17
Bis Trevan sich wieder zu
ihnen gesellte und Morganen und Dominor mit dem Brauen des Trankes
fertig waren, hatte Saber mittels Morganens Spiegel alle Bewegungen
auf dem vom östlichen Strand heraufführenden Weg verfolgt. Die halb
vom Unterholz überwucherte Straße war entdeckt worden, und eine
Gruppe von fünf mit Schwertern und zum Teil mit weiteren
Steinschlosspistolen bewaffneten Seeleuten war dabei, sie zu
erkunden. Als sich die sieben Brüder und Kelly allesamt in der
Halle versammelten, hatten die Männer bereits ein Drittel des Weges
zurückgelegt.
»Rydan hat den Vielsprachentrank ebenfalls zu sich
genommen und ist über die Situation im Bilde«, verkündete Morganen,
der mit einem goldenen Kelch in der Hand in die Halle trat. Dominor
folgte ihm mit einem identischen Kelch. »Natürlich schläft er jetzt
wieder«, fuhr Morganen fort, »aber des Nachts ist er dann wach und
beschützt uns, was sich für uns als sehr vorteilhaft erweisen kann.
Hier, trinkt, Brüder.«
Die anderen Brüder nahmen große Schlucke aus den
Bechern der beiden Magier, schnitten ob des bitteren Geschmacks
wortlose Grimassen und richteten die Aufmerksamkeit wieder auf den
ovalen Spiegel in Sabers Hand.
»Es sieht aus, als würden sie nach Dingen Ausschau
halten, die sie mit an Bord nehmen können – Früchte und Wasser
wahrscheinlich«, teilte Saber den anderen mit. Dabei berührte er
den Spiegel auf dieselbe Weise wie Morganen vor einiger Zeit, als
er den Strand inspiziert hatte. »Die Männer auf der Straße scheinen
herausfinden zu wollen, wo sie hinführt. Aber ich habe bislang
nichts bemerkt, was darauf hindeutet, dass sie Magie einsetzen, um
sich zu orientieren.«
»Einige haben Pistolen bei sich«, gab Kelly zu
bedenken. »Das sind Waffen, die man als kleine persönliche Kanonen
bezeichnen könnte – verglichen mit denen, die ich kenne, eine eher
primitive Version, aber nichtsdestotrotz eine Schusswaffe, von der
eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausgeht. Ich weiß nicht, ob
eure magischen Schilde stark genug sind, um eine Kugel abzuhalten,
die schneller fliegt als der Schall.«
Evanor runzelte verdutzt die Stirn. »Schneller als
der Schall? Dazu würde es eines sehr
starken Schildes bedürfen. Und diese Schilde kann man weder mit
einem einfachen Fingerschnippen anfertigen noch ihre Wirkung über
einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten.«
»Vielleicht verfügen sie über Magie, vielleicht
auch nicht, aber auf jeden Fall besitzen sie Waffen, die sich als
tödlich erweisen können und denen wir kaum etwas entgegenzusetzen
haben, wenn Kelly und Evanor recht haben«, murmelte Saber. »Ich
möchte sie lieber nicht gegen uns aufbringen, bevor wir nicht
wissen, wie wir uns davor schützen können, in einem Kampf verwundet
zu werden.«
»Und zu einem Kampf dürfte es auf jeden Fall
kommen, wenn sie beabsichtigen, diese Insel für sich zu
beanspruchen«, stellte Dominor grimmig fest.
»Vergesst nicht, was Diplomatie ist – die Kunst,
›braves Hündchen‹ zu sagen und gleichzeitig nach einem dicken Stock
zu greifen«, warf Kelly ein, was ihr verwirrte Blicke seitens der
Brüder eintrug, ehe einige zu kichern begannen. »Wenn es eine
Möglichkeit gibt, ihnen vorzugaukeln, dass wir stark genug sind, um
sie zurückzuschlagen, sollten wir sie finden, und das
schnell.«
»Sollen wir uns überhaupt die Mühe machen, zu
versuchen, mit dem König und dem Rat in Verbindung zu treten?«,
fragte Trevan, während Saber sich wieder auf die Männer
konzentrierte, die vorsichtig, immer auf der Hut vor möglichen
Gefahren dem Granitpfad folgten. Bei dieser Geschwindigkeit würde
es noch eine Stunde dauern, bis sie die Klippenillusion erreichten,
mit der Trevan die Außenmauer getarnt hatte.
Morganen lachte ohne jede Fröhlichkeit auf. »Warum
nicht? Wenn sie sich weigern, uns zu helfen, ist das ein weiterer
Beweis dafür, dass sich die Prophezeiung erfüllt. Obwohl man ja
immer hoffen kann, dass sie uns doch nicht ›die Hilfe verwehren‹,
wie es heißt. Gib mir den Spiegel, Saber.«
»Es ist mein Schicksal«,
beharrte der Älteste, dabei umschloss er den geschnitzten
Holzrahmen etwas fester. »Also werde ich
mit ihnen sprechen.« Er lehnte den Spiegel gegen die Tischkante und
stimmte einen monotonen Gesang an. »Domi esta
nua sorr; estis adri evalor. Quanno Consi Regi saun; yemi esta yava
laun.«
Der Spiegel flammte noch um einiges heller auf als
bei Morganens erster Aktivierung, allerdings war die Entfernung
jetzt auch beträchtlich größer, sodass stärkere Magie benötigt
wurde. Dieser Zauber schloss Geräusche mit ein, da er eine direkte
Verbindung zu einem anderen Seherspiegel schuf und nicht nur einen
kurzen Blick auf einen anderen Ort ermöglichte. Doch über die
Oberfläche huschte nur ein Muster aus Blau-, Gelb- und Grüntönen,
kein fest umrissenes Bild.
»Was ist das?«, erkundigte sich Kelly neugierig.
»Ein magischer Bildschirmschoner?«
»Wahrscheinlich hält sich im Moment niemand in der
Ratshalle auf«, erwiderte Saber, ohne auf ihre seltsame Bemerkung
einzugehen. Er würde sie später danach fragen. »Aber sie werden
merken, dass jemand versucht, zu ihnen durchzudringen …« Das Muster
verschwand, und ein Mann in violetten und gelben Gewändern erschien
in dem Spiegel. Sein hellbraunes Haar war mit grauen Strähnen
durchzogen und scheinbar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
In Katan schien es Mode zu sein, dass Männer ihr Haar lang
trugen.
»Du! Du wagst es …« Der Mann brach ab und starrte
die neben Saber sitzende Kelly aus dem Spiegel heraus an. »Eine
Frau!?«
Kelly unterdrückte den Drang, ›Nein wirklich? Und
ich dachte, ich wäre eine Kumquat!‹ zurückzuzischen. Es fiel ihr
nicht leicht, aber sie bezwang sich. Ihre Freundin Hope, die ihr
häufig Predigten über Takt und Diplomatie gehalten hatte, wäre
stolz auf sie gewesen. Die Freundin fehlte ihr mehr, als Kelly sich
eingestehen mochte.
»Wir haben jetzt keine Zeit, um über diese
Angelegenheit zu debattieren, Oberster Magier«, fuhr Saber fort,
während der andere, ältere Mann noch immer vor Wut zu schäumen
schien. »Ein Schiff ist aus einem unbekannten Land namens Mandare
aus dem Osten nach Nightfall gekommen und in der östlichen Bucht
vor Anker gegangen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die
Fremden diese Insel ohne unsere Zustimmung besetzen wollen, und wir
glauben, dass sie über Waffen verfügen, denen man mit gewöhnlicher
Magie nicht beikommen kann. Sie könnten versuchen, Nightfall mit
Gewalt einzunehmen, und wenn ihnen das gelingt, könnten sie nach
Katan weiterziehen, um sich dort noch weitere Gebiete unrechtmäßig
anzueignen.«
»Wenn das euer durch eine Frau ausgelöstes Unheil
ist, dann seht zu, wie ihr damit fertig werdet. Hindert sie selbst
daran, Nightfall einzunehmen!«
»Selbst wenn wir sie erfolgreich von der Insel
vertreiben, besteht immer noch die Gefahr, dass sie in Katan
einfallen«, mischte sich Kelly ein und lenkte so die Aufmerksamkeit
des älteren Mannes auf sich, ehe dieser den Kontakt abbrechen
konnte. »Sie sind auf der Suche nach Land und Reichtümern, und sie
wirken, als seien sie zu allem entschlossen.«
»Dann haltet sie augenblicklich auf oder sterbt
bei dem Versuch. Und betet, dass niemand, der weniger nachsichtig
ist als ich, je herausfindet, dass eine Frau auf der Insel
lebt!«
»Werdet Ihr uns helfen, ihren Eroberungsfeldzug zu
vereiteln?«, fragte Saber, obwohl er die Antwort bereits
kannte.
»Es ist euer Problem, das habe ich schon einmal
gesagt. Katan will mit euch nichts zu tun haben.«
Kelly schoss mit einem Mal ein Gedanke durch den
Kopf.
»Dann erteilt Ihr uns also die offizielle
Erlaubnis, diese Sache auf unsere Weise zu regeln?«, hakte sie
nach. Ihr Mann und seine Brüder maßen sie mit fragenden Blicken.
»Ihr gebt jeden Anspruch auf Nightfall und all seine Probleme und
eventuellen Triumphe auf?«
»Tut, was immer ihr wollt; Nightfall ist kein Teil
Katans mehr. Und nehmt nie wieder Kontakt mit dem Rat der Magier
auf!« Der Mann am anderen Ende der Spiegelverbindung schnippte
ärgerlich mit den Fingern, woraufhin das Bild erlosch und nur noch
Sabers Gesicht zu sehen war.
»Was für eine elende Ratte«, murmelte Kelly.
»Angst verändert die Menschen«, erinnerte Morganen
sie. »Wir sind nun also vollkommen auf uns allein gestellt, wie es
in der Prophezeiung der Seherin Draganna vorhergesagt wird –
übrigens, Kelly, wurden in der Geschichte deiner Welt solche
Eroberer jemals aufgehalten und wie?«
»Durch größere Macht und Stärke … oder durch die
Vortäuschung größerer Macht und Stärke«,
fügte sie hinzu. Ihre Gedanken überschlugen sich, als eine Idee in
ihrem Kopf Gestalt annahm. »Ihr werdet mir noch sehr dankbar dafür
sein, dass ich auf einer gründlichen Säuberung der Burg bestanden
habe.«
»Hast du einen Vorschlag?«, fragte Saber.
»Worauf du wetten kannst. Wir müssen ihnen den
Eindruck großer Macht vermitteln – ihnen vorgaukeln, dass wir ihnen
haushoch überlegen sind und sie in einem Kampf nur unterliegen
können. Zeig uns noch mal den Burschen in den auffälligen
Kleidern«, wies sie ihn an. »Seht ihr ihn? Wisst ihr, was seine
Kleider mir verraten?«
»Dass er einen grauenhaften Geschmack hat«,
schnarrte Dominor.
»Ja, von deinem Standpunkt aus betrachtet
vielleicht, die katanische Mode ist eher schlicht, bequem und
praktisch. Sein Modestil besagt in meinen
Augen, dass in seiner Kultur Äußerlichkeiten ein hoher Stellenwert
beigemessen wird, zumindest in den oberen Schichten. Die
gewöhnlichen Seeleute sind alle der Arbeit entsprechend gekleidet,
die sie zu leisten haben. Dieser Mann ist der Leiter der Expedition
– ein Edelmann vermutlich, aber auf jeden Fall sehr
wohlhabend.
Er steht rangmäßig deutlich über den anderen
Männern; so weit, dass er sich der Kluft zwischen ihnen übermäßig
bewusst zu sein scheint, sonst hätte er der Bequemlichkeit halber
auf ein paar Kleiderschichten verzichtet. Er genießt auch ganz
offensichtlich die Gunst dieses Königs Gustavo, in dessen Namen er
die Insel in Besitz nehmen will. Und dass er sich trotz der
Sommerhitze und des Umstandes, dass er nicht damit rechnen konnte,
hier auf Menschen zu treffen, so prunkvoll kleidet, beweist, wie
wichtig ihm Statussymbole sind.«
»Was wiederum den Schluss nahelegt, dass er sich
nur jemandem unterwirft, von dem er denkt, dass er einen deutlich
höheren Rang als er selbst bekleidet«, spann Saber, der begriffen
hatte, worauf sie hinauswollte, den Faden weiter. »Die Frage ist
nur, ob er einen Grafen und eine Gräfin als höherrangig
anerkennt.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Das wird nicht
ausreichen. Er könnte gut ein Herzog sein, für einen Prinzen halte
ich ihn nicht. Wir sollten erwägen, uns zu König und Königin
auszurufen …«
»Das ist unmöglich!«, entfuhr es Saber. »Kein
Bürger Katans kann sich selbst zum Herrscher ernennen, wenn ihn
nicht sein Geburtsrecht dazu ermächtigt.«
»Der Rat der Magier hat uns gerade eben jegliche
Zugehörigkeit zum Reich Katan abgesprochen«, warf Morganen
hilfreich ein.
Saber schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich kann
nicht. Ich kann mich nicht selbst zum König ausrufen, selbst wenn
das die einzige Möglichkeit wäre, die Arroganz dieses Menschen zu
brechen. Ich werde es nicht tun!«
»Schön. Das musst du auch nicht. Ihr seid alle
meine Zeugen.« Kelly schlug die Beine übereinander, faltete die
Hände im Schoß und straffte sich. »Ich ernenne mich hiermit zu
eurer rechtmäßigen Königin. Da ich nicht
aus Katan stamme, schulde ich Katan auch keinerlei Loyalität. Ich
unterstehe auch nicht den katanischen Gesetzen und den katanischen
Gesellschaftsstrukturen, Traditionen und Bräuchen, also spricht
nichts dagegen. Außerdem habt ihr alle wie auch ich selbst gehört,
wie ein rechtmäßig eingesetzter Repräsentant der katanischen
Regierung alle Ansprüche auf Nightfall und seine Bewohner
aufgegeben hat.
Daher betrachte ich von nun an die Insel Nightfall
mit allem, was sich darauf befindet, als mein Königreich und ihre
momentanen Bewohner, als da zu nennen sind mein Mann und
Prinzgemahl sowie seine sieben Brüder als meine rechtmäßigen
Untertanen. Nicht zu vergessen die Hühner im Hühnerhaus«, fügte sie
der Gerechtigkeit halber hinzu. Die Hühner waren grässliche
Geschöpfe, unberechenbar und jederzeit bereit, mit ihren spitzen
Schnäbeln zuzuhacken, nichtsdestotrotz gehörten sie zum Haushalt
der Brüder – gewissermaßen. »Was den Rest unseres ›Volkes‹ betrifft
… wir können vorgeben, sie stünden unter einem Schutzzauber, der
sie unsichtbar macht, um zu erklären, dass die Invasoren sie
bislang noch nicht zu Gesicht bekommen haben.«
Saber schloss die Augen. Er wusste, wie sonderbar
diese Frau aus einer anderen Welt sein konnte, aber dies ging
eindeutig zu weit. »Kelly … das kannst du nicht tun.«
»Sie hat es gerade getan, Bruder, und niemand hier
erhebt irgendwelche Einwände.« Morganen klopfte seinem ältesten
Bruder auf die Schulter. »Und jetzt, wo das Unheil da ist und der
Rat davon erfahren hat, wird auch niemand vom Festland Widerspruch
einlegen. Ich persönlich halte es für eine großartige Idee«, fügte
er hinzu. »Wir haben eine Frau, die sich mit den Waffen dieser
Eindringlinge und ihren Verhaltensweisen ein wenig auskennt, und
wir haben eine Burg, die zugleich ein Palast ist – ein sehr
beeindruckender Palast, vor allem jetzt, wo alles gesäubert und
frisch getüncht ist. Und wir können genug Illusionen schaffen, um
ihn mit Dienstboten und Gästen zu bevölkern, bevor die Fremden
unseren Schutzwall aus Trugbildern entdecken und
durchbrechen.
Ich gratuliere Euch zu Eurem neuen Königreich,
Majestät.« Der Jüngste der acht verneigte sich anmutig vor seiner
Schwägerin. »Ich stelle mein Wissen und meine Fähigkeiten in Eure
Dienste.«
»Ich ebenfalls.« Trevan schien die Vorstellung zu
gefallen.
»Ich desgleichen«, grinste Koranen.
»Ich verneige mich lieber vor dir, die du mich
hast ›Staub schlucken‹ lassen, als dass ich zulasse, dass ein
dermaßen lächerlich gekleideter Mann Ansprüche auf diese Insel
erhebt«, versetzte Dominor. »Dein Modestil sagt mir außerdem
wesentlich mehr zu.«
Das entlockte Kelly ein Lächeln. »Vielen Dank,
Dom. Das ist das Netteste, was du je zu mir gesagt hast.«
Er lächelte schief. »Keine Sorge. Ich bin sicher,
dass es mir nur versehentlich entschlüpft ist.«
»Ich würde diese Männer am liebsten mit Fußtritten
von der Insel jagen«, gab Wolfer zu. »Aber wenn ihre Waffen so
gefährlich sind, wie Kelly glaubt, wird das nicht leicht werden.
Wie du schon sagtest – obwohl ich das Tier, das du genannt hast,
zutiefst verabscheue – muss man manchmal ›braver Jonja‹ sagen,
während man nach seinem schärfsten Speer greift.«
»Was ist, wenn der Oberste Rat davon erfährt?«,
wandte sich Saber an seine Frau.
»Sie haben alle Ansprüche auf Nightfall
aufgegeben«, erinnerte sie ihn. Dann griff sie nach seiner Hand,
die zur Faust geballt auf seinem Schenkel lag. »Saber, ich kann
genauso mühelos wieder abdanken, wie ich mich zur Königin
ausgerufen habe. Ein König oder eine Königin regiert nur so lange,
wie ihre Untertanen mit ihm oder ihr zufrieden sind.«
»Wenn sie sich zu unserer Königin ernennt und wir
als ihre ›Untertanen‹ damit einverstanden sind, dann ist sie die rechtmäßige Königin«, erläuterte
Morganen. »Wir leben schließlich nicht im gespaltenen Reich Aiar.
Und ich für meinen Teil habe nichts dagegen. Wenn es ein zeitlich
begrenzter Zustand bleibt.«
»Er beschränkt sich auf die Wochenenden, die
Ferien und die Tage, wo wir Gäste haben«, witzelte Kelly, dann tat
sie die Bedenken der anderen mit einer abwinkenden Geste einer Hand
ab und streichelte mit der anderen Sabers Faust. »Es geht hier nur
um eine Statusfrage, mehr nicht.«
»Ich kann mich nicht zum König ausrufen«,
wiederholte er, schien sich aber allmählich für die Idee zu
erwärmen.
Kelly lächelte, ein laszives, sehr weibliches
Lächeln. »Mein Herz, jeder Mann, der im Schlafzimmer das leistet,
wozu du imstande bist, ist automatisch ein
König. Zumindest meiner unmaßgeblichen Meinung nach.«
Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus
und schlugen ihrem errötenden ältesten Bruder auf den Rücken.
»Erinnere mich daran, dass ich dir das königliche
Hinterteil versohle, wenn wir wieder da oben sind«, grollte Saber,
sich mühsam ein Grinsen verbeißend, und blickte vielsagend zur
Decke empor, über der ihre Kammer lag.
Sie tätschelte sein Knie.
»Es wäre nett, wenn du mir nichts versprechen
würdest, was du dann doch nicht hältst.«
Er schlang einen Arm um ihre Taille, zog sie an
sich und verschloss ihr den Mund mit seinen Lippen.
Koranen klopfte mit den Fingerknöcheln zweimal
gegen Sabers Hinterkopf und unterbrach so den Kuss. »Dafür ist
jetzt keine Zeit, Bruder. Wir haben Wichtigeres zu
erledigen.«
Saber gab Kelly widerstrebend frei, verdrängte die
lockenden Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, und konzentrierte
sich wieder auf ihr momentanes Problem. »Diese Fahne am Strand …
wenn dies ein richtiges Königreich wäre, hätte sie inzwischen
jemand entdeckt. Wir sollten sie unverzüglich entfernen. Wenn wir
damit noch länger warten, würde das den Schluss nahelegen, dass wir
nachlässig, unaufmerksam und träge sind … und so beeindruckt man
keine Invasoren.«
»Ich denke, wir sollten sie durch eine eigene
Fahne ersetzen«, schlug Kelly vor. »Morganen, hast du noch etwas
von der Farbe übrig, mit der du die Wände neu gestrichen hast?
Kannst du dieselbe Wirkung auf Stoff erzielen, und wie lange würde
das dauern?«
»Da ich jetzt weiß, was ich tun muss, dürfte es
sehr schnell gehen«, erwiderte Morganen. »Es war langwierig, das
Ganze auszutüfteln, aber mit jeder Wiederholung wird es einfacher,
den Zauber anzuwenden.« Er grinste. »Vor allem, wenn man über die
nötige Macht verfügt.«
»Ausgezeichnet«, lobte sie. »Da unser Königreich
Nightfall heißt, stelle ich mir eine sich farblich verändernde
Flagge vor, die die schwarze Silhouette der Insel zeigt. Und Bäume
und Berge sowie weiße Sterne und eine weiße Mondsichel – zwei
Mondsicheln, Entschuldigung – an einem ›Himmel‹, der sich von
Sonnenaufgang hin zu Mitternacht verändert, also von Blau zu
Schwarz. Das dürfte Eindruck machen, zumal ihre eigene Fahne mehr
als schlicht ist – nur eine rote Faust auf weißem Grund.«
»Das lässt sich leicht bewerkstelligen, wenn ich
meine Spezialfarbe auf ein schwarzes Stück Tuch auftrage. Ev, du
könntest mir dabei helfen.«
»Ich möchte erst wissen, ob unsere Königin mir
denn auch einen klangvollen Titel verleiht«, erwiderte der
Sänger-Magier gedehnt, »da ich ja derjenige bin, der die ganze
eigentliche Arbeit leistet …«
»Ich ernenne dich hiermit zum königlichen
Haushofmeister, dem es obliegt, dafür zu sorgen, dass im Palast
alles seinen reibungslosen Gang nimmt«, stimmte Kelly ohne zu
zögern zu. »Eine Aufgabe, die du ja bereits ausgezeichnet
bewältigst.«
»Ich möchte auch einen Titel«, meldete sich
Koranen zu Wort.
»Du wirst der Hofsekretär, da du scheinbar immer
alles nach einem bestimmten Plan einteilen willst«, neckte Kelly
ihn.
»Was ist mit mir?« Wolfer verschränkte die Arme
vor der Brust.
»Hauptmann der Palastwache«, entschied Kelly, da
er der Größte und Kräftigste war.
»Das ist doch wohl mein
Titel«, grollte Saber.
»Stimmt, das hatte ich vergessen. Gut, Wolfer,
dann bist du … mein Oberster Jäger, der Hauptmann der Armee und
Sabers Stellvertreter. Saber, du bist der General der Armee und
mein persönlicher Leibwächter sowie mein Prinzgemahl. Dominor … hmm
… du wirst mein Schatzkanzler und Zeremonienmeister. Morganen ist
natürlich mein Hofmagier, und Trevan …«
»Stallbursche? Küchenmagd?«, feixte er. »Oder dein
Leibsklave?«
»Ich würde dich am liebsten zu meinem Hofhalunken
ernennen, wenn das möglich wäre«, murmelte sie, während Saber
seinen Bruder anfunkelte und einen Arm besitzergreifend um seine
Frau legte. Sie versetzte ihm einen Rippenstoß. »Hilf mir doch,
Saber. Was ist sein Spezialgebiet?«
»Wenn er nicht damit beschäftigt ist,
irgendwelchen Gegenständen magische Kräfte zu verleihen oder mit
Holz zu arbeiten, nimmt er die Gestalt eines Vogels oder einer
Katze an und durchstreift die Wälder, so wie es Wolfer oft in
Hundegestalt tut. Die beiden sind die Jäger der Familie …, nur dass
mein Zwilling meist der Zuverlässigere ist«, zahlte es Saber seinem
jüngeren Bruder heim, dass er Kelly in seiner Gegenwart geneckt
hatte.
»Dann könntest du der Chef meines Geheimdienstes
sein – Katzen sind neugierig und wollen alles herausfinden, und das
meistens heimlich und hintenherum.« Als sie die verwirrten
Gesichter der Männer sah, wählte sie einen etwas mittelalterlicher
klingenden Titel, mit dem sie vermutlich besser vertraut waren. Ȁh
… du wirst mein offizieller Großwesir, Trevan, und mich als solcher
über alles auf dem Laufenden halten, was außerhalb dieser Mauern
vor sich geht. Und Rydan ist natürlich der Herr der Nacht, was
sonst.
So«, fuhr Kelly knapp fort. »Morganen, Evanor,
kümmert euch um die Fahnen. Fertigt am besten gleich mehrere an,
ein paar müssen auf den Türmen wehen und eine hier in der Halle
hängen. Der Rest von euch muss den Palast herrichten, denn wir
werden unsere ungebetenen Gäste wenigstens einmal hereinbitten
müssen, um sie zu beeindrucken. Und wir müssen diese Halle in einen
großen Audienzsaal verwandeln.«
»Ich werde das Stück vom östlichen Hof bis hierher
in Ordnung bringen«, erbot sich Dominor, als seine beiden Brüder
die Halle verließen, um Stoff für die Fahnen zu suchen. »Auf diesem
Weg werden wir sie hierher führen. Wir können eure Hochzeitsbank
als Thron verwenden, sie ist auffällig genug. Wenn ich damit fertig
bin, erschaffe ich illusorische Höflinge, die unsere ›Gäste‹ sehen
und mit denen sie sprechen können, wenn sie die Burg betreten. Ein
leerer Palast würde Verdacht erregen – in einen Thronsaal gehören
schließlich Höflinge und Diener, die sich neben dem Thron zur
Verfügung halten«, schloss er.
»Ich verstärke die Verteidigungsanlagen«, sagte
Saber. »Und ich kann ähnliche Illusionen von Wachposten erschaffen,
die die Außenmauern und die Brustwehr bemannen und sogar im Notfall
unsere Burg verteidigen.«
»Ich helfe euch bei den Illusionen, darin bin ich
wirklich gut. Illusionen sind nicht viel mehr als Licht, und Licht
ist ein Teil des Feuers«, erklärte Koranen seiner Schwägerin. »Ich
kann auch ein paar davon an die Lichtkugeln binden, sodass sie in
einem Raum bleiben und somit keine ständige Überwachung durch einen
Magier benötigen. Aber dazu brauche ich Evanors Hilfe, wenn er mit
den Fahnen fertig ist, er muss die passenden Geräusche erzeugen –
der Zauber von dem Musikkasten könnte sich gut zu diesem Zweck
verwenden lassen.«
»Ich sorge für Tierillusionen – andere Tiere als
die offiziellen Hofhühner.« Leise Belustigung glomm in Wolfers
Augen auf. »Und für Diener, die in den Gärten und Höfen
arbeiten.«
»Und ich behalte unsere Unheilsbringer im Auge«,
nickte Trevan.
»Lass dich nicht sehen. Und dich schon gar nicht
fangen«, mahnte Saber ihn.
»Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich
sagen muss.« Kelly erhob sich von ihrer Bank, während die anderen
aus der Halle strömten. »Aber ich habe nichts Passendes zum
Anziehen.«