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»Auf das herrliche Lustspiel ›Faust‹ und auf den genialen deutschen Dichter Wolfgang Schiller, der es geschrieben hat!« rief, lichterloh begeistert, der sonst so stille Major Blaschenko.
»Auf den werten Genossen Major Blaschenko!« rief Jakob.
»Auf Wolfgang Schiller, den deutschen Lieblingsschriftsteller des genialen Genossen Stalin!« konterte Blaschenko.
Wer da seinen Wodka nicht hinunterkippte, spielte mit seinem Leben.
Also kippte jedermann schnellstens.
»Der weise Genosse Stalin hat gesagt: ›Die Hitler kommen und gehen. Aber das deutsche Volk bleibt bestehen‹«, revanchierte sich Jakob.
Da capo!
Solche Saufereien um Leben und Tod sollten Jakob in späterer Zeit noch häufig widerfahren. Dies war die erste. Er hatte, klug und vorsichtig (in Jakobs Vokabular zwei Wörter für den gleichen Begriff) einen Viertelliter Sonnenblumenöl getrunken, bevor die Feier begann, und Jelena dringendst geraten, ein Gleiches zu tun. Auf diese Weise ertrugen die beiden das Stunden währende Fest und unzählige weitere Toasts, indessen die Gastgeber selig entschlummerten, einer nach dem anderen. Als letzter rutschte der gute Major Blaschenko unter den Tisch. Schon ein toller Kerl, dachte Jakob, hab’ ihn wirklich liebgewonnen. Allein was sein muß, muß sein.
Zusammen mit Jelena schleppte er den schnarchenden Major in dessen Baracke. Dort zogen sie ihm die Uniform und die Stiefel aus. Jakob legte seine verdreckte Uniform der Deutschen Wehrmacht sel. ab. Dann zog er die Uniform des Majors Blaschenko und dessen Stiefel an. In der Uniformjacke befanden sich, wie es die Dienstvorschrift befahl, alle militärischen Personalpapiere des Lagerkommandanten.
Eine Viertelstunde später chauffierte Jelena den Jeep des Kommandanten zum Lagertor, wo zwei – mächtig angetrunkene – Wachen mit Maschinenpistolen standen. Jelena überreichte den Herren einen Fahrbefehl für den neben ihr sitzenden Major und einen für sich, beide ausgestellt nach Wien. Der Major rauchte gelangweilt eine überlange Papirossa. Die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen. Er schnauzte ein paar russische Brocken. Die besoffenen Wachen salutierten. Der Schlagbaum ging hoch. Jelena trat den Gashebel hinunter. Der Jeep schoß auf einen vereisten Feldweg hinaus.
Anläßlich seiner Tätigkeit in der Schreibstube hatte Jakob reichlich Muße und Gelegenheit gehabt, alle erforderlichen Dokumente für Jelena und sich auszufüllen, zu stempeln und mit dem Namen des Majors Blaschenko zu unterschreiben. In Voraussicht auf das Ende der Reise lagen in der Ledertasche neben ihm nun auch absolut echte Entlassungs-, Heimkehrererlaubnis- und andere Papiere auf den Namen Jakob Formann, Schütze. Er hatte Muße und Gelegenheit genug gehabt, um für etwas mehr als hundertfünfzig Kameraden alle diese Papiere in den vergangenen Wochen auszustellen. Manche Kameraden waren aus Österreich, die meisten aus Deutschland. Zu der Zeit, da die beiden besoffenen Wachen am Haupttor des Lagers die Insassen des Jeeps kontrollierten, kletterten die hundertfünfzig Gefangenen der Deutschen Wehrmacht unseligen Angedenkens über die Drahtumzäunung des Lagers und machten sich teils in Gruppen, teils allein, nach allen Himmelsrichtungen hin auf den Heimweg. Jelena hatte zum Glück alle ihre alten Papiere aufbewahrt, die sie als Deutsche auswiesen, zuletzt wohnhaft in der Hansestadt Hamburg, daselbst im Hause Adolfstraße 81.
»Vorwärts, Sergeant«, sagte er nun, in tiefer Nacht. »Ein bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf!«
»Jawohl, Genosse Major«, erwiderte Jelena.
Sie sprachen deutsch miteinander.