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Die Edle wäre in Ohnmacht gefallen ob dieses Betragens ihres Schülers. Auch wir sind entsetzt. So benimmt man sich einfach nicht. Und wenn man sich so benimmt, darf man sich nicht darüber wundern, wenn man daraufhin aufgefordert wird, augenblicks den Raum zu verlassen.
Was Jakob wurde.
Er verließ den Raum, in welchem der Herr Persönliche Referent des Herrn Staatssekretärs Bredendorff arbeitete, knallte ein paar Türen zu, fluchte im Fahrstuhl unmäßig und ertappte sich, als er die Straße betrat, dabei, daß er vor Wut zitterte. Sofort wurde er streng selbstkritisch: Ein Jakob Formann zittert nicht! Auch nicht vor Wut. Das ist unwürdig. Und zudem sinnlos. Geduld, Jakob Formann, sagte Jakob Formann zu sich selbst. Du kriegst dein Schiff, und das Herresheim-Schwein kriegt sein Fett. Es wird eine Weile dauern, aber Sieger wirst zuletzt du sein, Jakob Formann. Das sagt dir Jakob Formann, denn er weiß schon, wie er es richtig anfangen muß. Danach stellte er fest, daß er noch immer vor Wut zitterte. Dagegen mußte man augenblicklich etwas unternehmen!
Schmalzbro …
Nein. Er war zu wütend. Selbst Schmalzbrote halfen da nichts.
Bewegung! Bewegung! Bewegung!
Das wäre jetzt angebracht!
Radfahren!
Ein Rad! Ein Rad! Ein Königreich für ein Rad!
In der Nähe gab es keine Geschäfte, in denen man Fahrräder hätte kaufen können, und dort, wo es solche Geschäfte gab, waren sie schon geschlossen.
Was tun?
Dreizehn Autos sausten an Jakob vorbei. Dann nahte ein Bürger auf einem Rad. Jakob lief ihm buchstäblich in die Speichen. Der Bürger kippte, stand, schrie: »Besoffen, was?«
»Mitnichten, mein Herr. Leihen Sie mir bitte Ihr Rad.«
»Wahnsinnig geworden?«
»Mitnichten, mein Herr.«
Der Bürger wollte sich aufs Fahrrad schwingen und flüchten. Jakob schubste ihn zurück. »Sie wollen es mir nicht leihen? Nur für zwei, drei Stündchen?«
»Nicht für eine Sekunde! Lassen Sie mich los, oder ich schreie!«
»Ich kaufe Ihnen das Rad ab.«
»Ich verkaufe mein Rad nicht! Es ist ein ganz neues Rad, ein gutes Rad.«
»Das sehe ich. Fünfhundert Mark?«
»Nie! Nie! Niemals!«
»Was kostet es, daß Sie sagen, es ist ein altes, schlechtes Rad?«
»Sie sollen mich loslassen, verflucht!«
»Sechshundert?«
»Sie … Sie …«
»Siebenhundert, meinetwegen.«
Jetzt zitterte der Bürger.
Jakob zählte ihm sieben Hundertmarkscheine auf die Hand.
»Das wär’s«, sagte er sodann, schwang sich in den Sattel und radelte davon.
Siebenhundert Piepen sind siebenhundert Piepen! Der Bürger beruhigte sich.
Jakob hatte sich bereits beruhigt.
Regelmäßig und schnell trat er die Pedale, sauste über Kreuzungen, um Ecken, ein friedliches Lächeln im Gesicht, sanft vor sich hin pfeifend. Gott, hatte er sich nach einer Radpartie gesehnt!
Diese Radpartie brachte ihn hinaus zur Elbchaussee und zu jener Luxusvilla, die sich sein Experte in Plastikfragen, der smarte, gutaussehende Dr. Addams Jones im Vertrag ausdrücklich – ebenso wie Diener und Firmenwagen – ausbedungen hatte.
Wenn du schon hier bist, dachte Jakob, kannst du gleich mal sehen, wie es mit den Plastikwerken geht.
Das Parktor stand offen.
(Eingebrochen wurde 1956 in dieser feinen Gegend nicht – das waren noch Zeiten!)
Jakob radelte bis an die Haustür und klingelte.
Der von Jones zur Bedingung gemachte Diener öffnete.
»Tag«, sagte Jakob.
»Guten Tag, mein Herr«, antwortete langsam und feierlich der Diener, und sein Gesicht nahm dabei einen Ausdruck grenzenloser Verachtung und unsäglichen Hochmuts an. »Was wünschen Sie?«
»Ich will mit Doktor Jones sprechen.«
»Sind Sie angemeldet?«
»Nein.«
»Bedaure, dann ist es nicht möglich …«
»Es wird schon möglich sein. Hier, nehmen Sie mir das Rad ab.«
»Sagen Sie einmal, wer sind Sie überhaupt?«
»Jakob Formann.«
»So eine Unverschämtheit! Verschwinden Sie jetzt, oder …«
»Sie glauben mir nicht, daß ich Jakob Formann bin?«
»In diesem Aufzug? Mit einem Fahrrad? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
Immer noch hielt Jakob an sich. »Wir kennen uns nicht, lieber Mann.«
»Gott sei Dank«, sagte der Diener.
»Sie haben Jakob Formann noch nie im Leben gesehen?«
»Bedaure. Noch nie im Leben.«
»Auch nicht auf Fotos?«
»Auch nicht auf Fotos.«
»Dann erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Ich bin Jakob Formann.«
Der Diener hatte noch einen hellen Moment. »Tut mir leid, aber da kann ja jeder kommen und sagen, er ist Herr Jakob Formann.«
»Ich bin Jakob Formann, der Mann, der Jones und Sie und das alles hier bezahlt!«
»Jetzt hauen Sie aber ab!« Bei dem Diener war der helle Moment vorbei. Er packte die Fahrradstange und versuchte, sie umzudrehen und Jakob fortzudrängen.
»Tck, tck, tck, so etwas tut ein guter Diener aber nicht«, sagte Jakob und drehte die Fahrradstange energisch zurück. Der Diener rutschte aus und flog zu Boden. Jakob lehnte das Rad an die Hauswand und schritt über den Gestrauchelten hinweg in die Halle der Villa.
Die Treppe aus dem ersten Stock herunter kam Dr. Addams Jones gerannt.
»Was ist? Was geht hier vor?«
»Dieser Mann …«, begann der vornehme Diener, noch im Liegen, und verstummte erschüttert.
»Haben Sie das getan, Mister Formann?« Dr. Jones sah Jakob entsetzt an.
»Ich habe gar nichts getan. Ihr Diener hat den Halt verloren.«
»Wobei?«
»Er hat versucht, mich … egal. Wirklich, Jones, Sie müssen diesem Mann beibringen, sich höflich auch gegen Menschen zu betragen, die ihm fremd sind. Sonst feuere ich ihn!«
»Sie … ich … er … Ich wußte gar nicht, daß Sie in Hamburg sind, Mister Formann!«
»Ich komme gerade aus Paris.«
»Mit dem Fahrrad?«
»Haben Sie etwas dagegen?«
»Nein, nein, natürlich nicht! Was kann ich für Sie tun, Mister Formann?«
»Sie können mich über Ihre Arbeit unterrichten, Jones«, sagte Jakob und trat einen Schritt vor. Danach stoppte er abrupt. Er stoppte immer abrupt, wenn er ein schönes weibliches Wesen sah. Das weibliche Wesen, das Jakob sah, war eine ganz besondere Schönheit – schlank und grazil wie ein Reh, mit langen Beinen, braunen Augen und braunem Haar. Jung. Sehr jung noch. Das Reh war, durch den Lärm beunruhigt, aus einem Zimmer in die Halle getreten. Es sah Jakob, es sah den Diener auf dem Boden, es sah Dr. Addams Jones. Der Blick irrte im Dreieck.
»Oh!« rief das Reh erschrocken und flüchtete in das Zimmer zurück, aus dem es gekommen war. Die Tür fiel hinter ihm zu. Dr. Addams Jones war bekannt dafür, daß er stets die schönsten Mädchen Hamburgs zu Freundinnen hatte. Nicht nur Hamburgs.
»Hübsch, hübsch«, sagte Jakob, nachdem er anerkennend gepfiffen hatte.
»Also was ist, kann ich nun mit Ihnen reden oder nicht, Jones?«
»Aber natürlich, Mister Formann, aber selbstverständlich, Mister Formann, es wird mir eine Freude sein, Sie zu unterrichten, Mister Formann. Fred! Fred, zum Teufel, stehen Sie endlich auf und nehmen Sie Mister Formann seinen Mantel ab!«
Der Diener Fred erhob sich taumelnd, schwankte auf Jakob zu und lallte, wobei sich die Wörter überschlugen: »Ihren-Mantel-mein-Herr-ich-bitte-sehr-und-verzeihen-Sie-mir-mein-Benehmen-ich-konnte-doch-nicht-wissen-wie-konnte-ich-denn-ahnen …«
»Sie müssen noch eine Menge lernen, Fred. Und schnell«, sagte Jakob und warf dem Diener seinen Mantel in die Arme. »Und bringen Sie mein Fahrrad in die Garage!«