Was mit dem Substantiv Weltuntergang verwandt ist

Kjartan ist in der Gegend nördlich des Ortes aufgewachsen, der Hof steht nur knapp einen Kilometer vom Fjord entfernt. Er war ein kleiner Junge, und das Meer breitete sich vor ihm aus und veränderte andauernd die Farbe. Mit kaum zwanzig übernahm Kjartan den Hof, sein Vater verlor im Heugebläse die rechte Hand, es gab ein hässliches Geräusch, und seitdem hat er seine Frau nie wieder fest genug an sich drücken können. Die beiden zogen in den Ort, bekamen beide Arbeit in der Molkerei, und im Herbst arbeitet sie zusätzlich noch, verlässlich und schnell, im Schlachthaus, gehört zu den Menschen, denen man eigentlich doppelten Lohn zahlen müsste, aber zu ihm sagen wir manchmal: Nun spuck doch endlich mal in die Hände oder: Du hast aber heute wieder zwei linke Hände. Wir finden das witzig; er manchmal auch, aber nicht immer. Kjartan führte den Hof trotz seiner jungen Jahre gut, von Kind an war er ziemlich füllig und mit der Pubertät wurde er richtig dick, er hat einfach die Veranlagung dazu, allerdings isst er auch zu viel, abends noch Kuchen, und beim Schafetreiben hat er die Taschen voller Kekse und Schokolade. Ansonsten ist er darin besser als jeder andere, obwohl er sich nur wenig bewegt, nach drei Wiesenhöckern oder zehn Schritten wird er müde, aber er hat einen unglaublich kräftigen Bass, so einen richtig dröhnenden, und damit allein treibt er einen ganzen Berghang zusammen. Er brüllt nur Ho!, und schon kommt das lose Geröll ins Rutschen. Abends bei den Pferchen singt er viel, und er singt gut, solange er sich in den tieferen Tonlagen aufhält, die Frauen bekamen bei seinen tiefsten Tönen zittrige Knie, aber wenn er hoch singen wollte, ging es dermaßen daneben, dass es aus heiterem Himmel zu regnen beginnen konnte, die Hunde fingen an zu jaulen, und beim Kaffee in den Hütten wurde das geräucherte Lammfleisch auf dem Fladenbrot ranzig. Kjartan war beliebt, er kam nach seiner Mutter, war eine Frohnatur, die immer einen Witz parat hatte. Keiner konnte so schöne Zäune setzen wie er, und er züchtete die besten Stiere der Gegend, Bauern kamen von weither, um sie auszuleihen, oder sie verfrachteten ihre Kühe auf Hänger, fuhren damit zu Kjartan und schoben sie seinem dreijährigen Bullen unter; Losloslosloslos, machte Kjartan, und der Bulle samte in fünf Sekunden ab, sein Glied wie eine überdimensionale rote Rübe. Aber halten wir uns nicht beim Geschlechtsleben der Rinder auf, es ist so ärmlich, zwei, drei ruckende Stöße des Bullen, Schaum spritzt, die Augen wollen aus den Höhlen quellen, und schon ist es vorbei, der Bulle wendet sich dem Gras zu, die Kuh will heim in den Stall, das ist so simpel, ganz anders als bei uns, Gott sei Dank oder leider, Kjartans Frau aber heißt Asdis, und sie haben drei Kinder.

Lange Zeit schien alles nach Plan zu laufen, genau wie Gott und das Landwirtschaftsministerium es sich mit Kjartans und Asdis’ Hof gedacht hatten. Sie passten die Wirtschaft dem Geist der neuen Zeit an, wir sahen die mustergültigen Drahtzäune weit in die Zukunft hineinleuchten, sie setzten Kinder in die Welt, gestalteten das soziale Leben der Gemeinde mit. Asdis nahm Fernunterricht in Buchführung, Englisch, Deutsch, Isländisch und Mathematik, sie wollte ihren Horizont ein wenig erweitern, und so manchen Abend, wenn die Kinder im Bett waren und die Dunkelheit die Außenlaternen auf den Höfen angeknipst hatte, saß sie am Küchentisch und lernte. Dann machte Kjartan den Fernseher aus, holte sich etwas zu lesen, einen Krimi oder das Landwirtschaftsblatt Freyr, und setzte sich zu ihr. Gesellschaft ist gut. Aber der Mensch ist nun mal, wie er ist, doch ehe es weitergeht, soll hier einmal deutlich gesagt werden, dass Kjartan seine Frau liebte, er nannte sie seine Sonne, seine Butterblume, sein Licht und seinen Himmel, und höchstwahrscheinlich stimmt es, was einmal ein Dichter sagte, dass nämlich die Liebe das stärkste aller Elemente sei, die Urkraft, die das Rad des Lebens antreibe und verhindere, dass wir kopfüber in die graue Sinnlosigkeit des Lebens gestürzt werden. Doch obwohl die Liebe alles verändert, Länder verrückt und zwei getrennte Leben zusammenführt, hat sie doch keine Gewalt über etwas so Nebensächliches wie das Fleisch und die Lust. Der Nachbarhof von Samsstaöir heißt Valþúfa, und dort lebt Kristin mit ihrem Mann, zwei Kindern und der Schwiegermutter.

Um jene Zeit, Mitte der neunziger Jahre, hatte sich auch Kristin von der Fitnesswelle, die damals wie eine Erlösungsverheißung durch die westliche Welt rollte, mitreißen lassen. Neue Ziele, neues Denken. Die Fitnessstudios vermehrten sich schneller, als man zählen konnte, bald gab es davon mehr als Schulen und viel mehr als Kirchen, was ja nur angemessen ist, denn die Fitnesstrainer haben schließlich viel mehr Einfluss auf unser Leben als ein Pfarrer; deren Ära ist vorbei, die versteinern bald in ihren schwarzen Talaren und mit ihren Litaneien über einen Gott, den seit zweitausend Jahren keiner mehr gesehen hat, nach dem wir aber todsicher rufen werden, wenn das Ende naht.

Komischer Zufall, dass wir gerade auf Gott und die Priesterschaft zu sprechen kommen, denn über dem Eingang zu Vallis Fitnessstudio steht: »Der Körper ist dein Heiligtum«, und diejenigen unter uns, die im Spinningkurs vierzig Minuten mit der schwerstmöglichen Einstellung wie die Wahnsinnigen gestrampelt haben, sind sich völlig einig, dass der Schweiß und die Anstrengung den Geist so klar und den Körper so rein machen, dass man etwas Großes fühlt, bei dem es sich wohl um Gott handeln muss. Vierzig Minuten lang hältst du dich außerhalb von Zeit und Raum auf, es existiert nichts als die Anstrengung, dein eigener keuchender Atem, Vallis besänftigende Stimme in weiter Ferne und dann dieses Große, das das Universum zu füllen scheint.

Kristin war in ihren Anstrengungen noch nicht sonderlich weit gekommen, als sie das Studio aufsuchte, sie war auch nicht rank und schlank, sie war eine Bauersfrau, die es zur Angewohnheit hatte, jeden Abend ein volles Glas unpasteurisierter und nicht entrahmter Kuhmilch zu trinken und dazu ein Stück Kuchen zu essen. Sie hatte ihre Muskeln nicht mehr gedehnt und keinen Sport getrieben, seit sie die Gesamtschule in Akranes verlassen hatte und eigentlich Krankenschwester werden wollte, doch dann gingen die Jahre ins Land, und sie tat nichts von all dem. Seit Jahren hatte sie keinen Sport mehr gemacht, ihr Bauch war zu weich, zu schlaff, ihre Oberarme zu weich, sie hingen, und eines Tages sagte Kristin zu sich: Ich muss in bessere Form kommen. Sie guckte die Morgengymnastik im Zweiten, versuchte das gleiche fröhliche Lächeln wie die Menschen auf dem Bildschirm beizubehalten, denn wer gut in Form ist, kann selbst dabei noch lächeln, kaufte sich Jogginghosen und Schuhe. Beginnen Sie mit kurzen Distanzen, stand in einer Zeitschrift, und Kristin lief um den Hofplatz und dann hinaus ins Gelände, das sich in sämtliche Richtungen erstreckte, es lag ein gehöriger Abstand zwischen Valþúfa und Samsstaöir, etliche Steigungen, Hügel und Senken, in denen sich die Pferde herumtrieben und das ganze Jahr über grasten, die Schafe im Frühjahr und an schönen Wintertagen. Wie lang sind kurze Distanzen, fragte sich Kristin und war schon kaputt, ehe sie den Zaun erreicht hatte, kaum hundert Meter vom Haus. Sie hielt sich an einem Pfosten fest und keuchte nach Atem, der Hund machte Platz und wedelte freudig mit dem Schwanz, für ihn war es eine völlig neue Erfahrung, einen erwachsenen Menschen ohne erkennbares Ziel irgendwohin laufen zu sehen. Kristin blickte zurück, wusste, dass Petur und seine Mutter sie vom Küchenfenster aus beobachteten und die Köpfe über sie schüttelten. Sie stieß einen Fluch aus und trottete ermattet zurück, der Hund enttäuscht hinterher. Das schlecht verhohlene Grinsen ihrer Schwiegermutter beachtete sie nicht, ging unter die Dusche, masturbierte ein wenig ruppig, sogar etwas böse, und stellte sich dabei vor, sie triebe es mit zwei fremden Männern im Fitnessstudio, wahrscheinlich nur, um sich an den beiden da unten zu rächen, kleidete sich an, nahm den Wagen und fuhr in den Ort, parkte vor einem weiß gestrichenen Haus, Vallis Fitnessstudio stand auf der zum Parkplatz weisenden Wand, und darunter hatte irgendein jugendlicher Lümmel mit roten, fröhlichen Buchstaben gesprüht: Es lebe der Pimmel! Kristin trat ein und stellte sich wartend vor die runde Rezeption, unter deren Glasplatte Kraftfutter ausgestellt war, Energydrinks im Kühlschrank, astrologische Ratgeber auf einem Bücherregal und darüber ein DIN-A3-Anschlag:

Valli liest die Zukunft aus Tarotkarten.

1-Monats-Vorhersage 6000 Kronen, dreimonatige Vorhersage 10 000 kr., Jahresprognose 14 000. Preis für die Vorhersage des ganzen Lebens auf Anfrage (gestaffelt nach Alter und Gesundheitszustand).

Zur Beachtung: Langfristige Vorhersagen sind nicht von gleicher Exaktheit.

Der Übungssaal liegt gleich hinter der Theke, über der Tür das Motto des Hauses: »Der Körper ist dein Heiligtum«, und darunter hat Valli in kleinerer Schrift neuerdings noch ein weiteres aufgehängt: »Denk daran, wenn es deinem Körper gut geht, geht es dir gut!«

Kristin gab das Warten auf und betrat zögerlich den Übungsraum. An allen Wänden rundum zwei Meter hohe Spiegel, die den Raum viel größer wirken lassen, man weiß kaum, wie viele Personen sich wirklich darin aufhalten, wer echt ist und wer nur ein Spiegelbild, dazu laute, rhythmisch stampfende Musik aus dem Fernseher, die junge Sängerin blickte nachdenklich und mit einem Hauch von Traurigkeit direkt in die Kamera, ihre Brüste waren fast komplett sichtbar, jung und fest sahen sie aus, manchmal tauchten hinter ihr zwei Tänzerinnen auf, in hautengen Tops und rosa Stringtangas, von deren Brüsten fast genauso viel zu sehen war. Ja, wir leben schon in einer Zeit der Enthüllungen. Kristin ließ den Blick vom Bildschirm und sah sich nach Valli um. Früher einmal war Valli ein Mensch wie du und ich, er arbeitete bei der Stromversorgung, seine Frau in der Bank, die vier Kinder wuchsen heran, ein ganz normales Leben, aber dann hat etwas klick gemacht, und Valli sagt seitdem, er habe ein Licht gesehen. Kein Wunder, sagt jemand zu ihm, du bist ja auch Elektriker. Aber natürlich meinte Valli kein elektrisches Licht, sondern eins, das das Leben verändert. Er eröffnete das erste Fitnessstudio im Ort, anfangs mietete er bloß einen Keller, der nach Feierabend geöffnet war, bloß so eine Art Hobby. Aber der Geist der Zeit arbeitete für Valli, Dinge änderten sich, die Gesundheitswelle schwappte durch die westliche Welt. Zeitungsartikel und Interviews in Illustrierten proklamierten, dass es den Menschen besser gehe, sobald sie körperlich in Form kämen, überzeugende Schlagzeilen wie »Ein sorgenfreieres Leben«, »Ich bin glücklich«, »Bodybuilding hat mein Leben verändert« machten Eindruck auf uns, und obendrein bekam Valli einen üppigen Zuschuss vom Staat, um das weiße Haus zu kaufen, das leer stand, seit der alte Landwirtschaftsberater über seiner Milchgrütze mit Backpflaumen einen Herzinfarkt bekommen hatte und seine Witwe ins Altersheim gezogen war, wo sie die Beziehung zu einer Jugendliebe wieder anknüpfte – einen Faden, der nach fünfzig Jahren wieder aufgenommen wurde. Die Zuschüsse waren Teil des kombinierten Regierungsprogramms zur Hebung der Gesundheit und Verbesserung der Lebensqualität in strukturschwachen Räumen, »Gesünderes Leben – besseres Wohnen«, und in den letzten Jahren ist Vallis Fitnessbude täglich von 7 bis 9 und von 12 bis 21 Uhr geöffnet, wir kaufen uns eine Jahreskarte, und selbstverständlich wäre das Leben besser, der Himmel heller und der Ort schöner, wenn wir die Karte auch häufiger nutzen würden, aber im Sommer und im Herbst schwänzen wir, im Dezember haben wir keine Zeit, und nur im Januar, Februar und im Frühling noch mal kommen wir ganz gut in Schwung, damit wir uns an den Sonnenstränden des Sommers auch wieder aus dem Wasser trauen können. Sonst aber setzt die Jahreskarte Staub an, und wir grinsen ein wenig verlegen, wenn wir Valli irgendwo begegnen, der stets vor Gesundheit, Frische und guter Laune nur so strahlt und Strähnchen im blonden Haar hat.

Kommst du, um ein bisschen zu trainieren?, fragt Valli, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich neben Kristin und legt ihr den muskelbepackten Arm um die Schulter. Ja, sagt sie, ich habe mir gedacht, aber Valli macht psst, zieht sie mit sich zu einem Tisch in der Ecke, merkt an, Denken und Zögern seien so gut wie Verlieren, und Kristin weiß gar nicht, wie ihr geschieht, ehe sie Anorak, Pullover und Socken ausgezogen hat und auf der Waage steht. Da hat Valli ihr schon den Blutdruck und ihre Größe gemessen, vorsichtig ihren Körper abgetastet, fast wie ein Arzt, und, sagt er, oft sei er beides in einem, Arzt und Priester.