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»E … E … Es ist so we … weit … Zwölfter Mai neunzehnhundertneunundvierzig … Nu … null Uhr eins … D … Der Schlagbaum hebt sich hier am Kontrollpunkt Helmstedt … D … Die Blockade ist zu Ende … B … Be … Berlin ist kei … keine Insel mehr …«
Der Mann, der diese Worte, langsam und stotternd, keineswegs lallend, obwohl seit Stunden trinkend, in ein Handmikrofon sprach, war Klaus Mario Schreiber. Seine Akne blühte, daß es eine Freude war! Das Mikrofon war verbunden mit einem Tonbandkoffer, der sich auf dem Wagenboden eines brandneuen Porsche hinter den Vordersitzen befand. Die Spulen des Apparates drehten sich langsam, grün glühte das magische Auge des batteriegespeisten Magnetofons, das ebenfalls brandneu war und lächerliche zweiundzwanzig Kilogramm wog.
»…so also sieht das E … Ende aus«, sprach Schreiber. »Und so der A … Anfang! Keine Fa … Fackelzüge vermutlich in Berlin, kein Freudengeheul! Ein Knipsen am Schalter nach zehn Mo … Monaten Finsternis – und es wird Licht! … Verflucht, Chef, fa … fahren Sie nicht so nervös! Jetzt ha … habe ich mir das Hemd mit Whi … Whisky versau … saut! … Fliedersträuße … Fliedersträuße fliegen in die Wagen, die sich vom We … Westen aus nach Berlin auf den We … Weg machen … OKAY ist na … natürlich dabei …«
Jakob Formann, neben Schreiber am Steuer des Porsche, spuckte fluchend Fliederblüten aus, während er sich mühte, im Feuer von blitzenden Fotografen und gleißenden Scheinwerfern der Wochenschauleute in keinen anderen Wagen hineinzufahren und gleichzeitig zu verhindern, daß ein anderer Wagen in ihn hineinfuhr.
Klaus Mario Schreiber nahm abermals einen kräftigen Schluck, bevor er Stichworte für seinen großen Bericht über das Ende der Blockade in das Mikrofon sprach: »… viele Hu … Hunderte von Journalisten aus der ga … ganzen Welt … Funkreporter … alliierte Offiziere … Neugierige … Der Schla … lagbaum … wir fahren unter ihm durch … Ha … Haben wir noch eine P … Pulle Whisky? Go … Gott sei Dank. Die ist fast leer. Und wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vo … vor uns … Wir fahren … fahren … Fi … Finsternis … Wald … Zwei Kilometer Niemandsland … Jetzt ha … haben wir den sowjetischen Kontrollpunkt erreicht … Nur schwach beleuchtet … Ein paar sowjetische Offiziere, ein paar Volkspolizisten, sehr höflich, aber reserviert … K … Kein … Publikum … Kei … Keine Freudenstimmung … M … Moment, ich steige aus … Sinnlos … bi … bin schon wieder im Wagen … In den Ko … Kontrollräumen der drei W … Westmächte und der Polizei gibt es nur vier Telefone … Die Journalisten, die ihren Bericht du … durchte … telefonieren wollen, p … prügeln sich … Die Schlagbäume hier sind geöffnet … Wir fahren in die Zo … Zone … Na … Nacht und Finsternis hüllen uns ein … Prima Wa … Wagen, Chef! Das ha … haben wir fein gemacht …!«
1949 – BRD und DDR
4. April: Nordatlantikpakt (NATO) (Bundesrepublik tritt 1955 bei).
5. Mai: Europarat in Straßburg gegründet (Bundesrepublik tritt 1951 bei).
8. Mai: Der Parlamentarische Rat nimmt das (vorläufige) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (BR) an.
12. Mai: 00.01 Uhr: Aufhebung der Berliner Blockade. In 274 718 Flügen kamen 2 Millionen Tonnen Konsumgüter über die Luftbrücke.
24. Mai: Grundgesetz tritt in Kraft.
30. Mai: Sowjetzone: Wahl des »Deutschen Volksrats« durch den »Deutschen Volkskongreß«.
14. August: Wahl des ersten Bundestages.
7. September: Bundestag tritt in Bonn zusammen. Damit ist die BR konstituiert.
12. September: Bundesversammlung wählt Theodor Heuss (FDP) zum Bundespräsidenten (Wiederwahl am 17. 7. 54).
15. September: Heuss schlägt Konrad Adenauer (CDU) zum Bundeskanzler vor. Im ersten Kabinett Adenauer ist Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (ab 1950: »Soziale Marktwirtschaft«).
1. Oktober: Mao Tse-tung gibt die Gründung der Volksrepublik China bekannt.
7. Oktober: Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Kraft getreten. Wilhelm Pieck Präsident der Republik, Otto Grotewohl bildet die Regierung.
13. Oktober: Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) gegründet. Beim ersten Empfang des Bundespräsidenten Heuss auf Schloß Brühl wurden pro Kopf für jeden der 1500 Gäste DM 3,50 ausgegeben – für 1/8 Liter Wein, 2 Tassen Tee und etwas Gebäck.
Eine Trambahnfahrt kostet in München 20 D-Pfennige.
»Germans free to travel« – Deutsche dürfen (mit erheblichen behördlichen Schwierigkeiten bei der Genehmigung) ins Ausland reisen.
J. C. E. Shannon u. W. Weaver: »The mathematical theory of communication« – Begründung der Informationstheorie.
Bühne: Werner Egks Ballett »Abraxas« hat Skandale und behördliches Einschreiten (Bayer. Kultusminister Hundhammer) zur Folge.
Erste Buchmesse in Frankfurt am Main.
Bücher: Graham Greene: »Der dritte Mann«; George Orwell: »1984«; C. W. Ceram (Kurt Marek): »Götter. Gräber und Gelehrte«.
Filme: »Der dritte Mann« (USA, Orson Welles, Regie Carol Reed); »Der Engel mit der Posaune« (Österr., Paula Wessely).
»Saufen Sie nicht soviel, Schreiber«, sagte Jakob, angestrengt in die Nacht starrend, während er in der Kolonne der anderen Wagen über die reichlich schadhafte Autobahn sauste.
Er dachte nach.
Seine Gedanken wanderten, wanderten …
Ich muß mit Schreiber nach Berlin, klar. Für OKAY. Senkmann, unser Starfotograf, ist mit einem amerikanischen Offizier gefahren. In dessen Jeep. In meinem Porsche ist kein Platz für drei Leute. Senkmann hat wie ein Verrückter fotografiert da in Helmstedt. Wird wie ein Verrückter fotografieren, wenn wir den Kontrollpunkt Dreilinden von Berlin erreichen … die Avus … den Funkturm … die wieder freie Stadt!
»Verflucht noch mal, ge … geht denn diese Drecksflasche überha … haupt nicht auf? … Ah, jetzt! Endlich …« Schreiber genehmigte sich einen großen Schluck und plauderte weiter: »Die Berliner ha … haben durchgehalten … Da brau … brauchen wir Angaben über die Lu … Luftbrücke … Sucht mir unser Ar … Archiv raus … wie … wie viele Flüge … Abstürze … To … Tonnen befördert … Ta … Tag und Nacht … Sommer und Winter … bei Ge … Gewitter, Schneestürmen und Hagelschauern … in Hi … Hitze und K … Kälte … Wo … Woche für Woche … Monat für Monat … Alle d … drei Minuten ist eine M … Maschine in Tempelhof gelandet, alle drei M … Minuten ist eine zum Rückflug gestartet … Ein K … Krach war das, Chef! Ich wa … war doch dreimal oben! Ihr eigenes Wort haben Sie nicht gehört! Alle drei Minuten ein R … Rosinenbomber! Z … Zehn Monate lang! Prost, Chef!«
»Sie sollen nicht so viel saufen, Schreiber!«
»Jawohl, Chef. N … Nicht s … so viel s … saufen! … Auf Ihr ganz Spezielles, Chef!«
Jakob brummte nur. Er versank wieder in Gedanken. Kinder, wie die Zeit vergeht! Am 3. November war ich wieder in München. Voriges Jahr! November, Dezember … sieben Monate ist das schon her! Hat sich allerhand getan in diesen sieben Monaten. Mit OKAY sind wir weit über der Halbmillionengrenze. Wir arbeiten nicht länger in der Ruine. Ich habe ein Haus am Karolinenplatz gekauft, das stehengeblieben ist. Einem Schieber hat es gehört, der nach der Währungsreform plötzlich am Ende war und unbedingt weg wollte aus München. Vielleicht nach Frankfurt, wo es noch ein bißchen zu schieben gab. Zwei Millionen D-Mark hat er verlangt für das Riesenhaus. Die habe ich anstandslos als Kredit von der Bank bekommen. Wohnungen für die wichtigsten Mitarbeiter habe ich gekauft. Ich schlafe im Redaktionsgebäude. Zwei Zimmer mit Küche habe ich da. Mir genügt’s! Was soll ich mit mehr? Das Pentagon-Geschäft ist fast abgewickelt. Ingenieur Jaschke macht draußen in Murnau Überschichten mit seinen Leuten. Natürlich hat er auch eine Wohnung gefunden und braucht kein Bootshaus mehr. Der Attinger-Bauer hat das Geschäft seines Lebens mit den Klo-Muscheln und Waschbecken gemacht. Alle haben sie ihr Geschäft gemacht. Und machen es weiter!
Der Plastics-Mann, dieser Dr. Addams Jones, den ich in den USA eingekauft habe, der baut drei Werke zur gleichen Zeit aus Ruinen auf! Ein toller Bursche! Glänzend deutsch spricht er. Aber eine Villa an der Elbchaussee in Hamburg habe ich für ihn mieten müssen. Er hat einfach darauf bestanden. Und auf einem VW. Und auf einem Diener. Und … dieser Kerl verlangt dauernd was Neues, mit dem werde ich noch Ärger kriegen, das spüre ich! Und dabei ist er so ein toller Kerl …
Trotzdem, es ist einfach nicht zu fassen, daß mich der Bau aller dieser Werke nicht nur nichts kostet, sondern daß ich daran sogar verdiene! Selber wäre ich nie draufgekommen. Aber der Franzl! Ach, der Franzl …