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Sie war erschöpft, ihr
ganzer Körper schmerzte, und sie wurde unerträglich eng gegen die
Brust dieses hünenhaften Fremden gepresst. In den Armen eines
Verrückten, dem Haus eines Verrückten und einer verrückt gewordenen
Welt gefangen gab Kelly Doyle schließlich ihren Widerstand auf.
Keiner der beiden Männer schien Englisch zu sprechen, und sie
konnte sich nicht mehr auf ihr Schulfranzösisch besinnen und somit
auch nicht versuchen, sich in dieser Sprache mit ihnen zu
verständigen. Allerdings klang es auch nicht so, als würden die
beiden Französisch sprechen. Oder Spanisch oder Deutsch oder sonst
irgendeine Sprache, die sie hätte erkennen können. Also blieb ihr
nichts anderes übrig, als in den Armen dieses gut aussehenden,
muskulösen Fremden stillzuhalten und mit aller Macht die Tränen
zurückzudrängen.
Es fiel ihr unendlich schwer. Manche Menschen
hatten schlechte Tage, sie hatte ein ganzes schlechtes Jahrzehnt.
Erst waren ihre Eltern vor drei Jahren bei einem von einem
betrunkenen Fahrer verursachten Autounfall umgekommen und hatten
sie fast mittellos zurückgelassen. Dann war ihr ein
verheißungsvoller Job angeboten worden, um dessentwillen sie aus
ihrer Heimat fortziehen und ihre restliche Familie und ihre Freunde
zurücklassen musste. Und dann hatte ihre neue Firma vor eineinhalb
Jahren bankrott gemacht, und alle Angestellten waren entlassen
worden.
So hatte sie sich darauf verlegt, ihre Hobbys zu
ihrem Beruf zu machen. Sie konnte nähen, sticken und Spitze
klöppeln und fertigte Kissenbezüge, Wandbehänge, Quilts,
Flickenpuppen und Kleider an – in allen Stilrichtungen vom Modernen
bis hin zur Mode des Mittelalters. Das Clubhaus der Freunde des
Mittelalters war der einzige Ort in ihrer neuen Umgebung und ihrem
neuen Leben, wo sie dank gemeinsamer Interessen rasch Freunde fand,
obwohl die einheimischen Mitglieder anfangs völlig Fremde für sie
waren. Hope, inzwischen ihre beste Freundin, hatte sie im Kreis der
Anhänger der Erhaltung alter Sitten und Bräuche sofort herzlich
willkommen geheißen.
Doch ihre Mitgliedschaft in dem Verein der
»Freunde des Mittelalters« hatte sie in der winzigen Stadt im
Mittelwesten rasch in Verruf gebracht. Man unterstellte ihr,
heidnische Rituale zu vollziehen, und bezichtigte sie der Hexerei
und aller möglicher anderer gotteslästerlicher Aktivitäten, obwohl
sich ihre Gruppe lediglich historischen Studien verschrieben
hatte.
Hasserfüllte anonyme Botschaften wurden auf Kellys
Mailbox hinterlassen, Zettel mit unmissverständlichen Drohungen an
ihre Tür geklebt. Die sich wie ein Lauffeuer verbreitenden Gerüchte
bewirkten, dass ihre einheimische Kundschaft ausblieb und sie auf
die wenigen Touristen angewiesen war. Und eines Abends hatte sie
ein Mann unsanft gegen eine Wand gestoßen, als sie auf dem Heimweg
vom Kino gewesen war. Sie hatte den Angreifer in die Flucht
geschlagen und war einmal mehr froh darüber gewesen, dass ihre
Eltern sie in ihrer Jugend einen Kung-Fu-Kurs hatten absolvieren
lassen. Der maskierte Mann hatte hastig das Weite gesucht.
Als sie den Vorfall allerdings bei der Polizei
anzeigte, erhielt sie zur Antwort, sie habe den Angreifer wohl
absichtlich provoziert. Die Beamten, die bezüglich ihrer Person
dieselben Vorurteile hegten wie der Rest der Stadt, ignorierten die
wachsenden Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war, und verweigerten
ihr mit der Begründung, sich um »schwerwiegendere« Verbrechen
kümmern zu müssen, jegliche Hilfe – und das in einer Stadt, wo es
zu keinen schlimmeren Zwischenfällen kam als zu Schlägereien unter
Betrunkenen oder einem gelegentlichen Ladendiebstahl.
Eine Weile hatte Kelly gehofft, die Schikanen
würden aufhören, nachdem sie die Polizei eingeschaltet hatte. Doch
schon bald waren neue Hassbotschaften eingetroffen, zusammen mit
fotokopierten Seiten alter Bücher, die das Schicksal von Frauen
behandelten, die, der Hexerei beschuldigt, in England und den
Kolonien gehenkt und in Schottland und Frankreich verbrannt worden
waren.
Eines Morgens war sie aus dem Haus gekommen, um
die zu einem kleinen Laden umgebauteVeranda mit dem
dahinterliegenden Wohn- und Esszimmerbereich zu fegen, und hatte
dort eine von der Verandadecke herabbaumelnde Henkerschlinge
vorgefunden. Daran war eine Nachricht befestigt, die in aus
Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben die »Hexe« aufforderte,
unverzüglich die Stadt zu verlassen, sonst … Vor Wut schäumend
hatte sie die Nachricht zur Polizei gebracht, wo man nur einen
flüchtigen Blick darauf geworfen und sie darauf hingewiesen hatte,
dass weder ihr Name explizit erwähnt noch näher darauf eingegangen
wurde, was unter »sonst« zu verstehen war.
Die Antwort auf diese Frage erhielt sie eine Woche
später, als sie von sengenden Schmerzen geweckt in ihrem Bett
hochschreckte und sah, dass das Haus ringsherum in Flammen stand.
Während sich ihre Lungen mit Rauch füllten, der Schmerz
unerträglich wurde, sich auf ihrer Haut Brandblasen bildeten und
die immer höher schlagenden Flammen ihr jeden Ausweg aus dem
Inferno versperrten, war die Welt plötzlich irgendwie aus den Fugen
geraten, hatte sich um sie gedreht … und dann war sie wieder zu
sich gekommen und hatte sich hierwiedergefunden. Sie musste ohnmächtig geworden
sein, denn Kelly erinnerte sich daran, dass sie vor Schmerz,
Schreck und Angst laut geschrien hatte, bis sie in ein tiefes
schwarzes Loch gefallen war und eine barmherzige Zeit lang
überhaupt nichts mehr gespürt hatte.
Irgendetwas, was über ihren Verstand hinausging,
musste während ihrer Bewusstlosigkeit geschehen sein. Ihre Kleider
waren noch immer versengt, ihre Haut dagegen nicht mehr mit Blasen
und Brandwunden übersät, sondern nur noch leicht gerötet. Jetzt
befand sie sich in einem Gebäude, bei dem es sich scheinbar um eine
Burg handelte, und in den Armen eines Mannes, der Kniehosen und
eine ärmellose Tunika trug und sich mit einem ähnlich gekleideten
Mann stritt, und das alles in einem Raum, der von glühenden weißen
Bällen in eisernen Haltern erleuchtet wurde. Nur sah sie keine
Kabel, die den Strom für das durchscheinende weiße Licht lieferten
…
Vielleicht wurden die Kugeln von Batterien
gespeist, oder die Stromkabel verliefen durch den Boden direkt in
die Füße der eisernen Ständer. Aber die Tür im oberen Stock war
geöffnet und geschlossen worden, ohne dass der Mann die Klinke
berührt hatte, und irgendeine Feder oder gar eine Fernbedienung
hatte sie nicht gesehen. Daswar wirklich
gespenstisch. Besser, sie dachte nicht genauer darüber nach.
Kelly biss sich auf die Unterlippe, um ein
Schluchzen zu unterdrücken. Sie mochte ja am ganzen Körper
Prellungen haben und im spöttischen Zerrbild einer Umarmung gegen
die Brust eines unverständliche Worte brummenden und ausgesprochen
unfreundlichen Fremden gedrückt werden, aber sie würde eher in der
Hölle schmoren, als … falsche Analogie, mahnte sie sich, als ihre
Augen erneut zu brennen begannen. Wenn sie nicht vollkommen
verrückt geworden war, hatte sie noch vor kurzem in einer echten
Hölle auf Erden geschmort. Buchstäblich. Und dabei alles verloren,
was sie besaß – das Haus, für das sie sich bis über beide Ohren
verschuldet hatte, und ihren kleinen Laden, den sie seit einem Jahr
mühsam vor der Schließung zu bewahren suchte, obwohl er in ihrer
ihr nur allzu feindlich gesonnenen Welt kaum genug abwarf, um die
anfallenden Rechnungen zu bezahlen und sie zu ernähren.
Wenigstens brüllte der Mann, der sie festhielt,
sie und den anderen Mann nicht mehr an, und er schlug sie auch
nicht mehr. Er tat nichts anderes, als sie an sich zu drücken. Sie
konnte nur hoffen, dass dieser plötzliche Mangel an Aufmerksamkeit
nicht daher rührte, dass er und sein Kumpan darüber nachdachten,
was sie ihr noch Schlimmeres antun konnten als das, was ihr bislang
widerfahren war. Sie vergewaltigen zum Beispiel. Kelly verfügte
nicht mehr über genug Kraft, um sich gleich gegen zwei Widersacher
zur Wehr zu setzen. Sie hatte zum Frühstück nur eine Kartoffel und
einen billigen Müsliriegel gegessen, und Lunch undAbendessen konnte sie sich nicht jeden Tag
leisten.
Sie war ein jämmerliches, in einen zerrissenen
Pyjama gehülltes Häufchen Elend …
O nein, versink jetzt bloß
nicht in Selbstmitleid, mahnte sie sich, als sich ein feuchter
Schleier vor ihre Augen legte. Sie kniff sie rasch zusammen,
quetschte dadurch aber eine Träne heraus. Und dann noch eine. Eine
war ja schon schlimm genug, aber zwei bedeuteten, dass sie weinte.
Ein Eindruck, den sie um jeden Preis vermeiden wollte.
Mit fest geschlossenen Augen betete Kelly
inbrünstig, dass der Mann, der sie hielt, die Tränen nicht bemerkte
und ihm auch nicht auffiel, dass ihr bereits unregelmäßiger Atem in
ein Schluchzen umschlug, was sie endgültig verraten würde. Kelly
hatte zum letzten Mal beim Tod ihrer Eltern geweint, beim Verlust
ihres Bürojobs jedoch keine Miene verzogen, obgleich sie auch da
den Tränen nah gewesen war. Eine neue Anstellung ließ sich immer
finden. Und wenn nicht, gab es andere Lösungen.
Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen, als die
Schikanen begannen, weil es ihren Peinigern eine tiefe Genugtuung
bereitet hätte, sie unter den gehässigen anonymen Angriffen
zusammenbrechen zu sehen. Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen,
als sie bei der Polizei barsch abgefertigt wurde, und sie hatte
große Mühe gehabt, nicht zu weinen, als sie die Henkerschlinge an
ihrer Verandadecke gefunden hatte. All diese Dinge waren es nicht
wert, deswegen auch nur eine einzige Träne zu vergießen, hatte sie
sich wieder und wieder gemahnt.
Doch jetzt brach ihre Selbstbeherrschung zusammen.
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie biss sich erneut auf
die Lippen, dann presste sie sie fest zusammen. Ein Schnieflaut
erklang, als sie Atem holte. Die Brust und die Arme des Mannes, der
sie hielt, bebten leicht, was ihre Demütigung besiegelte, denn das
hieß, dass er gemerkt hatte, was mit ihr los war. Und schlimmer
noch – da sie ein hellhäutiger, sommersprossiger Rotschopf war,
wurde ihr Gesicht vom Weinen immer fleckig. Kelly war immerhin noch
Frau genug, um keinesfalls fleckig und verquollen aussehen zu
wollen, wenn sie in den Armen eines attraktiven Mannes lag, auch
wenn dieser ihr eindeutig feindlich gesonnen und die ganze
Situation alles andere als beruhigend war.
Ihr Wächter verlagerte ihr Gewicht in seinen
Armen, dann stöhnte er und murmelte etwas, was sie nicht verstand,
aber sein Ton besagte deutlich, was er meinte – »na toll, jetzt
heult sie auch noch« oder etwas Ähnliches. Der andere Mann
erwiderte etwas, das klang wie »achte einfach nicht darauf« – und
dann ertönte ein lautes Krachen.
Kelly riss die Augen auf und begann wie wild zu
zappeln, um sich zu befreien und vor dem furchterregenden
unerwarteten Geräusch zu flüchten. Der Mann, der sie festhielt,
grunzte, fletschte sie Zähne, packte sie fester und presste sie
erneut gegen seine Brust, nur diesmal in einem anderen Winkel,
sodass ihr Blick auf seinen Freund fiel, der behutsam Glasscherben
vom Boden aufhob. Zwischen den Scherben lagen grüne, trockene
Blätter. Offenbar war ein Tiegel oder ein Krug zu Bruch gegangen.
Die Bewegungen des am Boden kauernden Mannes wurden von einem
großen, breiten Spiegel widergegeben, der ganz in der Nähe
stand.
Der Hüne, der sie gepackt hielt, knurrte dem
anderen etwas in einem »Beeil dich, oder ich lasse sie fallen«-Ton
zu, woraufhin der andere geistesabwesend etwas murmelte, auf das
sie sich keinen Reim machen konnte. Aber sie unternahm keinen
Versuch mehr, sich loszureißen. Sie war körperlich, geistig und
seelisch abgrundtief erschöpft; die Schikanen und Anfeindungen, die
sie während der letzten Monate hatte ertragen müssen, hatten sie
ausgelaugt, und die unbegreiflichen jüngsten Ereignisse waren
endgültig zu viel gewesen. Sie brachte nicht mehr die Kraft auf,
sich gegen ihren Widersacher ernsthaft zur Wehr zu setzen.
Wohin hätte sie auch flüchten können. Man gelangte
nicht von einer Sekunde zur anderen von seinem Bett in einem
lichterloh brennenden Haus in eine mittelalterliche Burgkammer, die
sie an die Höhle eines Zauberers erinnerte. Nicht in einer nüchtern
und rational denkenden Welt. Nicht in ihrerWelt jedenfalls. Wenigstens waren ihre Tränen
versiegt, auch wenn sie ein gelegentliches leises Schniefen nicht
unterdrücken konnte und ihr Gesicht nun zweifellos doch verquollen
und fleckig war.
Aber warum mache ich mir
Gedanken um mein Aussehen, wenn ich Gott weiß wo gelandet bin und
diese Männer Gott weiß was mit mir vorhaben?
Der andere Mann hatte inzwischen die Unordnung
beseitigt. Mit einer kleinen gläsernen Zange pickte er die wenigen
Blätter auf, die nicht mit dem Boden in Berührung gekommen waren,
und warf sie in einen großen Keramikbecher, in den er zuvor vor
sich hinmurmelnd eine Reihe anderer seltsamer Ingredienzien
hineingerieben hatte. Der Becher war jetzt bis zum Rand mit einer
schlammfarbenen Flüssigkeit gefüllt, von der eine schillernde
pilzförmige Rauchwolke aufstieg, als die Blätter darin versanken.
Kelly starrte die Wolke mit großen Augen an. Einen solchen Trick
hatte sie nie zuvor gesehen.
Der Mann trat von dem Tisch zurück, an dem er
gearbeitet hatte, trug den Becher zu ihr hinüber, verlangsamte
seine Schritte, schüttelte angewidert den Kopf, funkelte den
größeren, etwas älteren Mann, der sie festhielt, finster an und
ratterte dann eine Reihe von Anweisungen herunter, woraufhin der
Größere Kelly in seinen Armen aufrichtete und sie in eine Position
brachte, die ihr das Trinken erlaubte.
Während sie den Becher argwöhnisch beäugte,
schossen Kelly Visionen von K.o.-Tropfen durch den Kopf, mit denen
Vergewaltiger ihre Opfer außer Gefecht setzten. Als ihr der Becher
an den Mund gehalten wurde, schüttelte sie nachdrücklich den Kopf
und presste die Lippen fest zusammen. Der zweite Mann, der sein
hellbraunes Haar im Nacken zu einem Knoten geschlungen trug – eine
merkwürdige Frisur für einen Mann -, seufzte und raunte dem anderen
mit dem helleren honiggoldenen Haar etwas zu.
Die beiden schienen einen Moment lang zu
diskutieren, dann gestattete der Mann, der sie festhielt, dem
Jüngeren – seinem Bruder oder zumindest seinem Cousin, wenn man die
Ähnlichkeit zwischen ihnen berücksichtigte – ihm die Schale an die
Lippen zu setzen. Kelly beobachtete ihn scharf, um sicherzugehen,
dass er die Flüssigkeit wirklich trank und nicht nur so tat.
Ihr entging auch nicht, dass er das Gesicht
verzog, als der Becher weggezogen wurde, ehe er ihn mehr als zur
Hälfte leeren konnte. Der jüngere Mann stieß ihn gegen den Arm,
woraufhin sein Bruder sich ein Lächeln abrang und »Mmh!« murmelte,
wie um sie davon zu überzeugen, wie gut das Gebräu schmeckte.
»Das hast du dir so gedacht«, grollte sie leise.
Der Ältere zuckte zusammen, legte den Kopf schief, blickte
stirnrunzelnd auf sie hinunter und versetzte ihr dann den Schock
ihres Lebens, indem er sie in perfekt verständlichem Englisch
ansprach.
»Was hast du gesagt?«
Ihre Lider flogen auf, aquamarinfarbene Augen
bohrten sich in umwölkte graue. »Sagen Sie mir lieber, was
Siegesagt haben!«
Er gab keine Antwort. Stattdessen blickte er sich
zu dem anderen Mann um, zuckte die Achseln und bemerkte
sarkastisch: »Wenigstens wissen wir jetzt, dass es funktioniert
hat. Danke, dass du mich nicht vergiftet hast. Zumindest diesmal
noch nicht.«
Der Mann, der den Becher mit dem Trank in der Hand
hielt, schüttelte lächelnd den Kopf und murmelte dann etwas, was
seiner reumütigen Miene nach zu urteilen ungefähr bedeuten musste:
»Ich habe kein Wort von dem verstanden, was du eben gesagt hast,
schon vergessen?« Aber zumindest einer der beiden Männer im Raum
wusste, was hier vor sich ging, und das genügte ihr. Sie bot den
letzten Rest ihrer Energie auf, um genau dort einzuhaken.
»Was zum Teufel ist hier los? Wo bin ich? Wie bin
ich hierher gekommen? Wer um alles in der Welt sind Sie? Und lassen
Sie mich gefälligst sofort los, Sie Grobian!« Um ihren Worten
Nachdruck zu verleihen trat sie nach ihm, da er ihre Arme noch
immer fest gegen ihre Seiten presste.
Die beiden Männer begannen sich wieder in dieser
anderen, unverständlichen Sprache zu besprechen, dann blickte der,
der sie festhielt, auf sie hinab. »Er sagt, du sollst den Becher
austrinken – und wenn du mich noch ein einziges Mal beißt, reiße
ich dir deinen verdammten Kopf ab!«
»Daran sind Sie selbst schuld, Sie hätten mich ja
nicht anzugreifen brauchen«, gab sie scharf zurück, dabei wand sie
sich heftig in seinem Griff, obwohl der Adrenalinstoß, den die
Erkenntnis, endlich verstanden zu werden, durch ihren Körper gejagt
hatte, abebbte und ihre Kräfte erneut nachließen. »Und ich trinke
ganz bestimmt nichts, was ich nicht kenne.«
»Das ist ein Sprachenübersetzungstrank, du kleine
Närrin!«, donnerte der hünenhafte Mann. Seine stahlgrauen Augen
blitzten zornig auf. »Wie sonst könnte ich dich wohl in deiner
Sprache als Närrin bezeichnen?«
Der andere Mann warf leise etwas ein, was Kelly
noch immer nicht verstand. Es war ihr auch schleierhaft, wie der
sämige, jetzt weiß verfärbte Trank irgendwelche Sprachen in andere
übertragen sollte. Es musste sich doch um einen Trick
handeln.
»Lassen Sie mich herunter!«
»Erst wenn du diesen Trank bis zum letzten Tropfen
geschluckt hast, Frau!«, herrschte er sie an. Sein jüngerer Bruder
oder Cousin oder was auch immer überschüttete ihn mit einem
scharfen, ärgerlichen Wortschwall, bis der Hüne widerstrebend
einlenkte: »Trink einfach, und dann kannst du ihn anschreien, so viel du willst. Er ist nämlich
derjenige, der dich hergebracht hat.«
Kelly musterte erst ihn, dann den jüngeren Mann
und dann den Tonbecher forschend. Dann kehrte ihr Blick zu dem Mann
zurück, der sie festhielt. Vielleicht wollte man ihr ja gar keine
Drogen verabreichen – auf ihn hatte das Zeug jedenfalls keinerlei
Wirkung. Trotz ihrer Erschöpfung gewann ihr Sinn für Humor einen
Moment lang die Oberhand.
Wenn er immer noch so mürrisch
und ungehobelt ist, nachdem er dieses Gebräu getrunken hat, dann
kann mir eigentlich gar nichts passieren. Misstrauisch würde es
mich nur stimmen, wenn er auf einmal Süßholz raspeln würde. Also
hat der Typ sich genau den Richtigen als Versuchskaninchen
ausgesucht, um mich zu beruhigen.
Ihre Mundwinkel krümmten sich leicht, dann seufzte
sie. »Na schön. Ich trinke dieses widerliche Zeug. Aber wenn ihr
danach irgendetwas tut, was ich nicht will, beiße ich euch die
Körperteile ab, die ihr am allerwenigsten verlieren wollt. Und das
ist keine leere Drohung«, fügte sie hinzu, als ihr Wächter verwirrt
die Stirn runzelte, zwinkerte und ihm endlich das Blut in die
sonnengebräunten Wangen stieg, als er begriff, was sie meinte. »Das
ist mein Ernst. Also lass mich lieber los, nachdem ich diese Brühe
getrunken habe!«
Er überging ihre Drohung mit einem abfälligen
Grunzen und nickte dem anderen Mann zu. Wieder wurde ihr der Becher
an die Lippen gesetzt. Sie zögerte einen Moment lang und
schnupperte vorsichtig an der seltsamen Flüssigkeit. Sie roch wie
Löwenzahnmilch, verströmte jenes grünlich bittere Aroma, das sie an
Rasen, Sommertage und den nie endenden Kampf ihrer Eltern gegen das
unerwünschte Unkraut und Kinder denken ließ, die an den Stängeln
nuckelten und die Samen in die Luft bliesen, um sich dabei etwas
wünschen zu dürfen.
Als sie die Zungenspitze behutsam in den Becher
senkte, erwachten all ihre Geschmacksnerven plötzlich zum Leben.
Die Flüssigkeit schmeckte noch schlimmer als die bittere
Löwenzahnmilch, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte; so,
als habe jemand einen Esslöffel Pfeffersauce, eine ordentliche
Dosis Zitronensaft und vielleicht noch einen Spritzer
Geschirrspülmittel hinzugefügt. Weder von den Blättern noch von den
anderen Ingredienzien, die der Mann in den zuvor schlammfarbenen
Trank gerührt hatte, war noch etwas zu sehen. Der weiß glasierte
Becher enthielt nur die dickflüssige, milchig weiße bittere
Flüssigkeit, die sie soeben gekostet hatte.
Der Becher wurde leicht geneigt, sodass ihr nichts
anderes übrig blieb, als den Inhalt hinunterzuschlucken. Sie leerte
ihn hastig, dabei unterdrückte sie den Würgereiz, den der
widerliche Geschmack in ihr auslöste. Als sich nur noch ein kleiner
Rest in dem Becher befand, zog der jüngere Mann ihn weg, wartete,
bis sie die letzten Tropfen hinuntergeschluckt hatte und eine
angeekelte Grimasse schnitt, dann sprach er sie an.
»Verstehst du mich jetzt?«
Eine leichte Benommenheit ergriff von ihr Besitz.
In ihren Ohren setzte ein Rauschen ein, ihre Zunge prickelte, dann
war plötzlich alles wieder vorbei. »Wie bitte?«
»Ich habe dich gefragt, ob du mich jetzt
verstehst?«, wiederholte der Jüngere.
An den Bewegungen seiner Lippen erkannte Kelly,
dass er kein Englisch sprach. Das verstörte sie mehr als der
Umstand, dass sie aus ihrer Version der Realität herausgerissen
worden und in diese hier hineingeschleudert worden war – mehr noch,
als in einem brennenden Haus aufzuwachen. »J … ja, ich …«
Der Mann, der sie festhielt, ließ sie fallen. Zwar
achtete er darauf, dass ihre Füße den Boden berührten, ehe er ihren
Oberkörper freigab, trotzdem hätte sie beinahe das Gleichgewicht
verloren. »Gut«, brummte er, an seinen Bruder gerichtet. »Halt sie
bloß von mir fern.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und
stapfte davon.
Kelly drehte sich erklärungssuchend zu dem anderen
um. »Wie kommt es, dass ich diese Sprache spreche … um welche auch
immer es sich handeln mag?«
»Magie«, erwiderte der Mann mit dem Becher in der
Hand mit einem flüchtigen Achselzucken. Wie es aussah, setzte er
voraus, dass sie seine Antwort verstand oder zumindest
widerspruchslos akzeptierte.
Ihr blieb keine andere Wahl, als ihm Glauben zu
schenken. Keine andere Erklärung ergab einen Sinn. Sie hatte sich
plötzlich an einem ihr völlig fremden Ort wiedergefunden, die
beiden Männer konnten mit einem Mal ihre Sprache sprechen und dann
sie die ihre … es war einfach zu viel, was da auf sie einstürmte,
sie konnte es nicht ertragen. Nicht nach alldem, was sie schon
durchgemacht hatte.
»Ich …« Weiter kam sie nicht, denn zum zweiten Mal
innerhalb weniger als einer Stunde und zum zweiten Mal in ihrem
Leben sank Kelly Doyle in eine tiefe Ohnmacht.
»Bei Jinga!«
Saber blieb ein paar Schritte hinter der Tür des
Arbeitsraumes stehen, blickte sich um und tadelte seinen Bruder:
»Achte auf deine Sprache! Ich will sie zwar nicht hier haben, aber
sie ist und bleibt eine Frau!«
»Saber, könntest du bitte zurückkommen und sie
noch einmal aufheben?«
Saber fuhr herum, stolzierte zur Tür zurück und
beugte sich vor. »Nein«, wehrte er ab, doch dann sah er, warum sein
Bruder diese Bitte an ihn gerichtet hatte. Die Frau lag erneut
zusammengekrümmt auf dem Steinfußboden. Sein Bruder lehnte an
seinem Arbeitstisch. Er wirkte verhärmt, und ein feiner Schweißfilm
bedeckte sein Gesicht, wie Saber besorgt feststellte. »Was ist
passiert?«
»Sie ist ohnmächtig geworden. Und ich fühle mich
auch nicht besonders gut.«
Sabers Ärger verflog augenblicklich. Obwohl
Morganen seine Nerven oft gewaltig strapazierte, war er schließlich
sein Bruder. »Was ist denn?«
»Ach, nichts Besonderes … nur zwei kräftezehrende
Zauber an einem Tag, falls es dir nicht aufgefallen ist. Es war
nicht ganz einfach, sie aus diesem so weit entfernten Feuer zu
retten.« Morganen rieb sich die Stirn, um die sich ankündigenden
Kopfschmerzen zu vertreiben. »Und dann musste ich den Trank für den
Vielsprachenzauber brauen … den schwierigsten Sprachzauber, den es
gibt.«
Saber entging nicht, wie blass sein Bruder war,
aber er wollte in diese Angelegenheit nicht noch tiefer
hineingezogen werden, als er es ohnehin schon war. »Was willst du
von mir?«, fragte er barscher als beabsichtigt. »Ich habe wenig
Lust, den ganzen Tag hier herumzustehen.«
Morganen stellte den Becher neben sich auf seinen
Arbeitstisch. Manchmal brachte sein ältester Bruder ihn fast zur
Weißglut. »Heb sie einfach nur auf, trag sie in eine der leer
stehenden Gästekammern und leg sie auf das Bett. Und dann sag
jemandem, er soll ein Auge auf sie haben. Ich würde ja selbst auf
sie achtgeben, aber ich fürchte, ich muss noch ein Weilchen hier
sitzen bleiben. Und vergiss nicht, den anderen einzuschärfen,
nichts mit ihr anzustellen … das liegt dir ja am meisten.«
Saber warf ihm einen finsteren Blick zu, ging aber
zu der Frau hinüber und bückte sich, um sie aufzuheben. Ihre
Wimpern flatterten, als er sie auf die Arme nahm, dann regte sie
sich nicht mehr. Diesmal musste er sie nicht mit aller Kraft an
sich drücken, sie war zu einem willenlosen Bündel erschlafft.
Einem Bündel aus Haut und
Knochen, dachte er, als er zwei Treppen hochstieg, die Tür
mittels eines Zauberspruchs öffnete und wieder hinter sich schloss
und dann über die schützende äußere Mauer, die das Gelände des
burgähnlichen Gebäudes umschloss, zu der Rampe hinüberschritt, die
zu dem nächstgelegenen Flügel des Donjons, des Hauptturmes der Burg
führte. Eines ohne Fleisch auf den Rippen. Halb
verhungert.
Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, welche
Umstände zu ihrem miserablen körperlichen Zustand geführt hatten.
Sie hatte Feinde, hatte sein Bruder gesagt. Ihr Heim und ihr
Geschäft waren von diesen Feinden in Brand gesteckt worden;
absichtlich, während sie sich darin aufgehalten hatte, was auf
einen nächtlichen Mordanschlag hindeutete. Unbewusst umfasste er
sie etwas fester, während er den Flügel des Donjons entlangeilte,
der sich mit einem Nachbarflügel zu einer Länge vereinte, je mehr
er sich der Mitte der großen Halle näherte.
Wir mögen ja unser
rechtmäßiges Heim und mit ihm das Recht verloren haben, uns als
Söhne der Corvis-Blutslinie zu bezeichnen; wir mögen ja nach
Nightfall verbannt worden sein … aber wenigstens haben wir ein Dach
über dem Kopf. Und unseren Lebensunterhalt bestreiten wir durch
Fischen, Jagen, Geflügelzucht und Gemüseanbau, und zusätzlich
können wir den einen oder anderen magischen Gegenstand gegen Waren
eintauschen, die diejenigen, die uns in dieses Exil geschickt
haben, vom Festland mitbringen. All das unterscheidet sich gar
nicht so sehr von dem, was wir früher getan haben … auf unserem
Landsitz Gemüse und Getreide anzubauen, Viehzucht zu betreiben und
ebenfalls Gegenstände mit magischen Kräften zu verkaufen. Also geht
es uns gar nicht einmal so viel schlechter als damals …
Nein, ich werde kein Mitleid
oder sonst etwas für diese Frau empfinden, schwor er sich.
Immerhin war er der älteste Sohn, und die alte Prophezeiung warnte
ihn eindringlich davor, mit einer keuschen Frau sein Lager zu
teilen. Einer Angehörigen des anderen Geschlechts irgendwelche
Gefühle entgegenzubringen konnte schon das ungenannte Unheil
heraufbeschwören, das den gesamten Kontinent Katan treffen
sollte.
Saber trug seine Last durch den östlichen Gang des
kreuzförmigen äußeren Flügels des Donjons, gelangte in die große
achteckige Halle in der Mitte des alten Turms und bog nach rechts
ab. Einige Stockwerke unter ihm erklang Evanors seidenweicher
Tenor; er sang irgendeine süße Melodie, klarer und reiner als die
Sonnenstrahlen, die durch die in die Ecken des Hauptgebäudes
eingelassenen Buntglasfenster fielen.
Er ging die obere Galerie entlang, betrat den
Nordflügel und erklomm die nächstgelegene Treppe. Es gab nur eine
Kammer in der ganzen Burg, die weit genug von den Unterkünften
aller acht Brüder entfernt lag, denn die hatten sich auf der Suche
nach den ihren Bedürfnissen entsprechenden Schlafräumen im gesamten
Bergfried und den Türmen auf der Außenmauer ausgebreitet. Auf diese
Kammer steuerte er nun zu. Sie hatten sie das »Gemach des Lords«
getauft, als sie die Burg nach ihrer Verbannung einer genauen
Inspektion unterzogen hatten. Der Raum lag genau über der gewölbten
Decke der großen Halle, weitab von den normalen Wegen, auf denen
die Brüder durch die Flügel des größtenteils verlassenen Palastes
streiften. In dieser Abgeschiedenheit würde die Frau wohl kaum auf
dumme Gedanken kommen.
Sie wog wirklich viel zu wenig für ihre Größe, sie
musste mindestens zwanzig, besser noch dreißig Pfund zulegen, um
gut auszusehen. Saber versuchte, nicht weiter über ihr Äußeres
nachzudenken, nachdem er es bewusst zur Kenntnis genommen hatte,
aber das war so, als würde man ihn anweisen, nicht an rosafarbene
Bären zu denken – dann zogen natürlich unweigerlich Bilder von
rosigen Pelztieren vor seinem geistigen Auge vorbei.
Im nächsten Stockwerk angelangt stieg er die
Stufen hoch, die der Wölbung der Hallendecke folgten, trat auf die
Tür zu, legte eine Fingerspitze leicht auf die Klinke und schob die
Tür mit der Schulter auf. Sie ließ sich nur einen Spalt breit
öffnen, obwohl sie nicht verschlossen war. Mittels einer recht
ungeschickten Geste, da die Frau in seinen Armen seine
Bewegungsfreiheit einschränkte, und dem Einsatz magischer Kräfte
gelang es ihm, das verwitterte, an den Rändern verzogene Holz
aufzudrücken.
In der Kammer hingen dichte Spinnwebenschleier von
der Decke herab, denn sie hatten den Raum nicht benutzt, seit sie
nach ihrer Ankunft auf Nightfall einen flüchtigen Blick
hineingeworfen hatten, und davor hatte der Bergfried zwanzig oder
dreißig Jahre lang verlassen dagelegen. Außer dorthin verbannten
königlichen oder adeligen Familien lebte niemand mehr auf der
Insel.
Natürlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, die
Burg zu säubern, bevor die Brüder gefesselt, in ein Boot gestoßen,
über die Innere See gebracht und mitsamt ihren Habseligkeiten am
westlichen Ufer ausgeladen worden waren. Und nach ihrer Ankunft war
es ihnen zu umständlich gewesen, andere Räume als die, die sie
bewohnten, einer gründlichen Reinigung zu unterziehen, schon gar
nicht diese hoch oben im Turm gelegene abgeschiedene Kammer. Auch
die Decken auf dem breiten Bett starrten vor Schmutz und
Staub.
Auf keinen Fall durfte er die Frau darauf
niederlegen. Der Staub würde ihre angegriffenen Lungen reizen, auch
wenn Koranen sein Bestes getan hatte, den Schaden zu beheben, den
der eingeatmete giftige Rauch und die Hitze des Feuers angerichtet
hatten. Saber blieb vor der Sitztruhe am Fuß des mächtigen
Himmelbetts stehen, balancierte den schlaffen Körper der Frau auf
seinem Arm und einem angewinkelten Knie und konzentrierte
sich.
Dank einer langsamen Drehung einer Hand und ein
paar gemurmelter Wort zeigte ein Zauber Wirkung, den er und seine
Brüder zugegebenermaßen öfter anwenden sollten, und der Staub und
die Spinnweben stoben von dem Bettzeug auf. Die seit Jahren nicht
mehr ausgeklopfte Matratze, die Kissen und Decken blähten sich auf,
weitere Staubwolken stiegen in die Luft und ballten sich zu einer
dichten graubraunen Wand zusammen.
Saber verfügte über beachtliche magische
Fähigkeiten – er übertraf genau genommen die meisten Bewohner von
Katan -, doch seine Begabung war mehr auf das Gebiet von Kriegs-,
Angriffs- und Verteidigungszauber ausgerichtet als auf die
Haushaltsführung. Allerdings hatte seine Mutter all ihre Söhne in
dieser ihnen zutiefst verhassten Kunst unterwiesen, sobald sich
deren Macht zu entfalten begann. Es war ihre Art gewesen, ihre
aufsässigen Sprösslinge zu bändigen.
Er musste all seine Konzentration aufbieten, um
das nächstgelegene Fenster auf dieser Seite des Raums zu öffnen und
die Staubwolke entweichen zu lassen, ohne dass ihm die Frau dabei
entglitt. Dann verhängte er noch einen Zauber, der Nager, Insekten
und Spinnen vertrieb, weil ihm einfiel, wie zimperlich Frauen in
solchen Dingen waren – vor allem seine Mutter Annia, erinnerte er
sich, die vor neun Jahren gestorben war. Damals war ihr jüngstes
Zwillingspaar erst vierzehn und Saber und sein Zwilling zwanzig
Jahre alt gewesen. Der Ungezieferstrom, der sich quiekend, summend
und brummend durch das Fenster nach draußen ergoss, jagte sogar ihm
einen Schauer über den Rücken, obgleich diese Tiere wenigstens
nicht gefährlich waren. Im Lauf der vergangenen drei Jahre hatten
sie mit zahlreichen anderen, weitaus unerfreulicheren Plagen zu
kämpfen gehabt.
Die Frau in seinen Armen seufzte, murmelte etwas,
was er trotz des Sprachzaubers nicht verstand, und schmiegte sich
an seine Brust, voller Vertrauen. Saber erstarrte. Wie lange war es
her, seit sich eine Frau so vertrauensvoll an ihn gekuschelt hatte?
Mehr als drei Jahre, so viel stand fest. Seit Morganens und
Koranens Geburt – Saber war damals sechs Jahre alt – waren bereits
erste böse Gerüchte über die acht Brüder in Umlauf gebracht
worden.
Als er ein junger Mann gewesen war, hatten zwei
Mägde ihn in die Freuden der Liebe eingeweiht, und eine junge Frau
aus einer mit seinen Eltern befreundeten Familie hatte ihn als
künftigen Gatten in Betracht gezogen. Doch etwa zu derselben Zeit
war das jüngste Zwillingspaar in die Pubertät gekommen, und Koranen
hatte sich mit einem Mal von allem, was mit Feuer zusammenhing,
magisch angezogen gefühlt. Bald darauf hatten die Gerüchte über die
Brüder in der gesamten Umgebung zugenommen, und die Frauen zogen
sich von allen acht Geschwistern zurück, nicht nur von Saber. Und
als Morganens magische Kräfte wenig später offen zu Tage traten,
sahen sich die Katanier aufgrund des alten »Liedes der Seherin«,
das seine Familie verfluchte, in ihrer Furcht vor den vier
Zwillingspaaren bestätigt.
Die sich an ihn schmiegende Frau rief Saber zwei
Dinge unangenehm ins Gedächtnis: wie lange es her war, dass er eine
Frau so in den Armen gehalten hatte, und wie gefährlich es war, sie
näher an sich heranzulassen.
Trotzdem ließ er sie nicht einfach auf das Bett
fallen, als habe er sich an ihr verbrannt. Stattdessen sorgte er
mithilfe eines weiteren Zaubers dafür, dass das Bettzeug weder
feucht noch schimmelig war, obwohl es nicht so aussah, als habe es
in den vergangenen drei Jahren durch das Dach hindurchgeregnet. In
den Ecken der Kammer hingen immer noch Spinnweben und Staubflocken,
aber das Bett roch jetzt frisch und sauber.
Saber ließ den zierlichen Körper aus seinen Armen
behutsam auf die Matratze gleiten, und da es ein warmer Sommertag
war, nahm er nur eine leichte Decke, um die junge Frau zuzudecken.
Dann zauberte er mit einem Fingerschnippen ein Buch aus seinem
Studierzimmer im nordöstlichen Turm herbei und schlug es auf.
Es ist wohl gescheiter, keinen meiner Brüder
damit zu beauftragen, auf diese Frau aufzupassen. Sie könnten eine
verhängnisvolle Dummheit begehen … sich in sie verlieben zum
Beispiel …
Da er sich der Last der Prophezeiung, die er zu
tragen hatte, stets bewusst war – tatsächlich war er der Einzige,
über dem ein explizit in Worte gefasster Fluch hing, obwohl die
anderen Strophen auch nicht gerade verheißungsvoll klangen -, würde
er sich ganz bestimmt nicht zu einer
solchen Dummheit hinreißen lassen.