefunden. Sie musste ohnmächtig geworden sein, denn Kelly erinnerte sich daran, dass sie vor Schmerz, Schreck und Angst laut geschrien hatte, bis sie in ein tiefes schwarzes Loch gefallen war und eine barmherzige Zeit lang überhaupt nichts mehr gespürt hatte.
Irgendetwas, was über ihren Verstand hinausging, musste während ihrer Bewusstlosigkeit geschehen sein. Ihre Kleider waren noch immer versengt, ihre Haut dagegen nicht mehr mit Blasen und Brandwunden übersät, sondern nur noch leicht gerötet. Jetzt befand sie sich in einem Gebäude, bei dem es sich scheinbar um eine Burg handelte, und in den Armen eines Mannes, der Kniehosen und eine ärmellose Tunika trug und sich mit einem ähnlich gekleideten Mann stritt, und das alles in einem Raum, der von glühenden weißen Bällen in eisernen Haltern erleuchtet wurde. Nur sah sie keine Kabel, die den Strom für das durchscheinende weiße Licht lieferten …
Vielleicht wurden die Kugeln von Batterien gespeist, oder die Stromkabel verliefen durch den Boden direkt in die Füße der eisernen Ständer. Aber die Tür im oberen Stock war geöffnet und geschlossen worden, ohne dass der Mann die Klinke berührt hatte, und irgendeine Feder oder gar eine Fernbedienung hatte sie nicht gesehen. Daswar wirklich gespenstisch. Besser, sie dachte nicht genauer darüber nach.
Kelly biss sich auf die Unterlippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie mochte ja am ganzen Körper Prellungen haben und im spöttischen Zerrbild einer Umarmung gegen die Brust eines unverständliche Worte brummenden und ausgesprochen unfreundlichen Fremden gedrückt werden, aber sie würde eher in der Hölle schmoren, als … falsche Analogie, mahnte sie sich, als ihre Augen erneut zu brennen begannen. Wenn sie nicht vollkommen verrückt geworden war, hatte sie noch vor kurzem in einer echten Hölle auf Erden geschmort. Buchstäblich. Und dabei alles verloren, was sie besaß – das Haus, für das sie sich bis über beide Ohren verschuldet hatte, und ihren kleinen Laden, den sie seit einem Jahr mühsam vor der Schließung zu bewahren suchte, obwohl er in ihrer ihr nur allzu feindlich gesonnenen Welt kaum genug abwarf, um die anfallenden Rechnungen zu bezahlen und sie zu ernähren.
Wenigstens brüllte der Mann, der sie festhielt, sie und den anderen Mann nicht mehr an, und er schlug sie auch nicht mehr. Er tat nichts anderes, als sie an sich zu drücken. Sie konnte nur hoffen, dass dieser plötzliche Mangel an Aufmerksamkeit nicht daher rührte, dass er und sein Kumpan darüber nachdachten, was sie ihr noch Schlimmeres antun konnten als das, was ihr bislang widerfahren war. Sie vergewaltigen zum Beispiel. Kelly verfügte nicht mehr über genug Kraft, um sich gleich gegen zwei Widersacher zur Wehr zu setzen. Sie hatte zum Frühstück nur eine Kartoffel und einen billigen Müsliriegel gegessen, und Lunch undAbendessen konnte sie sich nicht jeden Tag leisten.
Sie war ein jämmerliches, in einen zerrissenen Pyjama gehülltes Häufchen Elend …
O nein, versink jetzt bloß nicht in Selbstmitleid, mahnte sie sich, als sich ein feuchter Schleier vor ihre Augen legte. Sie kniff sie rasch zusammen, quetschte dadurch aber eine Träne heraus. Und dann noch eine. Eine war ja schon schlimm genug, aber zwei bedeuteten, dass sie weinte. Ein Eindruck, den sie um jeden Preis vermeiden wollte.
Mit fest geschlossenen Augen betete Kelly inbrünstig, dass der Mann, der sie hielt, die Tränen nicht bemerkte und ihm auch nicht auffiel, dass ihr bereits unregelmäßiger Atem in ein Schluchzen umschlug, was sie endgültig verraten würde. Kelly hatte zum letzten Mal beim Tod ihrer Eltern geweint, beim Verlust ihres Bürojobs jedoch keine Miene verzogen, obgleich sie auch da den Tränen nah gewesen war. Eine neue Anstellung ließ sich immer finden. Und wenn nicht, gab es andere Lösungen.
Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen, als die Schikanen begannen, weil es ihren Peinigern eine tiefe Genugtuung bereitet hätte, sie unter den gehässigen anonymen Angriffen zusammenbrechen zu sehen. Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen, als sie bei der Polizei barsch abgefertigt wurde, und sie hatte große Mühe gehabt, nicht zu weinen, als sie die Henkerschlinge an ihrer Verandadecke gefunden hatte. All diese Dinge waren es nicht wert, deswegen auch nur eine einzige Träne zu vergießen, hatte sie sich wieder und wieder gemahnt.
Doch jetzt brach ihre Selbstbeherrschung zusammen. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie biss sich erneut auf die Lippen, dann presste sie sie fest zusammen. Ein Schnieflaut erklang, als sie Atem holte. Die Brust und die Arme des Mannes, der sie hielt, bebten leicht, was ihre Demütigung besiegelte, denn das hieß, dass er gemerkt hatte, was mit ihr los war. Und schlimmer noch – da sie ein hellhäutiger, sommersprossiger Rotschopf war, wurde ihr Gesicht vom Weinen immer fleckig. Kelly war immerhin noch Frau genug, um keinesfalls fleckig und verquollen aussehen zu wollen, wenn sie in den Armen eines attraktiven Mannes lag, auch wenn dieser ihr eindeutig feindlich gesonnen und die ganze Situation alles andere als beruhigend war.
Ihr Wächter verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen, dann stöhnte er und murmelte etwas, was sie nicht verstand, aber sein Ton besagte deutlich, was er meinte – »na toll, jetzt heult sie auch noch« oder etwas Ähnliches. Der andere Mann erwiderte etwas, das klang wie »achte einfach nicht darauf« – und dann ertönte ein lautes Krachen.
Kelly riss die Augen auf und begann wie wild zu zappeln, um sich zu befreien und vor dem furchterregenden unerwarteten Geräusch zu flüchten. Der Mann, der sie festhielt, grunzte, fletschte sie Zähne, packte sie fester und presste sie erneut gegen seine Brust, nur diesmal in einem anderen Winkel, sodass ihr Blick auf seinen Freund fiel, der behutsam Glasscherben vom Boden aufhob. Zwischen den Scherben lagen grüne, trockene Blätter. Offenbar war ein Tiegel oder ein Krug zu Bruch gegangen. Die Bewegungen des am Boden kauernden Mannes wurden von einem großen, breiten Spiegel widergegeben, der ganz in der Nähe stand.
Der Hüne, der sie gepackt hielt, knurrte dem anderen etwas in einem »Beeil dich, oder ich lasse sie fallen«-Ton zu, woraufhin der andere geistesabwesend etwas murmelte, auf das sie sich keinen Reim machen konnte. Aber sie unternahm keinen Versuch mehr, sich loszureißen. Sie war körperlich, geistig und seelisch abgrundtief erschöpft; die Schikanen und Anfeindungen, die sie während der letzten Monate hatte ertragen müssen, hatten sie ausgelaugt, und die unbegreiflichen jüngsten Ereignisse waren endgültig zu viel gewesen. Sie brachte nicht mehr die Kraft auf, sich gegen ihren Widersacher ernsthaft zur Wehr zu setzen.
Wohin hätte sie auch flüchten können. Man gelangte nicht von einer Sekunde zur anderen von seinem Bett in einem lichterloh brennenden Haus in eine mittelalterliche Burgkammer, die sie an die Höhle eines Zauberers erinnerte. Nicht in einer nüchtern und rational denkenden Welt. Nicht in ihrerWelt jedenfalls. Wenigstens waren ihre Tränen versiegt, auch wenn sie ein gelegentliches leises Schniefen nicht unterdrücken konnte und ihr Gesicht nun zweifellos doch verquollen und fleckig war.
Aber warum mache ich mir Gedanken um mein Aussehen, wenn ich Gott weiß wo gelandet bin und diese Männer Gott weiß was mit mir vorhaben?
Der andere Mann hatte inzwischen die Unordnung beseitigt. Mit einer kleinen gläsernen Zange pickte er die wenigen Blätter auf, die nicht mit dem Boden in Berührung gekommen waren, und warf sie in einen großen Keramikbecher, in den er zuvor vor sich hinmurmelnd eine Reihe anderer seltsamer Ingredienzien hineingerieben hatte. Der Becher war jetzt bis zum Rand mit einer schlammfarbenen Flüssigkeit gefüllt, von der eine schillernde pilzförmige Rauchwolke aufstieg, als die Blätter darin versanken. Kelly starrte die Wolke mit großen Augen an. Einen solchen Trick hatte sie nie zuvor gesehen.
Der Mann trat von dem Tisch zurück, an dem er gearbeitet hatte, trug den Becher zu ihr hinüber, verlangsamte seine Schritte, schüttelte angewidert den Kopf, funkelte den größeren, etwas älteren Mann, der sie festhielt, finster an und ratterte dann eine Reihe von Anweisungen herunter, woraufhin der Größere Kelly in seinen Armen aufrichtete und sie in eine Position brachte, die ihr das Trinken erlaubte.
Während sie den Becher argwöhnisch beäugte, schossen Kelly Visionen von K.o.-Tropfen durch den Kopf, mit denen Vergewaltiger ihre Opfer außer Gefecht setzten. Als ihr der Becher an den Mund gehalten wurde, schüttelte sie nachdrücklich den Kopf und presste die Lippen fest zusammen. Der zweite Mann, der sein hellbraunes Haar im Nacken zu einem Knoten geschlungen trug – eine merkwürdige Frisur für einen Mann -, seufzte und raunte dem anderen mit dem helleren honiggoldenen Haar etwas zu.
Die beiden schienen einen Moment lang zu diskutieren, dann gestattete der Mann, der sie festhielt, dem Jüngeren – seinem Bruder oder zumindest seinem Cousin, wenn man die Ähnlichkeit zwischen ihnen berücksichtigte – ihm die Schale an die Lippen zu setzen. Kelly beobachtete ihn scharf, um sicherzugehen, dass er die Flüssigkeit wirklich trank und nicht nur so tat.
Ihr entging auch nicht, dass er das Gesicht verzog, als der Becher weggezogen wurde, ehe er ihn mehr als zur Hälfte leeren konnte. Der jüngere Mann stieß ihn gegen den Arm, woraufhin sein Bruder sich ein Lächeln abrang und »Mmh!« murmelte, wie um sie davon zu überzeugen, wie gut das Gebräu schmeckte.
»Das hast du dir so gedacht«, grollte sie leise. Der Ältere zuckte zusammen, legte den Kopf schief, blickte stirnrunzelnd auf sie hinunter und versetzte ihr dann den Schock ihres Lebens, indem er sie in perfekt verständlichem Englisch ansprach.
»Was hast du gesagt?«
Ihre Lider flogen auf, aquamarinfarbene Augen bohrten sich in umwölkte graue. »Sagen Sie mir lieber, was Siegesagt haben!«
Er gab keine Antwort. Stattdessen blickte er sich zu dem anderen Mann um, zuckte die Achseln und bemerkte sarkastisch: »Wenigstens wissen wir jetzt, dass es funktioniert hat. Danke, dass du mich nicht vergiftet hast. Zumindest diesmal noch nicht.«
Der Mann, der den Becher mit dem Trank in der Hand hielt, schüttelte lächelnd den Kopf und murmelte dann etwas, was seiner reumütigen Miene nach zu urteilen ungefähr bedeuten musste: »Ich habe kein Wort von dem verstanden, was du eben gesagt hast, schon vergessen?« Aber zumindest einer der beiden Männer im Raum wusste, was hier vor sich ging, und das genügte ihr. Sie bot den letzten Rest ihrer Energie auf, um genau dort einzuhaken.
»Was zum Teufel ist hier los? Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen? Wer um alles in der Welt sind Sie? Und lassen Sie mich gefälligst sofort los, Sie Grobian!« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen trat sie nach ihm, da er ihre Arme noch immer fest gegen ihre Seiten presste.
Die beiden Männer begannen sich wieder in dieser anderen, unverständlichen Sprache zu besprechen, dann blickte der, der sie festhielt, auf sie hinab. »Er sagt, du sollst den Becher austrinken – und wenn du mich noch ein einziges Mal beißt, reiße ich dir deinen verdammten Kopf ab!«
»Daran sind Sie selbst schuld, Sie hätten mich ja nicht anzugreifen brauchen«, gab sie scharf zurück, dabei wand sie sich heftig in seinem Griff, obwohl der Adrenalinstoß, den die Erkenntnis, endlich verstanden zu werden, durch ihren Körper gejagt hatte, abebbte und ihre Kräfte erneut nachließen. »Und ich trinke ganz bestimmt nichts, was ich nicht kenne.«
»Das ist ein Sprachenübersetzungstrank, du kleine Närrin!«, donnerte der hünenhafte Mann. Seine stahlgrauen Augen blitzten zornig auf. »Wie sonst könnte ich dich wohl in deiner Sprache als Närrin bezeichnen?«
Der andere Mann warf leise etwas ein, was Kelly noch immer nicht verstand. Es war ihr auch schleierhaft, wie der sämige, jetzt weiß verfärbte Trank irgendwelche Sprachen in andere übertragen sollte. Es musste sich doch um einen Trick handeln.
»Lassen Sie mich herunter!«
»Erst wenn du diesen Trank bis zum letzten Tropfen geschluckt hast, Frau!«, herrschte er sie an. Sein jüngerer Bruder oder Cousin oder was auch immer überschüttete ihn mit einem scharfen, ärgerlichen Wortschwall, bis der Hüne widerstrebend einlenkte: »Trink einfach, und dann kannst du ihn anschreien, so viel du willst. Er ist nämlich derjenige, der dich hergebracht hat.«
Kelly musterte erst ihn, dann den jüngeren Mann und dann den Tonbecher forschend. Dann kehrte ihr Blick zu dem Mann zurück, der sie festhielt. Vielleicht wollte man ihr ja gar keine Drogen verabreichen – auf ihn hatte das Zeug jedenfalls keinerlei Wirkung. Trotz ihrer Erschöpfung gewann ihr Sinn für Humor einen Moment lang die Oberhand.
Wenn er immer noch so mürrisch und ungehobelt ist, nachdem er dieses Gebräu getrunken hat, dann kann mir eigentlich gar nichts passieren. Misstrauisch würde es mich nur stimmen, wenn er auf einmal Süßholz raspeln würde. Also hat der Typ sich genau den Richtigen als Versuchskaninchen ausgesucht, um mich zu beruhigen.
Ihre Mundwinkel krümmten sich leicht, dann seufzte sie. »Na schön. Ich trinke dieses widerliche Zeug. Aber wenn ihr danach irgendetwas tut, was ich nicht will, beiße ich euch die Körperteile ab, die ihr am allerwenigsten verlieren wollt. Und das ist keine leere Drohung«, fügte sie hinzu, als ihr Wächter verwirrt die Stirn runzelte, zwinkerte und ihm endlich das Blut in die sonnengebräunten Wangen stieg, als er begriff, was sie meinte. »Das ist mein Ernst. Also lass mich lieber los, nachdem ich diese Brühe getrunken habe!«
Er überging ihre Drohung mit einem abfälligen Grunzen und nickte dem anderen Mann zu. Wieder wurde ihr der Becher an die Lippen gesetzt. Sie zögerte einen Moment lang und schnupperte vorsichtig an der seltsamen Flüssigkeit. Sie roch wie Löwenzahnmilch, verströmte jenes grünlich bittere Aroma, das sie an Rasen, Sommertage und den nie endenden Kampf ihrer Eltern gegen das unerwünschte Unkraut und Kinder denken ließ, die an den Stängeln nuckelten und die Samen in die Luft bliesen, um sich dabei etwas wünschen zu dürfen.
Als sie die Zungenspitze behutsam in den Becher senkte, erwachten all ihre Geschmacksnerven plötzlich zum Leben. Die Flüssigkeit schmeckte noch schlimmer als die bittere Löwenzahnmilch, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte; so, als habe jemand einen Esslöffel Pfeffersauce, eine ordentliche Dosis Zitronensaft und vielleicht noch einen Spritzer Geschirrspülmittel hinzugefügt. Weder von den Blättern noch von den anderen Ingredienzien, die der Mann in den zuvor schlammfarbenen Trank gerührt hatte, war noch etwas zu sehen. Der weiß glasierte Becher enthielt nur die dickflüssige, milchig weiße bittere Flüssigkeit, die sie soeben gekostet hatte.
Der Becher wurde leicht geneigt, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als den Inhalt hinunterzuschlucken. Sie leerte ihn hastig, dabei unterdrückte sie den Würgereiz, den der widerliche Geschmack in ihr auslöste. Als sich nur noch ein kleiner Rest in dem Becher befand, zog der jüngere Mann ihn weg, wartete, bis sie die letzten Tropfen hinuntergeschluckt hatte und eine angeekelte Grimasse schnitt, dann sprach er sie an.
»Verstehst du mich jetzt?«
Eine leichte Benommenheit ergriff von ihr Besitz. In ihren Ohren setzte ein Rauschen ein, ihre Zunge prickelte, dann war plötzlich alles wieder vorbei. »Wie bitte?«
»Ich habe dich gefragt, ob du mich jetzt verstehst?«, wiederholte der Jüngere.
An den Bewegungen seiner Lippen erkannte Kelly, dass er kein Englisch sprach. Das verstörte sie mehr als der Umstand, dass sie aus ihrer Version der Realität herausgerissen worden und in diese hier hineingeschleudert worden war – mehr noch, als in einem brennenden Haus aufzuwachen. »J … ja, ich …«
Der Mann, der sie festhielt, ließ sie fallen. Zwar achtete er darauf, dass ihre Füße den Boden berührten, ehe er ihren Oberkörper freigab, trotzdem hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren. »Gut«, brummte er, an seinen Bruder gerichtet. »Halt sie bloß von mir fern.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und stapfte davon.
Kelly drehte sich erklärungssuchend zu dem anderen um. »Wie kommt es, dass ich diese Sprache spreche … um welche auch immer es sich handeln mag?«
»Magie«, erwiderte der Mann mit dem Becher in der Hand mit einem flüchtigen Achselzucken. Wie es aussah, setzte er voraus, dass sie seine Antwort verstand oder zumindest widerspruchslos akzeptierte.
Ihr blieb keine andere Wahl, als ihm Glauben zu schenken. Keine andere Erklärung ergab einen Sinn. Sie hatte sich plötzlich an einem ihr völlig fremden Ort wiedergefunden, die beiden Männer konnten mit einem Mal ihre Sprache sprechen und dann sie die ihre … es war einfach zu viel, was da auf sie einstürmte, sie konnte es nicht ertragen. Nicht nach alldem, was sie schon durchgemacht hatte.
»Ich …« Weiter kam sie nicht, denn zum zweiten Mal innerhalb weniger als einer Stunde und zum zweiten Mal in ihrem Leben sank Kelly Doyle in eine tiefe Ohnmacht.
 
»Bei Jinga!«
Saber blieb ein paar Schritte hinter der Tür des Arbeitsraumes stehen, blickte sich um und tadelte seinen Bruder: »Achte auf deine Sprache! Ich will sie zwar nicht hier haben, aber sie ist und bleibt eine Frau!«
»Saber, könntest du bitte zurückkommen und sie noch einmal aufheben?«
Saber fuhr herum, stolzierte zur Tür zurück und beugte sich vor. »Nein«, wehrte er ab, doch dann sah er, warum sein Bruder diese Bitte an ihn gerichtet hatte. Die Frau lag erneut zusammengekrümmt auf dem Steinfußboden. Sein Bruder lehnte an seinem Arbeitstisch. Er wirkte verhärmt, und ein feiner Schweißfilm bedeckte sein Gesicht, wie Saber besorgt feststellte. »Was ist passiert?«
»Sie ist ohnmächtig geworden. Und ich fühle mich auch nicht besonders gut.«
Sabers Ärger verflog augenblicklich. Obwohl Morganen seine Nerven oft gewaltig strapazierte, war er schließlich sein Bruder. »Was ist denn?«
»Ach, nichts Besonderes … nur zwei kräftezehrende Zauber an einem Tag, falls es dir nicht aufgefallen ist. Es war nicht ganz einfach, sie aus diesem so weit entfernten Feuer zu retten.« Morganen rieb sich die Stirn, um die sich ankündigenden Kopfschmerzen zu vertreiben. »Und dann musste ich den Trank für den Vielsprachenzauber brauen … den schwierigsten Sprachzauber, den es gibt.«
Saber entging nicht, wie blass sein Bruder war, aber er wollte in diese Angelegenheit nicht noch tiefer hineingezogen werden, als er es ohnehin schon war. »Was willst du von mir?«, fragte er barscher als beabsichtigt. »Ich habe wenig Lust, den ganzen Tag hier herumzustehen.«
Morganen stellte den Becher neben sich auf seinen Arbeitstisch. Manchmal brachte sein ältester Bruder ihn fast zur Weißglut. »Heb sie einfach nur auf, trag sie in eine der leer stehenden Gästekammern und leg sie auf das Bett. Und dann sag jemandem, er soll ein Auge auf sie haben. Ich würde ja selbst auf sie achtgeben, aber ich fürchte, ich muss noch ein Weilchen hier sitzen bleiben. Und vergiss nicht, den anderen einzuschärfen, nichts mit ihr anzustellen … das liegt dir ja am meisten.«
Saber warf ihm einen finsteren Blick zu, ging aber zu der Frau hinüber und bückte sich, um sie aufzuheben. Ihre Wimpern flatterten, als er sie auf die Arme nahm, dann regte sie sich nicht mehr. Diesmal musste er sie nicht mit aller Kraft an sich drücken, sie war zu einem willenlosen Bündel erschlafft.
Einem Bündel aus Haut und Knochen, dachte er, als er zwei Treppen hochstieg, die Tür mittels eines Zauberspruchs öffnete und wieder hinter sich schloss und dann über die schützende äußere Mauer, die das Gelände des burgähnlichen Gebäudes umschloss, zu der Rampe hinüberschritt, die zu dem nächstgelegenen Flügel des Donjons, des Hauptturmes der Burg führte. Eines ohne Fleisch auf den Rippen. Halb verhungert.
Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, welche Umstände zu ihrem miserablen körperlichen Zustand geführt hatten. Sie hatte Feinde, hatte sein Bruder gesagt. Ihr Heim und ihr Geschäft waren von diesen Feinden in Brand gesteckt worden; absichtlich, während sie sich darin aufgehalten hatte, was auf einen nächtlichen Mordanschlag hindeutete. Unbewusst umfasste er sie etwas fester, während er den Flügel des Donjons entlangeilte, der sich mit einem Nachbarflügel zu einer Länge vereinte, je mehr er sich der Mitte der großen Halle näherte.
Wir mögen ja unser rechtmäßiges Heim und mit ihm das Recht verloren haben, uns als Söhne der Corvis-Blutslinie zu bezeichnen; wir mögen ja nach Nightfall verbannt worden sein … aber wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf. Und unseren Lebensunterhalt bestreiten wir durch Fischen, Jagen, Geflügelzucht und Gemüseanbau, und zusätzlich können wir den einen oder anderen magischen Gegenstand gegen Waren eintauschen, die diejenigen, die uns in dieses Exil geschickt haben, vom Festland mitbringen. All das unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem, was wir früher getan haben … auf unserem Landsitz Gemüse und Getreide anzubauen, Viehzucht zu betreiben und ebenfalls Gegenstände mit magischen Kräften zu verkaufen. Also geht es uns gar nicht einmal so viel schlechter als damals …
Nein, ich werde kein Mitleid oder sonst etwas für diese Frau empfinden, schwor er sich. Immerhin war er der älteste Sohn, und die alte Prophezeiung warnte ihn eindringlich davor, mit einer keuschen Frau sein Lager zu teilen. Einer Angehörigen des anderen Geschlechts irgendwelche Gefühle entgegenzubringen konnte schon das ungenannte Unheil heraufbeschwören, das den gesamten Kontinent Katan treffen sollte.
Saber trug seine Last durch den östlichen Gang des kreuzförmigen äußeren Flügels des Donjons, gelangte in die große achteckige Halle in der Mitte des alten Turms und bog nach rechts ab. Einige Stockwerke unter ihm erklang Evanors seidenweicher Tenor; er sang irgendeine süße Melodie, klarer und reiner als die Sonnenstrahlen, die durch die in die Ecken des Hauptgebäudes eingelassenen Buntglasfenster fielen.
Er ging die obere Galerie entlang, betrat den Nordflügel und erklomm die nächstgelegene Treppe. Es gab nur eine Kammer in der ganzen Burg, die weit genug von den Unterkünften aller acht Brüder entfernt lag, denn die hatten sich auf der Suche nach den ihren Bedürfnissen entsprechenden Schlafräumen im gesamten Bergfried und den Türmen auf der Außenmauer ausgebreitet. Auf diese Kammer steuerte er nun zu. Sie hatten sie das »Gemach des Lords« getauft, als sie die Burg nach ihrer Verbannung einer genauen Inspektion unterzogen hatten. Der Raum lag genau über der gewölbten Decke der großen Halle, weitab von den normalen Wegen, auf denen die Brüder durch die Flügel des größtenteils verlassenen Palastes streiften. In dieser Abgeschiedenheit würde die Frau wohl kaum auf dumme Gedanken kommen.
Sie wog wirklich viel zu wenig für ihre Größe, sie musste mindestens zwanzig, besser noch dreißig Pfund zulegen, um gut auszusehen. Saber versuchte, nicht weiter über ihr Äußeres nachzudenken, nachdem er es bewusst zur Kenntnis genommen hatte, aber das war so, als würde man ihn anweisen, nicht an rosafarbene Bären zu denken – dann zogen natürlich unweigerlich Bilder von rosigen Pelztieren vor seinem geistigen Auge vorbei.
Im nächsten Stockwerk angelangt stieg er die Stufen hoch, die der Wölbung der Hallendecke folgten, trat auf die Tür zu, legte eine Fingerspitze leicht auf die Klinke und schob die Tür mit der Schulter auf. Sie ließ sich nur einen Spalt breit öffnen, obwohl sie nicht verschlossen war. Mittels einer recht ungeschickten Geste, da die Frau in seinen Armen seine Bewegungsfreiheit einschränkte, und dem Einsatz magischer Kräfte gelang es ihm, das verwitterte, an den Rändern verzogene Holz aufzudrücken.
In der Kammer hingen dichte Spinnwebenschleier von der Decke herab, denn sie hatten den Raum nicht benutzt, seit sie nach ihrer Ankunft auf Nightfall einen flüchtigen Blick hineingeworfen hatten, und davor hatte der Bergfried zwanzig oder dreißig Jahre lang verlassen dagelegen. Außer dorthin verbannten königlichen oder adeligen Familien lebte niemand mehr auf der Insel.
Natürlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Burg zu säubern, bevor die Brüder gefesselt, in ein Boot gestoßen, über die Innere See gebracht und mitsamt ihren Habseligkeiten am westlichen Ufer ausgeladen worden waren. Und nach ihrer Ankunft war es ihnen zu umständlich gewesen, andere Räume als die, die sie bewohnten, einer gründlichen Reinigung zu unterziehen, schon gar nicht diese hoch oben im Turm gelegene abgeschiedene Kammer. Auch die Decken auf dem breiten Bett starrten vor Schmutz und Staub.
Auf keinen Fall durfte er die Frau darauf niederlegen. Der Staub würde ihre angegriffenen Lungen reizen, auch wenn Koranen sein Bestes getan hatte, den Schaden zu beheben, den der eingeatmete giftige Rauch und die Hitze des Feuers angerichtet hatten. Saber blieb vor der Sitztruhe am Fuß des mächtigen Himmelbetts stehen, balancierte den schlaffen Körper der Frau auf seinem Arm und einem angewinkelten Knie und konzentrierte sich.
Dank einer langsamen Drehung einer Hand und ein paar gemurmelter Wort zeigte ein Zauber Wirkung, den er und seine Brüder zugegebenermaßen öfter anwenden sollten, und der Staub und die Spinnweben stoben von dem Bettzeug auf. Die seit Jahren nicht mehr ausgeklopfte Matratze, die Kissen und Decken blähten sich auf, weitere Staubwolken stiegen in die Luft und ballten sich zu einer dichten graubraunen Wand zusammen.
Saber verfügte über beachtliche magische Fähigkeiten – er übertraf genau genommen die meisten Bewohner von Katan -, doch seine Begabung war mehr auf das Gebiet von Kriegs-, Angriffs- und Verteidigungszauber ausgerichtet als auf die Haushaltsführung. Allerdings hatte seine Mutter all ihre Söhne in dieser ihnen zutiefst verhassten Kunst unterwiesen, sobald sich deren Macht zu entfalten begann. Es war ihre Art gewesen, ihre aufsässigen Sprösslinge zu bändigen.
Er musste all seine Konzentration aufbieten, um das nächstgelegene Fenster auf dieser Seite des Raums zu öffnen und die Staubwolke entweichen zu lassen, ohne dass ihm die Frau dabei entglitt. Dann verhängte er noch einen Zauber, der Nager, Insekten und Spinnen vertrieb, weil ihm einfiel, wie zimperlich Frauen in solchen Dingen waren – vor allem seine Mutter Annia, erinnerte er sich, die vor neun Jahren gestorben war. Damals war ihr jüngstes Zwillingspaar erst vierzehn und Saber und sein Zwilling zwanzig Jahre alt gewesen. Der Ungezieferstrom, der sich quiekend, summend und brummend durch das Fenster nach draußen ergoss, jagte sogar ihm einen Schauer über den Rücken, obgleich diese Tiere wenigstens nicht gefährlich waren. Im Lauf der vergangenen drei Jahre hatten sie mit zahlreichen anderen, weitaus unerfreulicheren Plagen zu kämpfen gehabt.
Die Frau in seinen Armen seufzte, murmelte etwas, was er trotz des Sprachzaubers nicht verstand, und schmiegte sich an seine Brust, voller Vertrauen. Saber erstarrte. Wie lange war es her, seit sich eine Frau so vertrauensvoll an ihn gekuschelt hatte? Mehr als drei Jahre, so viel stand fest. Seit Morganens und Koranens Geburt – Saber war damals sechs Jahre alt – waren bereits erste böse Gerüchte über die acht Brüder in Umlauf gebracht worden.
Als er ein junger Mann gewesen war, hatten zwei Mägde ihn in die Freuden der Liebe eingeweiht, und eine junge Frau aus einer mit seinen Eltern befreundeten Familie hatte ihn als künftigen Gatten in Betracht gezogen. Doch etwa zu derselben Zeit war das jüngste Zwillingspaar in die Pubertät gekommen, und Koranen hatte sich mit einem Mal von allem, was mit Feuer zusammenhing, magisch angezogen gefühlt. Bald darauf hatten die Gerüchte über die Brüder in der gesamten Umgebung zugenommen, und die Frauen zogen sich von allen acht Geschwistern zurück, nicht nur von Saber. Und als Morganens magische Kräfte wenig später offen zu Tage traten, sahen sich die Katanier aufgrund des alten »Liedes der Seherin«, das seine Familie verfluchte, in ihrer Furcht vor den vier Zwillingspaaren bestätigt.
Die sich an ihn schmiegende Frau rief Saber zwei Dinge unangenehm ins Gedächtnis: wie lange es her war, dass er eine Frau so in den Armen gehalten hatte, und wie gefährlich es war, sie näher an sich heranzulassen.
Trotzdem ließ er sie nicht einfach auf das Bett fallen, als habe er sich an ihr verbrannt. Stattdessen sorgte er mithilfe eines weiteren Zaubers dafür, dass das Bettzeug weder feucht noch schimmelig war, obwohl es nicht so aussah, als habe es in den vergangenen drei Jahren durch das Dach hindurchgeregnet. In den Ecken der Kammer hingen immer noch Spinnweben und Staubflocken, aber das Bett roch jetzt frisch und sauber.
Saber ließ den zierlichen Körper aus seinen Armen behutsam auf die Matratze gleiten, und da es ein warmer Sommertag war, nahm er nur eine leichte Decke, um die junge Frau zuzudecken. Dann zauberte er mit einem Fingerschnippen ein Buch aus seinem Studierzimmer im nordöstlichen Turm herbei und schlug es auf. Es ist wohl gescheiter, keinen meiner Brüder damit zu beauftragen, auf diese Frau aufzupassen. Sie könnten eine verhängnisvolle Dummheit begehen … sich in sie verlieben zum Beispiel …
Da er sich der Last der Prophezeiung, die er zu tragen hatte, stets bewusst war – tatsächlich war er der Einzige, über dem ein explizit in Worte gefasster Fluch hing, obwohl die anderen Strophen auch nicht gerade verheißungsvoll klangen -, würde er sich ganz bestimmt nicht zu einer solchen Dummheit hinreißen lassen.