Fünf

Vierundzwanzig Stunden, nachdem er in einem Londoner Pub nicht weit von einer ägyptischen Mumie, einem Relikt des Lebens vor 4000 Jahren, gesessen hatte, stand Benedikt wieder auf dem heimischen Hofplatz, der Hund dicht neben ihm ließ vor lauter Glück die Zunge hängen, und es war nichts um sie herum als Luft. Benedikt hätte endlos laufen können, ohne auf etwas anderes zu stoßen als Luft, in London dagegen konnte er kaum den Arm ausstrecken, ohne einen anderen Menschen zu berühren, manchmal war das Gedränge so dicht, dass man sich kaum umdrehen konnte. Ob in den dichtbefahrensten Straßen überhaupt genügend Sauerstoff vorhanden war? Jedenfalls hatte ich manchmal echt Probleme, Luft zu kriegen, sagte er zum Hund, der zu ihm aufsah und alles verstand. Benedikt grinste und dachte an die Postkarten, die er aufgegeben hatte, er und der Araber, mindestens drei Stück waren es, auf einer hatte er den Golfstrom und die Mumie erwähnt, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was auf den anderen stand. Bald würden sie ins Dorf kommen, und Agüstas rotgemalte Lippen würden sich über sie hermachen. Wer seine Gefühle offen zeigt, kann nicht ganz dicht sein, erst recht nicht, wer sie auf Postkarten verewigt. Man könnte denken, sagte Benedikt zum Hund, ich wäre so ein Popstar oder ein Dichter. Komm, wir wollen uns diesen Schwachsinn mit ein bisschen Arbeit austreiben!

Aber dann ereignete sich Folgendes, und unsere Hände zittern ein bisschen dabei, was soll man sagen, es war Sommer.

Juni, auch bei den ägyptischen Mumien, die Schafe sind mit sämtlichen Lämmern im Hochland und knabbern Isländisch Moos und trinken aus Bächen, später kommt dann der Herbst, und sie werden zu gekühlten Schafshälften verarbeitet, landen auf dem Grill oder im Backofen, und wir essen sie, ohne einen Gedanken an das zu verschwenden, was ihren Augen diese Klarheit verliehen hat. Benedikt traute sich kaum in den Ort, musste aber zum Einkaufen dorthin. Er parkte vor Lagerinn und fragte die drei drinnen leise, ob sie etwas von gewissen Postkarten gehört hätten, und das hatten sie allerdings. Scheiße, sagte Benedikt und wurde so kleinlaut, dass Kjartan, dem schon das Fell gejuckt hatte, ihn so richtig hochzunehmen deswegen, fast völlig davon abließ und stattdessen sogar für ihn zum Einkaufen hinüber in den Genossenschaftsladen trabte, während Davið mit Benedikt eine Partie Schach spielte und Matthias erzählte, der Laden würde wohl bald Konkurs anmelden. Hoffentlich sehr bald, dachte Benedikt, dann haben die Leute an anderes zu denken als an die Postkarten.

Und was dann?, fragte Davið zwischen zwei Zügen.

Irgendeine große Kette wird uns schlucken, sagte Matthias.

Tja, siebzig Jahre Genossenschaftsgeschichte im Eimer, sagt Davið und schüttelt den Kopf, Benedikt sagt nichts dazu, denn siebzig Jahre sind bloß ein Atemzug im Vergleich mit ägyptischen Mumien.

Du solltest ihr einen Besuch abstatten, sagt Kjartan, als er mit Tüten beladen wiederkommt, Benedikt schüttelt den Kopf, sagt Nein und fährt nachhause. Ums Verrecken würde er sich nicht trauen, Þuríður zu besuchen, er hat die Karten aufgedeckt, steht völlig schutzlos da, und wenn er ihr schon gegenübertreten soll, dann zuhause, wo er sich wenigstens an einem Zaunpfahl abstützen kann. – turiöur besucht ihn an einem wolkigen Tag.

Auf einmal steht sie auf dem Hof, in schwarzen Jeans und rotem Pullover, auch mit den Stiefeln an den Füßen, bemerkenswert, wie gut ihr dunkles Haar zu all dem passt, Wolken, Tageslicht, vergehende Zeit. Benedikt streicht gerade das Haus, hält einen Pinsel in der Hand, legt den Pinsel erst mal weg, vielleicht, um sie besser ansehen zu können, es ziehen Wolken da oben, warum denkt er jetzt an Wolken? Auf Benedikts Land stehen alle Zaunpfosten wie eine Eins, ob es nun zwanghaft oder aus Ehrgeiz so ist, jedenfalls ist es manchmal tröstlich, dass man wenigstens etwas im Leben gerade auf die Reihe kriegt, aber warum jetzt an Zaunpfähle denken, der Himmel ist blauer als dieser Tag, ein blauer Himmel passt hervorragend zu Lederstiefeln und dunklen Haaren, sicher trug Maria Magdalena Stiefel, als Jesus sie zum ersten Mal sah, und er hat ganz sicher an die Zaunpfähle seiner Zeit denken müssen, um nicht verrückt zu werden. Gab es zu Zeiten von Jesus schon Lederstiefel?, fragt Benedikt, völlig blödsinnige Frage natürlich, und sie lächelt auch. Diese Lippen dürfen mich anbeißen, denkt er.

Danke für die Postkarten, sagt sie schließlich und ist näher auf ihn zugetreten. Erst lag der ganze Hof zwischen ihnen, jetzt nur noch ein paar Steinchen, der Hund hat schon seine Vorderpfoten auf ihren Hüften, sie die rechte Hand auf seinem Kopf.

Waren es vier aus London?, fragt er zurückhaltend.

Drei, sagt sie und lächelt noch breiter. Hast du dermaßen einen sitzen gehabt, fragt sie und lacht auf. Er antwortet lange nichts, sieht ihr nur in die Augen, denn was ist eine viertausend Jahre alte Mumie gegen zwei lebendige Augen?

Ja, sagt er schließlich, ich war so breit, dass ich nicht mal an Agusta gedacht habe.

Sie hat sich keine Zurückhaltung auferlegt hinsichtlich der Karten.

Sie waren an dich gerichtet, nicht an die Allgemeinheit, sagt er.

Würdest du so etwas auch schreiben, wenn du nüchtern bist?

Ja, antwortet er sofort, ohne sich genau zu erinnern, was auf den Karten stand. Da tritt fmriöur noch näher, so nah, dass man glauben könnte, sie stünden in der Enge einer Großstadt oder in einem überfüllten Aufzug, aber nicht auf einem offenen Hofplatz mit reichlich Luft und Platz um sich herum.

Ja, sagt er noch einmal, und sie kommt noch näher, ihr warmer, etwas süßer Atem könnte mit Leichtigkeit einen Grönlandgletscher zum Schmelzen bringen, dann würde der Meeresspiegel ansteigen, und viele Menschen

würden ertrinken, zum Beispiel in Reykjavik oder Akranes und ganz sicher in isafjöröur, das auf einer Sandbank mitten in einem Fjord liegt.

Ich werde nicht in Richtung der Grönlandgletscher atmen, verspricht sie, kommst du noch etwas näher, fragt er behutsam, ja, bist du sicher, fragt er ungläubig, und sie antwortet damit, dass sie sich noch näher an ihn drängt, so nah, dass er ihre Schenkel spürt und ihre Brüste, es ist so lange her, seit er das letzte Mal Brüste gefühlt hat, er versucht, an ägyptische Mumien zu denken, aber selbst ein viertausend Jahre alter Toter kann ihm jetzt nicht mehr helfen, sie ist so dicht bei ihm, dass sie fühlen muss, was an ihm vorgeht, und das tut sie auch, Verzeihung, möchte er sagen, aber da presst sie sich gegen ihn, und Benedikt holt Luft, der Himmel erzittert und die Zeit vergeht, wahrscheinlich so an die viertausend Jahre. Dann löst sie sich von ihm, tritt zwei Schritte zurück, und er hat das Gefühl, unangenehm viel Platz um sich zu haben.

Ich komme morgen wieder, sagt sie, kannst du nicht jetzt kommen, fragt er, nein, gib uns eine schlaflose Nacht, nein, überspringen wir sie, ich kann nicht länger warten. Natürlich kannst du warten, und morgen komme ich mit dem Umzugswagen, sagt sie, steigt in ihr Auto, startet, dreht das Fenster herunter und sagt: Wir werden große Kinder bekommen.

Was soll man sagen, manchmal dauert es bis zum nächsten Tag so lang, dass viertausend Jahre nichts dagegen sind, und manchmal kommt der nächste Tag nie. Þuríður fährt in den Ort zurück, Benedikt und der Hund sehen ihr nach, bis der Wagen verschwunden ist, dann hüpft Benedikt über den Hof, und der Hund springt ihm nach. Dann geht Benedikt ins Haus, sucht die Adresse des Arabers heraus und das isländisch-englische Wörterbuch und beginnt einen Brief.

Dear friend, now I can touch the sky!

Es macht richtig Spaß, einen Brief zu schreiben, wenn man glücklich ist, dagegen ist es gefährlich, in diesem Zustand Auto zu fahren, man ist mit den Gedanken ganz woanders, konzentriert sich nicht. Irgendwo zwischen Benedikts Hof und dem Ort passt Þuriður nicht auf und kommt an einer unübersichtlichen Stelle von der Straße ab, wo es steil abfällt, der Wagen überschlägt sich dreimal. Unten ragt ein Felsblock aus dem Geröll, Wind und Regen haben ihn über einen langen Zeitraum hinweg geformt, er war noch ein ganz gewöhnlicher Felsen, als die Mumie in Ägypten lebte und litt, doch jetzt, viertausend Jahre später, steht er da wie eine überdimensionale Pfeilspitze. Der Wagen rollte über ihn hinweg, auf der Fahrerseite drang er durch das Seitenfenster ein, und wenn ein menschlicher Schädel und ein Fels zusammenprallen, geht der Schädel kaputt. Der Fels hatte also die ganze Zeit bloß an dieser Stelle gestanden, um einmal einen Menschen umzubringen.

Es kostete Benedikt viel Zeit, ihn auszugraben, er begann mit Brechstange, Hacke und Schaufel, das Auto oben an der Straße, doch bald holte er den Traktor mit der großen Gabel, morgens früh fing er an, und es war fast Mitternacht, als er den Stein herausbekam, der auf dem Heuwagen harmlos wirkte, als Benedikt ihn zum Hof fuhr. Der Stein reichte ihm bis an die Brust und sah dann doch wieder ziemlich imposant aus, als er ihn genau da ablud, wo er und turiöur beieinandergestanden hatten. Den ganzen Sommer über, den Herbst und auch den Winter hindurch ging Benedikt in jedem Wetter hinaus und bearbeitete den Felsen mit dem Vorschlaghammer, er besorgte sich eine Schutzbrille, um nicht das Augenlicht zu riskieren, obwohl er gar nicht viel sehen musste, nur eben den Stein, und es tat ihm gut, auf ihn einzudreschen, den Fels zu zermalmen, die Splitter in alle Richtungen spritzen zu sehen, es tat gut, blutige Schrammen im Gesicht und an den Armen zu bekommen, es war wohl so ziemlich das Einzige, was guttat, aber es tat nicht richtig gut. Dann kam das Frühjahr, am Himmel wie auf Erden, der Frost verschwand nach und nach aus dem Boden, die Vögel kehrten zurück, die Sonne wurde größer, und der Felsen stand nicht länger auf dem Hof, er war zu kleinen Steintrümmern geworden. Benedikt lehnte sich an die Hauswand, es gab nur ihn, den Hund und eine braune Reisetasche im Wohnzimmer, die auf die Hand wartete, an der die Erde bedächtig arbeitete. Der Hund heißt Kolur. Benedikt und Kolur. Ein Hund altert schneller als ein Mensch, in sieben oder acht Jahren wird nur Benedikt noch übrig sein. Und was dann?