Zwei

Du kennst sicher solche Phänomene: du nimmst irgendwo in einem menschenleeren Haus eine Bewegung wahr, es knarrt auf einem Dachboden, auf dem sich niemand aufhält, in einem leeren Zimmer spielt ein Klavier. So etwas kann einem ganz schön an die Nieren gehen, uns bricht bei den nichtigsten Anlässen der Schweiß aus, es kommen dubiose Geschichten auf, die einem den Schlaf rauben und die Dunkelheit mit Bedrohlichem bevölkern. Dennoch enthalten solche Geschichten in ihrem Kern etwas Positives, nämlich die Überzeugung, dass es noch eine Welt jenseits der unseren gibt. Wer an so etwas glaubt, ist letztlich besser für die Einsamkeit des Menschen gerüstet, der lernt die Abgründe der Ungewissheit erst später kennen, es ist möglicherweise ein Segen. Kjartan ist ein bodenständiger Mensch, und er weiß, dass sich in den allermeisten Fällen leicht natürliche, wenn nicht gar physikalische Erklärungen für angebliche Geistererscheinungen finden lassen: das Brausen des Windes, Luftspiegelungen in der Atmosphäre, Sehnervstörungen. Als Bauer hatte Kjartan oft genug in pechfinsterem Winterdunkel im Stall zu tun, der Sturm heulte, es ächzte im Wellblech, perfekte Bedingungen für Gespenster, aber es passierte nie etwas, wahrscheinlich weil Kjartan ein vernünftiger Mensch ist. Und auch Davið ist geistig nicht zurückgeblieben, lauter gute Noten im Gymnasium und in den Isländischseminaren, die er an der Universität besucht hat, aber er ist so ein nervöser Typ, kaut an den Nägeln, wippt andauernd mit dem rechten Bein, wenn er sitzt, lebt mehr oder weniger in seinen Traumgespinsten und lässt im ganzen Haus das Licht brennen, sobald die Winternächte anbrechen und das dunkle Weltall direkt über dem Ort zu hängen scheint, mit seinen saugenden Atemzügen und seiner unermesslichen Dunkelheit. Jetzt aber gehen sie gerade vom Pausentisch zur Lagerhalle hinüber, ein Weg von vielleicht zwanzig Metern; sie ziehen die große Schiebetür auf, schalten die Beleuchtung ein, und vor ihnen liegt das Warenlager. Endlose Bretterstapel, ein Hauptgang für den Gabelstapler, davon abzweigend ein paar schmalere Gänge und über allem Reihen nackter Glühbirnen an langen Kabelsträngen in acht Metern Höhe. Kjartan wirft einen Blick auf die Liste der Bestellungen, die er mitgenommen hat, und sie fangen an zu arbeiten. Alles ist wie immer, bis auf den Unterschied, dass _Þórgrímur nicht mehr da ist, und so vergehen einige Tage.

Anfangs geschieht auch nichts, gar nichts, außer dass beide meinen, da sei etwas, aber keiner von ihnen bringt es dem anderen gegenüber zur Sprache. Beide empfinden eine unsichtbare Anwesenheit, da ist etwas, das an die Nerven geht, den Atem flacher gehen lässt. Kjartan hat das Gefühl, jemand stehe hinter ihm, und dreht sich um, doch da ist niemand. Davið nimmt vor sich eine Bewegung wahr, eine undeutliche Bewegung, und er hört ein Rascheln, blickt zur Seite, aber da ist nichts und kein Geräusch außer dem Wind draußen und Kjartans Vor-sichhin-Summen.

Eines Tages aber fallen von einer Palette aus sechs Metern Höhe sechs fünfundzwanzig Kilo schwere Säcke mit Kraftfutter. Zwei platzen beim Aufprall, und die braunen Pellets ergießen sich über den Hallenboden, einige rollen vor einen schwarzen Stiefel, Größe 45.

Kjartan ist so erschrocken, dass er ein oder zwei Minuten lang mit aufgerissenem Mund nach Atem ringt, während sein Herz hämmert und das Blut durch die Adern schießt. Zwei Sekunden später, und ihm wären die Säcke auf den Kopf gefallen, und es wäre aus gewesen mit ihm. Davið kommt angestürzt und ruft: Was ist passiert? Kjartan zeigt nur bleich nach oben auf die Lücke in den Stapeln auf dem Regal. Schweigend fegen sie das Kraftfutter zusammen, werfen ab und zu einen Blick hinauf zu dem Regalboden. Das hätte eigentlich gar nicht passieren können, sagt Kjartan schließlich. Wie meinst du das?, fragt Davið zögernd. Willst du damit sagen …

Was ich damit sagen will?, fragt Kjartan zurück, als die Stimme seines Kollegen versiegt.

Davið: Du weißt schon.

Kjartan: Ich weiß überhaupt nichts.

Davið: Doch, sicher, ich meine, dass da … irgendwas ist.

Kjartan: Es ist immer irgendwas.

Davið: Ach, du weißt doch, was ich meine, diese Geschichten da, von der Frau und so … Hast du nicht in den letzten Tagen was gemerkt?

Kjartan: Gemerkt, nein, was hätte ich denn merken sollen?

Davið: Tu doch nicht so! Du weißt genau, was ich meine, als wären wir nicht allein hier, als würde hier jemand umgehen, als würden wir beobachtet und …

Kjartan: Hör auf damit! Red doch keinen Blödsinn! So was gibt’s gar nicht, absolut nicht.

Davið: Willst du damit sagen, so etwas wie Spuk existiert nicht? Er bringt das Wort Spuk heraus, als sei er mit Dynamit vollgestopft und könnte bei der leisesten unsachgemäßen Behandlung explodieren. Kjartan schnaubt, holt den Gabelstapler und hebt damit die Palette mit Kraftfutter herab, sie stapeln die heruntergefallenen Säcke sorgfältig wieder darauf und verstauen die Palette im Regal, dann holen sie eine Taschenlampe und durchsuchen eine Stunde lang die Halle, gehen sämtliche Gänge ab und mustern die Palettenstapel, von denen einige so hoch oben stehen, dass sie aus dem Lichtkegel der Taschenlampe ins Dunkel unter dem Dach zurückweichen. Am nächsten Tag fällt nichts Bemerkenswertes vor.

Auch nicht am übernächsten. Sicher hat Kjartan nachts Alpträume, träumt, er sei allein in der Lagerhalle, hört verdächtige Geräusche, Dinge fallen von oben aus dem Dunkel, und er sieht nichts mehr. Er tröstet sich damit, dass die Nacht eine Sache ist, der Tag eine ganz andere. Jakob kommt mit dem großen Laster und liefert neue Ware an, die sie im Lager verstauen, andere Artikel nimmt er mit, Kunden kaufen Kraftfutter, Schaufeln, Fahrräder und Skateboards. Doch eines frühen Morgens ungefähr eine Woche, nachdem Kjartan knapp den herabfallenden Säcken entgangen ist, hört er, dass sich jemand in der leeren Halle bewegt, als würde ein Kind barfuß durch die leeren Gänge laufen. Ich esse nicht genug, denkt er, das wird’s sein, und ich schlafe zu wenig; es sind bloß die Nerven.

Nach der Mittagspause stehen sie in der Öffnung zur Halle, Kjartan ist gerade dabei, Jakob den Fernfahrer am Steuer nachzuahmen, und Davið stützt sich lachend an einer Palette ab, da platzt in der nordöstlichen Ecke eine Glühbirne. Sie zucken zusammen, und Kjartan schüttelt die Schultern, als müsse er einen kalten Schauer loswerden, da erlischt eine zweite, dann die dritte, vierte, fünfte … jeweils im Abstand von vielleicht fünf Sekunden; sie halten den Atem an, blicken um sich, Totenstille, noch mehr Birnen zerspringen, die sechste, die siebte, Dunkelheit springt auf einmal aus allen Richtungen auf sie zu und legt sich um sie, sie legen den Rückwärtsgang ein, und der Schweiß läuft beiden kalt den Rücken runter, als sie endlich aus der Halle kommen. Kjartan schenkt ihnen zwei Tassen Kaffee ein, Daviðs Hand zittert ein wenig, als er eine entgegennimmt. Scheiß Strom, sagt Kjartan, als er sich endlich traut, etwas zu sagen. Draußen liegt ein dunkler Abend über dem Ort.