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»Wir werden«, sagte Jakob an einem schönen Junitag des Jahres 1957, »bald Übermenschliches leisten müssen, liebe Freunde, das ist euch doch klar?«
Seine lieben Freunde nickten ernst. Es waren der Wenzel Prill, der Karl Jaschke und der fette Arnusch Franzl. Alle saßen, nur der Franzl stand. Er hatte seit längerer Zeit Schwierigkeiten beim Sitzen und stand gerne – sagte er jedenfalls.
Alle Abmagerungskuren blieben beim Franzl nur ganz kurze Zeit wirksam, und zwar deshalb, weil er sogleich nach ihrer Beendigung alles nachfraß, was er hatte entbehren müssen. Auch Hypnose und Akupunktur führten zu nichts bei ihm.
»Wir haben die moralische Pflicht«, sagte Jakob, »zu produzieren, soviel wir nur können, das ist klar. Unsere Produktionsstätten sind zu klein, wir müssen schnellstens größere, neue, bessere und vor allem mehr, viel, viel mehr bauen. Unsere Himmler-Eierfarm in Waldtrudering ist doch nur noch ein Witz! Frankfurt ist fast schon zu klein geworden. Wir müssen übersiedeln! Das Fertighaus-Zentrum in Murnau schafft es auch nicht mehr, das weißt du am besten, Karl. Meinetwegen bleibt dort wohnen wegen deiner Freundin in Garmisch-Partenkirchen, aber ich habe schon die Gelände für ein Werk bei München, eines bei Bremen und eines bei Nürnberg gekauft. Jakob Formann hat sehr viel Grund und Boden gekauft von diesen verfluchten Hunden, die Grund und Boden besitzen und jetzt die Preise hinauftreiben wie die Irren.« (Er hatte es sich, wie wir uns erinnern, in letzter Zeit angewöhnt, von sich selber häufig in der dritten Person zu sprechen.) »Wozu braucht Jakob Formann soviel Grund und Boden? Weil er Siedlungen für seine Arbeiter und Angestellten rund um jedes Werk anlegen will. Hochhäuser, aber auch Häuschen mit Gärten, alles mit allem Komfort. Supermärkte. Kinos. Ärzte. Und so weiter, und so weiter. Jakob Formann denkt stets an alle, die für ihn schuften! Er hat eine beispielhafte soziale Einstellung! Das ist wahrer Sozialismus!«
»Du kannst ihnen auch noch japanische Seidentapeten und Klos aus Gold schenken, und sie werden doch ›dreckiger Ausbeuter‹ und ›Er tut’s ja nur aus schlechtem Gewissen‹ sagen und auf dich scheißen«, sagte dazu der Arnusch Franzl, schnaufend an einer Hornbrille rückend, die er sich zugelegt hatte, um noch seriöser auszusehen.
»Du bist und bleibst ein Zyniker!« sagte Jakob mit Betonung und sah seine Stabsmannschaft erwartungsvoll an. In der Tat zeigten alle ein erfreutes Erstaunen darüber, daß er das Wort kannte.
»Wie es so geht im menschlichen Leben! Lehr mich die Menschen kennen«, brummte der Arnusch Franzl.
Die Zusammenkunft fand in der Bibliothek von Jakob Formanns Schloß am Starnberger See statt, das er seit einiger Zeit wieder ohne Hemmungen bewohnte, wenn er in der Nähe war. Die zentrale Verwaltung aller seiner Unternehmen befand sich in Frankfurt am Main. Jakob hatte seine ältesten und engsten Mitarbeiter über ein Wochenende zu Gast gebeten. Infolge der vielen neuen Freunde, die er hatte, wurde dieses Wochenende kein großer Erfolg.
So zum Beispiel gab es jetzt, mitten in der Besprechung, eine Unterbrechung von etwa zehn Minuten, weil Jakob einige neue Barone, Gräfinnen, Grafen und eine leibhaftige Hoheit begrüßen mußte. Die Herrschaften waren soeben eingetroffen. Das Schloß war seit langem voll mit Blaublütern. Sie wohnten hier, sie aßen und tranken hier nach Herzenslust, sie benutzten Jakobs drei Motorboote für Rennen auf dem See und seine schönen großen Wagen für Freundschafts-Rallyes über besonders schwierige Strecken in den nahen Alpen. Sie hatten ununterbrochen ›neue hochinteressante Projekte‹ zu offerieren, die natürlich Geld kosteten. Jakob gab es ihnen. Aus den ›Projekten‹ wurde niemals etwas. Die meisten dieser Parasiten schnorrten Jakob an, ohne jede Hemmung und bar jeder Scham. Er spendete stets reichlich. Dafür durfte er die Erlauchten aber auch mit ›Du‹ anreden, und sie redeten ihn mit ›Du‹ an, denn wie ein österreichischer Fürst sagte: »Wir sind alle Menschen, keiner soll sich besser vorkommen als der andere. Du bist genauso wertvoll wie wir, auch wenn du aus der Hefe des Volkes kommst.«
Das hatte Jakob, als er es hörte, nur grimmig belustigen können.
Als er zu seinen ältesten und engsten Mitarbeitern in die Bibliothek zurückkehrte, sahen ihm die drei ernst entgegen.
»Was habt ihr denn? Warum schaut ihr mich so ernst an?« fragte Jakob.
»Wir haben gerade darüber gesprochen, wie sehr du dich verändert hast«, antwortete Fertighaus-Jaschke.
»Ich mich verändert? Lächerlich!«
»Leider gar nicht lächerlich«, sagte Wenzel Prill. Er sah elend aus vor Überarbeitung – neben seiner Tätigkeit als Leiter aller Rechtsabteilungen von Jakobs Betrieben und als unermüdlicher Jäger von Rothaarigen studierte der nunmehr zweiundvierzigjährige noch immer Jus an der Frankfurter Universität. Mit fünfzig, zweiundfünfzig Jahren konnte er hoffen, seinen Doktor zu machen. So spät erst, weil er sein Studium natürlich dauernd unterbrechen mußte. »Leider gar nicht lächerlich, Jakob«, wiederholte Wenzel beklommen. »Und wie du dich verändert hast! Du merkst es nicht. Wir merken es wohl. Und viele andere Leute leider auch. Okay, okay, wir werden dir natürlich weiter mit allen unseren Kräften zur Verfügung stehen, wenn du jetzt auch bereits wahnsinnig, ja lebensgefährlich übertreibst!«
»Wieso übertreibe ich?« fragte Jakob. Draußen brannte die Sonne, die Fenster standen offen, und man hörte das Aufschlagen von Bällen auf den beiden Tennisplätzen hinter dem Haus, Stimmen und Gelächter. Ab und zu raste auf dem See ein Motorboot vorbei. »Du bist Multimillionär. Mehr als ein Steak auf einmal kannst du nicht fressen«, sagte Karl Jaschke aus Murnau. »Mehr als mit einem Mädchen kannst auch du nicht auf einmal schlafen.«
»Hast du eine Ahnung!« rief Jakob stolz.
»Unterbrich mich nicht. In mehr als einen Rolls kannst du deinen Arsch zur gleichen Zeit nicht setzen! Auch nicht in zwei Flugzeuge zur gleichen Zeit! Auch nicht mehr als einen Anzug von Cardin kannst du auf einmal tragen.«
»Jajaja. Was soll das heißen, bitte?«
Jetzt war die Reihe wieder an Franzl Arnusch: »Das soll heißen, daß du furchtbare Fehler begehst.«
»Jakob Formann begeht keine furchtbaren Fehler.«
Und das Ping und Pong und Ping und Pong von den Tennisplätzen.
»Du begehst drei furchtbare Fehler, mein Bester«, sagte der Arnusch Franzl. »Wir haben gerade über sie gesprochen. Der erste ist, daß du dein Imperium immer weiter vergrößerst, anstatt es zu sichern. Das ist gegen jede unternehmerische Vernunft. Wie es so geht im menschlichen Leben.«
»Blödsinn«, konterte Jakob, lachend zu den erlauchten Bildern der Ahnen aufsehend, die nicht die seinen waren. »Das ist das erste Gesetz jedes Unternehmers! Expandieren! Expandieren! Es tut mir leid, daß ich das ausgerechnet dem Chef des Rechnungswesens meiner Gesellschaften sagen muß! Ich weiß schon, was ich tue. Erlegt euch keinen Zwang auf! Und nun, bitte, den zweiten ›furchtbaren Fehler‹«, sagte Jakob ironisch. »Also bitte!«
»Schön, also zweitens: Du bist bereits soweit, alle anderen Menschen für blöd zu halten«, sagte Wenzel anklagend.
»Na, das sind sie doch auch!«
»Wenn alle Menschen blöd sind, dann bist du es auch. Das ginge noch. Lebensgefährlich wird es, wenn du davon überzeugt bist, der einzig Gescheite zu sein.«
»Ich habe ja euch zur Seite!« Jakob wurde grob. »Wenn es wirklich mal lebensgefährlich wird, entschärft ihr die Lage. Ihr seid nicht blödsinnig. Sonst hätte ich euch nicht engagiert.«
»Sehr liebenswürdig«, sagte Karl Jaschke leise.
»War doch nicht bös gemeint!« Jakob haute ihm auf die Schulter. »Aber wenn ihr schon damit angefangen habt, dann will ich auch wissen, welchem dritten ›furchtbaren Fehler‹ ich im Laufe meiner so entsetzlich verfehlten Entwicklung verfallen bin.«
»Du willst unbedingt in diese beschissene High Society«, sagte Wenzel, und er sprach, als hielte er bereits die Grabrede für Jakob. »Du willst, daß die Großen – nebbich – dieser Welt dich achten und lieben und fürchten – fürchten, ja, das kommt auch noch, warte nur ein Weilchen – und dich anerkennen als ihresgleichen. Nicht das Gesocks hier. Nein, das genügt dir nicht! Es müssen ganz feine Grafen und Fürsten sein und ganz gediegene Millionäre und Rothschilds und Rockefellers und Agnellis! Erst wenn du in ihre Welt eingebrochen bist, wirst du zufrieden sein! Wenn diese Großen nicht mehr hinter deinem Rücken über dich lachen werden – oder dir sogar mitten ins Gesicht!«
»Ihr habt ja Kompott im Hirn!« antwortete Jakob mit ärgerlich erhobener Stimme. »Ich scheiße auf diese ganzen Idioten! Es ist mir doch völlig egal, ob sie über mich lachen oder nicht! Also, da irrt ihr euch aber gewaltig, wenn ihr glaubt, daß ich mich nach Anerkennung durch dieses Pack sehne …«
»Nun beruhige dich, Jakob«, sagte Wenzel. »Wir meinen es doch nur gut mit dir! Wir machen uns doch nur Sorgen um dich!«
»Um mich braucht ihr euch keine Sorgen zu machen!« rief Jakob. »Um euch, um euch könnt ihr euch meinetwegen Sorgen machen! Und mit Recht! Daß ihr so lange mit mir zusammenarbeitet, ist noch keine Lebensversicherung, kapiert?« Er erschrak heftig über sich selbst, wechselte die Farbe und stammelte: »Das habe ich nicht so gemeint … Das ist mir nur so herausgerutscht … Meine alten Freunde! Meine besten Freunde! Die mit mir im Dreck angefangen haben! Mit nichts! Niemals würde ich einen von euch fallenlassen, niemals!«
Die drei saßen reglos.
»So sagt doch was!«
»Klar«, sagte Wenzel endlich, und die anderen nickten. »Du hast das in deiner Wut gesagt, wie ein unartiges Kind. Aber bald wirst du es nicht nur in Wut sagen und wie ein Kind, sondern du wirst es wirklich glauben!«
»Das werde ich nie! Natürlich habe ich viele fröhliche Huren hier und Burschen, die sich damit brüsten, keinen Verstand zu haben! Aber gönnt ihr mir nicht das Recht auf ein wenig Spaß? Wenn ich schon so schwer schufte? Schaut doch euch an! Ihr habt doch auch jeder was! Der Wenzel seine Rothaarigen! Der Jaschke seine Süße in Garmisch! Der Franzl sein Fressen! Und ich darf nichts haben, womit ich mich amüsiere, worüber ich lachen kann? Ich weiß doch genau, was ich von diesen Kaschperln zu halten habe! Ich leiste mir eben mein Kaschperltheater! Aber ich nehme es doch nicht im Traum ernst!« Das Telefon, das vor ihm stand, läutete. Jakob hob ab.
»Ferngespräch, Herr Formann«, sagte ein Mädchen in der Telefonzentrale des Schlosses. (Drei Mädchen taten da Dienst rund um die Uhr.) »Comtesse della Cattacasa verlangt Sie. Aus Cannes.«
»Bitte, verbinden Sie, liebe Anni.« Jakob sagte zu seinen Freunden: »Nur einen Moment. Das ist Claudia … Claudia? … Ja, ich bin’s, dein Jakob …«
An dieser Stelle sagte Karl Jaschke laut und vernehmlich: »Verflucht, sprach Max und schiß sich in die Hose.« Aber keiner lachte. Alle hörten, was Jakob nun am Telefon sagte.
Dies:
»Nein, ich bin nicht mehr in Tokio! Tut mir leid, daß du es dort versucht hast … Was gibt’s denn? … Was hast du geschafft? … Was? … Verdammt noch mal, gerade jetzt, wo ich soviel zu tun habe! Und soviel im Kopf! … Ja, ja, ja, ich weiß, ich habe dich darum gebeten, aber so wichtig ist das nun auch wieder nicht gewesen, mein liebes Kind … Natürlich ist mir bekannt, daß der Mann einer der drei größten Reeder Englands ist! Na wenn schon! Ich bin auch wer! … Wie? … Klar, man kann nicht mehr gut absagen, wenn er uns schon eine Einladung geschickt hat … Hm, hm, hm … Nein, so habe ich es nicht gemeint, Claudia! Ich bin dir auch sehr, sehr dankbar für deine Bemühungen! Aber gerade jetzt … Es soll bloß nicht der Eindruck entstehen, daß ich mich aus lauter Geltungssucht darum reiße, verstehst du? … Klar, es ist eine Sache der Höflichkeit! Also meinetwegen, werden wir halt hingehen … Wo ist das? Saint-Jean-Cap-Ferrat? … Selbstverständlich weiß ich, wo Saint-Jean-Cap-Ferrat liegt, liebes Kind, ich komme ja nicht gerade aus dem Kohlenkeller, wie? … Natürlich Tenue de soirée … Ja, kauf dir neue Kleider … Nein, da nicht! Bei Emilio in Rom! … Was? BAMBI ist auch eingeladen? Tck! Wieso BAMBI? Wird das gutgehen? Ich meine: Wird BAMBI nicht aus dem Rahmen fallen? … Na schön, wenn du meinst, Claudia … Also kleidest du auch BAMBI neu ein … Ach, wenn wir schon dabei sind: Mit euerm Schmuck könnt ihr da natürlich nicht hingehen in meiner Gesellschaft. Diesen Schmuck hat man schon zu oft gesehen … Neuen, natürlich neuen! … Ja, geh zu ›Cartier‹! Und nimm BAMBI mit! … Werde ich sie dir halt noch heute mit einer ›Learstar‹ nach Cannes schicken … Das weiß ich, daß sie in Nizza landen muß … Du hast doch den Mercedes Sport, den ich dir zum Geburtstag geschenkt habe, unten … oder? … Gut, dann hol BAMBI ab … Ach ja, wo bist du abgestiegen? … Natürlich, Hotel MAJESTIC … Am fünfundzwanzigsten ist die Gala? Da habe ich ja noch elf Tage Zeit … Da kann ich noch in Ruhe nach Peking fliegen! … Wie viele Gäste? …Zweiundachtzig? Großer Gott, ein Gedränge wird das werden … Tja, Claudia … ich muß jetzt Schluß machen. Ich habe eine wichtige Besprechung. In einer Stunde rufe ich dich an! Ciao, Claudia, Ciao …«
Jakob ließ den Hörer fallen.
Er saß da, als sei er im Sitzen gestorben. Mit einem idiotischen Lächeln des Triumphes auf den Lippen. Seine Freunde hatten sich, während er sprach, erhoben und waren in der Bibliothek auf und ab gegangen. Sie standen nun neben ihm, der langsam wieder zum Leben erwachte.
Jakobs Lächeln verschwand. Ernst und gefaßt wurde sein Gesichtsausdruck.
»Verzeiht die blöde Störung«, sagte er. »Ich bin da bei Sir Alexander Mills eingeladen. Auch noch alle diese Einladungen! Und all das Gequatsche mit all diesen Hocharistokraten und berühmten Schriftstellern und Malern und Bankiers … Als ob man nicht schon genug zu tun hätte!«
Das einzige, was er nicht beherrschen konnte, waren seine Hände. Die zitterten. Seine Freunde sahen es wohl. Über Jakob Formanns Kopf hinweg blickten sie einander sorgenvoll an.