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Ihre Reise währte sieben Tage, und siehe, es war eine sentimentale Reise. Sie fuhren nämlich nur durch polnisches und tschechisches Gebiet, also solches, das die Russen freigekämpft hatten. Infolgedessen wurden sie immer wieder umarmt, geküßt und mit Einladungen aufgehalten. Wo es nur ging, fuhren sie abseits der größeren Städte über Nebenstraßen. Es gab viele Kontrollen durch sowjetische Militärpolizei. Alle verliefen ohne Ärger. Die Rotarmisten sahen die (sowjetischen) Papiere an, grüßten und wünschten gute Weiterreise. Mit einem feinen Lächeln salutierte dann jedesmal Jakob, und oft hatte er ein lobendes Wort für die tapferen Genossen der glorreichen Roten Armee bereit. Sein Sergeant saß in solchen Fällen ernst am Steuer. Sie fuhren am liebsten nachts und schliefen am Tag, oder sie fuhren abwechselnd. So ging natürlich Zeit verloren. Aber sie kamen voran. Ihr Weg führte sie immer weiter südwärts. In den großen Städten, denen sie nicht ausweichen konnten, wurden sie von glücklichen, befreiten Bürgern gefeiert. Hausfrauen holten letzte Reserven aus den Verstecken und bereiteten köstliche Mahlzeiten. In Pardubice verdarb sich Jakob, an vieles Essen nicht mehr gewöhnt, zum erstenmal den Magen. Er sollte ihn sich noch einige Male verderben, so in Chrudim und Brno (früher Brünn).

In Pohorelice, einem Nest nahe der österreichischen Grenze, blieb Jakob und Jelena nichts anderes übrig, als im Beisein aller Dorfbewohner eine Dankes- und Liebeserklärung des Bürgermeisters über sich ergehen zu lassen. (Gottlob lagen in Pohorelice keine Rotarmisten.) Jakob ertrug des Bürgermeisters Worte mit Fassung, jedoch unruhig und sagte mit wenigen Worten (viele hatte er nicht), er müsse trotz aller Freude über einen solchen Empfang sofort weiter. Der Dienst …

Jelena und Jakob wurden zu ihrem Jeep begleitet. Diesen hatten die dankbaren Bewohner von Pohorelice mit Lebensmitteln aller Art derartig gefüllt, daß Jakob sorgenvoll darüber nachdachte, wie stark wohl die Radachsen eines Jeeps waren.

»Fahren Sie, Sergeant«, sagte Jakob zu Jelena, auf russisch. »Die Zeit drängt!«

Jelena fuhr los. Die Menschen wichen nur zögernd zurück. Jakob stand aufrecht im Jeep, eine Hand zur Faust geballt. Die Zurückbleibenden sangen die tschechische Nationalhymne. Eine halbe Stunde später sagte Jakob, nun wieder deutsch, zu Jelena: »Die Zeit drängt wirklich. Noch eine sowjetische Kontrolle riskiere ich nicht. Die Nachrichtenverbindungen sind zwar sehr schlecht, und der arme Jurij wird sich zuerst auch sehr geschämt und Angst gehabt haben, als er aufgewacht ist, aber irgendwann hat er doch verlauten lassen müssen, daß ihm hundertfünfzig Gefangene und sein eigener Fahrer abgehauen sind.«

In Mukulow, einem Ort unmittelbar an der österreichischen Grenze, hielt Jelena darum vor einem verlassenen Haus. Mit Jakob ging sie in das verlassene Haus hinein. Sie suchten Zivilkleidung. Sie fanden Zivilkleidung. Als sie sich auszogen, um sich umzuziehen, führte Jakob seinen Sergeanten Jelena zu einer Bettstatt.

»Bist du verrückt geworden«, protestierte sie. »Jetzt? Du hast doch selber gesagt, daß wir keine Zeit haben!«

»Dafür hat man immer Zeit«, sagte er, sich über sie neigend.

Eine Stunde später verließen eine Frau und ein Mann das Haus – es war inzwischen dunkel geworden. Die Frau trug ein Wollkleid von blauer und weißer Farbe, einen alten Regenmantel und Stiefel. Der Mann trug einen grauen Anzug, dessen Hose und Jackenärmel ihm zu kurz waren, einen grauen Mantel, der ihm zu lang war, ein weißorange gestreiftes Hemd ohne Krawatte (ausgerechnet eine solche hatte sich nicht finden lassen!), klobige Schuhe und Strümpfe, von denen der linke ein Loch über der Ferse zeigte. Auch mit Strümpfen war es ein Jammer in diesem Haus gewesen.

Den Jeep (made in USA) fuhr Jakob in dichtes Gebüsch. Seine Uniformstücke und die des Sergeanten Jelena trug er sodann zu einem romantischen Fluß, beschwerte die Taschen der Uniformen mit Steinen und versenkte sie mitsamt allen sowjetischen Militärpapieren just zu einem Zeitpunkt, an dem gerade viele Pferdeleichen den romantischen Fluß heruntergeschwommen kamen.

Ohne Zwischenfall erreichten die beiden dann in einem Tag Wien. Hier war die Zeit des Abschieds gekommen. Jelena mußte sich schnellstens um eine Reisegenehmigung kümmern, die sie berechtigte, mit einem DP-Zug nach Hamburg zu fahren, wobei DP die Abkürzung für ›Displaced Persons‹ (›Verschleppte Personen‹) und ein Zug nach Hamburg natürlich nicht ein Zug nach Hamburg bedeutete. Jeder Zug fuhr nur Teilstrecken, die unzerstört geblieben waren, dann mußten die Reisenden Anschluß an andere Züge suchen, welche sie ihrem Ziel näherbrachten. Hauptsache, sagten die österreichischen Behörden, sie hatten die Ausländer aus dem Land.

»In drei, vier Wochen bist du gewiß in Hamburg«, erklärte Jakob. »Und bei deinem Harry.«

»Ach, Jakob«, seufzte Jelena, und Tränen schossen in ihre wunderschönen blauen Augen.

»Warum weinst du, mein Herz?« forschte er behutsam.

»Du weißt, ich liebe Harry …«

»Na ja doch!«

»… aber niemals, niemals, hörst du, werde ich vergessen, was du mir Gutes getan hast!« rief Jelena Wanderowa.

Hurra, wir leben noch
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