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Die Kellnerin Claudine Aubert war eine gesunde, bildhübsche Person von bäuerlicher Herkunft, aus dem Departement Maine-et-Loire. Niemals in ihrem bewegten Leben war sie auch nur einen einzigen Tag lang krank gewesen. Eines Nachts allerdings hatte sie geglaubt, verrückt zu sein. Das war die Nacht vom 14. April 1956 gewesen.
In der Nacht vom 14. April 1956 – die glutäugige Claudine mit dem Katzengesicht und dem aufregend-üppigen Körper dachte, sie würde das Datum nie vergessen (sie war eben noch sehr jung und wußte nicht, daß alle Dinge vergessen werden nach einer kleinen Weile) – hatte ein Mann die Boîte de cul betreten, in der sie arbeitete.
Boîte heißt im Französischen soviel wie Schachtel, Büchse, Dose, Kapsel, kleines Theater, Briefkasten, Penne, Bude, Kasten, Lokal. Boîte de nuit ist durchaus nichts Ehrenrühriges. Boîte allein kann nämlich auch Stampe, Beisel, Stehbierausschank, Kneipe heißen; folglich ist Boîte de nuit ein Nachtlokal. Boîte de cul hingegen ist ehrenrührig, wird aber nicht immer so empfunden. Cul heißt nämlich Arsch. Man kann auch sehr freundlich Arsch sagen.
Die Boîte de cul AU JAUNE CHIEN (›Zum Gelben Hund‹) liegt im Zwanzigsten Arrondissement von Paris. Dieser zwanzigste Bezirk heißt Belleville, und dieser Name ist reiner Hohn, denn Belleville ist sozusagen das Arrondissement de cul von Paris. Was man so Nachtjackenviertel nennt oder Glasscherbenviertel. Das Letzte. Das Allerletzte. Das Häßlichste. Der Arsch von Paris. Natürlich, wie es so der Brauch ist, reserviert für Proletarier, alte Leute, kranke Leute, arme Leute, Schwarze, Juden und Araber.
Den Namen der Straße, in welcher sich der ›Gelbe Hund‹ befindet, verschweigen wir – man hat uns innig darum gebeten. Wir wollen nicht noch mehr Unglück über die armen Teufel von Belleville bringen, auf keinen Fall!
Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war Claudine Aubert eine Frau von großer Erfahrung und mit einem großen Herzen. Deshalb nahm sie sich auch sogleich des Mannes in dem viel zu feinen Anzug (er trug sogar eine Krawatte) an, der in der Nacht vom 14. April 1956, gegen 23 Uhr, in den ›Gelben Hund‹ kam. Hier ging es zu wie immer. Die Huren plauderten mit ihren Luden, ein paar Araber mit ein paar Arabern und ein Jude mit einem andern Juden. Es waren auch ein paar ältere Arbeiter da. Sie standen an der Theke und tranken billigen Rotwein oder einen ›Kleinen Weißen‹, sie saßen an grob zusammengehauenen Holztischen auf grob zusammengehauenen Bänken und aßen Saucisses avec pommes frites. Das war das Billigste. Saucisses sind Würstchen.
Der viel zu feine Mann war Ausländer, das erkannte die erfahrene Claudine auf den ersten Blick. Er lächelte hilflos, grüßte nach allen Seiten, setzte sich dann und hielt einen Zeigefinger auf die Seite eines aufgeschlagenen Wörterbuchs.
Claudine las laut und verständnislos: »Graisse …«
»Oui«, sagte der junge Mann. (Netter Kerl, dachte Claudine, was der hier wohl macht?) »Oui, oui! Avec pain … Pain de graisse … viel … beaucoup … compris?« Claudine verstand nicht und gab das durch Kopfschütteln bekannt. »Brot! Pain! Nicht verstehen?« Kopfschütteln. »Mais oui, mais oui, mais oui!« rief der Herr, nun schon in gelinder Verzweiflung.
»Mais non, mais non, Monsieur«, antwortete Claudine. Andere Gäste mischten sich ein. Die Araber fragten den Herrn, ob er an Vierzehnjährigen interessiert sei. Garantiert jungfräulich, männlich oder weiblich oder beides. Die Huren schminkten die Lippen und schoben die Röcke zurück. Ein Jude fragte angstvoll: »Du Deutscher?«
Jakob Formann antwortete: »Österreicher!«
»La même chose«, sagte der Jude. Dann sagte er noch allerhand (Jakob glaubte das Wort ›Gestapo‹ zu verstehen) und verließ mit seinem Freund in Hast den ›Gelben Hund‹.
Der Fremdling wies auf ein anderes Wort in seinem Dictionnaire. Geradezu flehend sah er Claudine an, neben der jetzt auch der verfettete Wirt aufgetaucht war.
Wirt und Claudine lasen: ›creton‹. Das heißt: Der Wirt, der weitsichtig war und Kleingedrucktes schwer lesen konnte, las zuerst ›cretin‹, geriet in Wut, wollte den Herrn hinauswerfen und mußte erst von Claudine und ein paar vernünftigen Arbeitern, die ihre Würstchen aßen, besänftigt werden.
Einer der Arbeiter hatte endlich eine vernünftige Idee.
»So kommen wir nicht weiter, Louis«, sagte er zu dem fetten Wirt. »Geh nebenan und läute Emile raus.«
»Um die Zeit? Mensch, der haut mir die Fresse ein!«
»Sag ihm, ein Deutscher ist da. Dann wird er kommen. Er ist doch auch Deutscher.«
»Merde alors«, sagte Louis, der Fette, und ging auf die Straße.
Nebenan gab es einen kleinen Metzgerladen. Nach fünf Minuten kam der fette Louis mit einem dünnen Mann im Schlafanzug und einem Mantel darüber zurück.
»Was ist los?« fragte der im Schlafanzug mißmutig und deutsch. Der Fremdling strahlte. »Sie sprechen deutsch?«
»Ungern.«
»Aber Sie sind Deutscher!«
»Auch ungern. Darum bin ich nach dem Krieg ja auch hiergeblieben. Ich habe die Tochter vom Metzger nebenan geheiratet. Der Alte ist inzwischen hinüber. Emile Drucker heiße ich. Und Sie?«
»Ja … Ich bin ein Tourist«, sagte Jakob. (Die Araber sprachen noch leiser und noch schneller.)
»Waren Sie auch Soldat?«
»So ungern wie Sie.«
»Wo?«
»Rußland, Norwegen, hauptsächlich Rußland. Saukrieg, verfluchter.«
Die Sonne ging auf in Emile Druckers Gesicht. Er haute Jakob auf die Schulter. »Du bist in Ordnung, Junge. Abgebrannt, was?«
»Ja. Nein!« Jakob sah die Araber an. Die Araber sahen ihn an. »Ja, doch! Ich habe mein Geld verloren. Übersetzen Sie das, bitte.«
Emile übersetzte.
»Merde alors«, sagte der fette Louis.
»Nicht alles! Ein bißchen habe ich noch. Ich möchte was essen, Herr Drucker.«
»Sag Emile zu mir, Kamerad!«
»Nur wenn du Jakob zu mir sagst.«
»D’accord, Jakob«, sagte Emile. »Wenn du was essen willst, warum gehst du dann nicht in die Hallen? Da ist es sehr billig. Eine Zwiebelsuppe haben die … Na ja, aber erst gegen Morgen, da müßtest du noch warten … Aber ein choucroute … Sauerkraut!«
»Mag ich nicht. Macht mir beides Sodbrennen. Pain de graisse will ich … avec viele cretons … Sag bloß, das gibt’s nicht hier.«
»Das heißt nicht graisse, Jakob. Das heißt saindoux. Mußt du dir merken. Sprich mir nach. Saindoux.«
»Säindu.«
»Weicher, Jakob, weicher. Sain-doux.«
»Säinduuu …«
»Ah!« Claudine strahlte Jakob an. Dann wurde sie ernst und sagte etwas.
»Was sagt sie?« fragte Jakob.
»So tief sind sie selbst im ›Gelben Hund‹ und in Belleville noch nicht gesunken, daß sie eine solche Sauerei fressen. Tut mir leid, Jakob, aber das hat sie gesagt.«
»Wieso Sauerei? Mit Grieben, Emile! Auf Graubrot! Mit Salz! Das ist doch das Beste, was es überhaupt gibt!«
»Ich bin schon zu lange hier. Ich kann mich nicht erinnern. Du bist ein bißchen verrückt, was, Jakob?«
Jakob nickte.
Der Metzger wandte sich an alle Anwesenden. Er hielt eine längere Ansprache, von der Jakob kein Wort verstand. Dem Sinne nach sagte Emile, der Kerl da sei zwar ein Deutscher wie er, aber ein anständiger Kerl. Wie er. Und ihn würden doch wohl alle als anständigen Kerl kennen – oder? Alle nickten. Sie hielten hier gute Nachbarschaft, denn sie waren alle arm. Emile sagte, wenn auch der ›Gelbe Hund‹ keine Schmalzbrote herzustellen imstande sei, weil es hier kein Schmalz und keine Grieben gebe – er, Emile, habe beides. Und er werde stets ausreichende Quantitäten zur Verfügung stellen. Denn der Fremdling – eben ein bißchen verrückt – habe die Absicht geäußert, wiederzukommen, wann immer er nur könne. Seiner Meinung nach, sagte Emile, sei das ein sehr wohlhabender und bekannter Mann. Aber, fügte er mit einem ernsten Blick auf die Huren und die Araber hinzu, dieser Verrückte stehe nun unter seinem und des Wirtes Schutz, n’est ce pas, Louis?
Der Fette nickte gramvoll. Die fehlte ihm gerade noch, die Polizei … Und zum Vögeln sei der Herr auch nicht hergekommen, sagte Emile, das sollten sich die Huren mal hinter die Ohren schreiben und ihn nicht belästigen. Emile sagte ›poules‹, was Hure, aber auch ›Hühnchen‹ heißt, ein Wort, welches Jakob kannte. In der feinen Form. Der da, sagte Emile, könnte sich ganz andere Poules leisten, nicht solche wie hier, mit ihren ausgeleierten …
»Ich hab’ wirklich genug«, sagte Jakob.
»Was?«
»Poules.«
»Wie viele hast du denn?«
»Ungefähr eine halbe Million«, gab Jakob bekannt.
Maßloses Erstaunen allerseits.
Sobald indessen das kleine Mißverständnis aufgeklärt war, erholten sich alle schnell von ihrem Schreck in der Abendstunde, und nun herrschte muntere Herzlichkeit. Man plauderte, man lachte. Lauter nette Leute, dachte Jakob. Huren, Juden, Neger, Araber, Arbeiter, Zuhälter – arm, verfemt, voller Sorgen, verachtet – immer noch das Beste, was es gibt!
Er sagte Emile, er solle allen sagen, daß er für alle eine Runde ausgebe. Hochrufe. Sämtliche Gäste Jakobs wollten Weißwein, Blanc de blanc. Nur Claudine nicht. Die bekam immer Kopfweh vom Blanc de blanc, und sie hatte das Gefühl, daß sie in dieser Nacht noch vonnöten sein werde. Was sie dann auch war. Zuletzt – nach der dritten Chinesischen Schlittenfahrt – hatte sie Kopfweh, ohne Blanc de blanc getrunken zu haben. Aber es war ein angenehmes, sanft drückendes Kopfweh, kein böse stechendes.
Emile rannte in seinen Metzgerladen und holte Schmalz und Grieben. Graubrot gab es nicht, nur die langen weißen Stangenbrote, die ›Flutes‹. Aber dann trieben sie in der Nachbarschaft sogar noch Graubrot für Jakob auf, bei dem Vertreter eines Begräbnisinstituts. Der milde Herr versprach gleichfalls, in jedem Bedarfsfall zu liefern. Emile schmierte Jakob die Brote persönlich, dick und mit viel Grieben und Salz drauf. Alle sahen gebannt zu. Von Zeit zu Zeit gab Jakob dem Wirt einen Wink. Dann war wieder eine Lokalrunde fällig. Alle betrachteten Jakob wie ein Wesen von einem anderen Stern, als er begann, das erste Schmalzbrot zu essen. Er bekam dabei einen ganz entrückten Gesichtsausdruck und mußte die Augen schließen vor so viel Glückseligkeit …
Eine Poule mußte weinen vor Rührung.
Zuletzt hatte Jakob sechs Schmalzbrote gegessen, und alle waren besoffen, der Wirt, der Metzger, der Begräbnisinstitutsvertreter inbegriffen. Claudine hatte ein Zimmer im Hause. Da wachte Jakob dann am nächsten Morgen auf – gegen neun Uhr. Claudine lag nackt neben ihm. Jakob wurde sofort sehr munter. Also dauerte es noch eine weitere Stunde, bis Claudine das Frühstück brachte. Jakob küßte ihr die Hand, als er das Tablett sah – es lagen drei Schmalzbrote neben der Boule mit dem Café au lait. Claudine sagte, sie liebe Jakob (sie sagte ›Jacques‹), und das verstand er sogar. »Ich aussi«, sagte er. »Komme immer wieder zu toi. Toujours.«
Claudine schmiegte sich an ihn.
»Merde alors«, sprach Claudine (sie arbeitete schon längere Zeit hier, und die nicht eben feine Art des fetten Wirtes Louis hatte auf sie abgefärbt).
»Pourquoi toujours maken Krieg français et deutsch? Warum nicht sein des amis? Nous sommes alle des frères et des sœurs devant le Bon Dieu.«
»Da hast du recht«, sagte Jakob. »Vor Gott sind wir alle Brüder und Schwestern. Aber die Industriebosse und die Scheißgeneräle, weißt du … lieber nicht davon reden … Komm noch einmal, meine kleine Schwester …«
Die kleine Schwester kam noch einmal.
Beim nächsten Besuch war Jakob dann schon wie das Kind im Haus. Die beiden alten Juden entschuldigten sich dafür, daß sie aus Angst weggelaufen waren, und deuteten zart an, sie würden auch sehr gerne einmal Schmalzbrote essen. Aber natürlich nur koscher, nur mit Gänseschmalz.
»Das ist aber ein Pech«, sagte Jakob.
»Was ist ein Pech?«
»Dem Emile sind die Gänse ausgegangen.«
»Ach …«
»Gestern hat er noch welche gehabt, sagt Louis.«
»Gerechter Gott«, sagte der erste Jude erschüttert. Und erkundigte sich, um Fassung ringend: »Waren sie wenigstens richtig fett?«
In anderen Städten, anderen Erdteilen, die er mit der Edlen besuchte, hatte Jakob sich das ähnlich eingerichtet. Hier in Paris ging er abends nach dem feierlichen Mahl, im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS häufig in den ›Gelben Hund‹ essen. Richtig essen. Die Edle und ihre Nichte, die Contessa, hatten einander immer so viel zu erzählen, zum Glück. Also sagte Jakob, er sei todmüde, und zog sich zurück in sein Schlafgemach. Dort dann aber nichts wie raus aus dem Smoking und rein in seine älteste Kluft! (Die allerdings in Belleville immer noch sehr bewundert wurde.) Er fuhr mit dem Lift bis in die Hotelgarage hinunter und verschwand durch einen Seitenausgang. Ein Taxi brachte ihn quer durch die Stadt. Nachts waren die Straßen leer. In der Nacht des 28. Oktober 1956 war Jakob Formann wieder einmal im JAUNE CHIEN. Er kam um 22 Uhr 30 an. Die Versammelten begrüßten ihn lärmend, mit Schulter- und Handschlag. Sofort schmiß Jakob wieder Runden. Claudine servierte ihm liebevoll seine Schmalzbrote und zum Trinken ›Perrier‹. Jakob war müde und doch hellwach. Es wurde ein Abend des Insich-Gehens. Die Erinnerung überkam ihn an manches, das geschehen war in diesen letzten Jahren. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Und die Schallplatten, die der Wirt auflegte, halfen ihm, in Erinnerung zu versinken, mehr und mehr, während seine Kiefer mahlten.
Musik. Eine Stimme. Eine berühmte Stimme. Sie gehörte Edith Piaf, dem ›Spatz von Paris‹, dieser wunderbaren Sängerin, die es nur einmal gab, nur einmal geben würde.
»Non, non, je ne regrette rien …«
Ich auch nicht, dachte Jakob, nein, auch ich bedaure nichts, nichts, was ich getan habe seit damals, seit jener Nacht im Mai 1949, als der Major Assimow in meine Zelle getreten ist und gesagt hat: »Erschießen, lächerlich! Sie kommen mit mir nach Moskau!«