32

»Ich kann Ihnen flüstern, Oberst Assimow, ich habe alle Hände voll mit mir selber zu tun«, hatte Jakob gesagt. Auf der Commonwealth Avenue. Als er am 7. Januar 1957 aus dem Haus trat, in dem der große Psychoanalytiker Dr. Watkins seine Praxis hatte. Da war er nämlich mit einem Zivilisten zusammengeprallt, der das Haus gerade betreten wollte.

»Na!« hatte Jakob ärgerlich ausgestoßen, um sogleich die Sonne in seinem Gesicht aufgehen zu lassen. »Nein, Herr Major, das ist aber eine Freude!

Wie kommen Sie denn hierher? Was machen Sie in Amerika?«

»Ich bin inzwischen Oberst geworden und jetzt Militärattaché an der Sowjetischen Botschaft«, hatte Assimow geantwortet. Er sah elend aus. Bleich, mager, mit tiefen Ringen unter den Augen. »Ich habe eine Verabredung mit einem Psychoanalytiker. Doktor …«

»Watkins, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte der Attaché.

»Bei dem bin ich auch in Behandlung!« gab Jakob fröhlich bekannt.

»Ich weiß.«

»Sie wissen? Obwohl ich erst gestern angekommen bin?«

»Wir wissen alles über Sie, Herr Formann. Wir kümmern uns um Sie. Sie haben uns einmal sehr geholfen. Um solche Leute kümmern wir uns. Damit sie uns wieder helfen.« Assimow trug den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Er blickte sich dauernd ängstlich um. »Kommen Sie in den Hausflur.«

»Warum?«

»Es braucht niemand zu sehen, daß ein Mitglied der Sowjetbotschaft zu einem amerikanischen Analytiker geht. Sie werden uns wieder helfen! Alle, die wir beobachten, weil sie es einmal getan haben, tun es wieder. Keine Ausrede! Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind …«

»Vor allem mit mir selber, Herr Oberst«, flüsterte Jakob, in Erinnerung an die letzte Stunde auf der Couch. »Mir geht es gar nicht gut. Darum bin ich ja zu Doktor Watkins gegangen. Ich habe eine Charakterneurose, und ich bin ein Don Pawlow, dem der Doktor hofft das Sabbern beizubringen, damit ich in der Gesellschaft anerkannt werde. Nein, da stimmt irgend etwas nicht, aber Sie verstehen schon …«

»Ich verstehe vollkommen, Herr Formann. Glauben Sie, mir geht es besser? Sexualschwäche, wie? Die ist der Grund von all dem!«

»Woher wissen Sie?«

»Bei mir ist auch Sexualschwäche der Grund.«

»Wofür?«

»Dafür, daß ich derartige Depressionen habe. Ich habe mir eingeredet – Idiot, der ich bin! –, die Depressionen kommen daher, daß wir schon in den kältesten Krieg hineinrodeln und ich bereits immer vom nächsten heißen Krieg träumen muß …«

»Sie träumen auch?«

»Natürlich. Und das ist das einzig Normale an mir. Das Unterbewußtsein arbeitet diesen Angstkomplex auf. Die einzige Hoffnung, die ich habe, daß es besser wird. Ursache: Sexualschwäche. Wie bei Ihnen, Herr Formann.«

»Wie bei mir.« Jakob nickte trübe. »Einst war ich ein so fröhlicher Mensch.«

»Ich auch! Erinnern Sie sich noch an Karlshorst? Gott, waren wir beide da fröhlich! Was, Herr Formann?«

»Ach ja«, sagte Jakob, immer trauriger. »Und noch vorher! Der Hase …«

»Welcher Hase?«

»Na, der, den ich so sehr liebe?«

»Sie lieben einen Hasen?«

Der Oberst erschrak.

»Ja! Und es gibt nur eine winzige kleine Chance für mich, ihn jemals wiederzubekommen. Trauerarbeit. In meinen Träumen.«

»Genau wie bei mir! Ich komme schon zu spät für die heutige Sitzung. Bleiben Sie in Washington? Dann melden Sie sich doch bitte. Kommen Sie einfach in die Botschaft. Mein Gott, waren das noch Zeiten, als wir zusammen nach Moskau geflogen sind. Zum Teufel, jetzt hätte ich ja fast das Wichtigste vergessen! Jurij Blaschenko braucht Sie ganz dringend. Er braucht Sie wie einen Bissen Brot. Sie werden uns doch nicht im Stich lassen, Herr Formann?«

»Worum handelt es sich denn?«

»Das muß Ihnen Blaschenko selber erzählen! Fliegen Sie sofort zu ihm – Sie haben eine ›Learstar‹, weiß ich, weiß ich – und helfen Sie ihm.«

»Ich habe wahnsinnig viel zu tun, lieber Major … Oberst …«

»Bitte, zwingen Sie mich doch nicht, zu veranlassen, daß Major Jelena Wanderowa nach Sibirien kommt – Ihretwegen! Die hat einen so schönen Posten an der Botschaft in Rom! Die Sonne! Die südliche Lebensart! Sie haben Jelena doch einmal geliebt – genau wie der arme Jurij, was?«

»Ja – hm.«

»Und das wollen Sie Ihrer Liebe antun? Hätte ich nie von Ihnen erwartet, Herr Formann. Eine so wunderbare Frau …«

»Hören Sie schon auf! Wer hat denn gesagt, daß ich nicht zu Blaschenko fliege?«

»Also Sie fliegen?«

»Natürlich. Wohin, bitte? Wenn Sie mir das freundlicherweise auch noch sagen würden, Herr Oberst!«

»Ach so, natürlich. Was für ein Wrack bin ich! Nach Rostow am Don. Das liegt …«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Ich kann also Blaschenko mitteilen, daß Sie schnellstens kommen? Wenn Sie nicht kommen, muß ich jetzt ein Telegramm nach Rom schicken. Wegen Jelena. Sibirien hat ja auch seine landschaftlichen Schönheiten. Das Amurland … Aber … ob Sie ihr das antun wollen …«

»Herrgott, ich fliege, so schnell ich kann!« lärmte Jakob.

»Wunderbar, ich telegrafiere Jurij nach … wohin habe ich gesagt?«

»Rostow, Herr Oberst.«

»Da sehen Sie, wie es um mich steht. Rostow!« Assimow schlug Jakob krachend auf die Schulter und eilte bereits zu einem der fünf Lifte. Über die Schulter rief er zurück: »Auch Don Juanismus?«

»Auch, ja«, sagte Jakob bitter.

Die Tür des Aufzugs schloß sich hinter Oberst Assimow. Der Lift glitt summend nach oben.

»Das werden wir jetzt gleich einmal sehen, wie schwach mein Sex ist«, murmelte Jakob zwischen den Zähnen und schritt hinaus auf die Straße, wo der livrierte Chauffeur eines Rolls-Royce den Schlag aufriß und die Kappe zog. Inzwischen hatte Jakob einen zweiten Rolls-Royce erworben. Nur für Amerika. Er ließ sich in den Schlag fallen.

»Ins Hotel, Sir?« fragte der Fahrer.

»Ja. Nein, warten Sie!« Jakob fuhr herum. Im Hotel wartet die süße BAMBI. Die will ich jetzt nicht als Versuchskaninchen hernehmen. Mein Don Watkinismus geht sie nichts an! Jakob sagte: »Fahren Sie mich down-town. Wie spät ist es jetzt? Halb sieben? Sehr gut. Hundertsechsundzwanzig, Huston Street.«

Hurra, wir leben noch
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