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Der Hase mußte sich an seinem Fahrrad festhalten und dreimal ansetzen, bevor er flüsterte: »Vierzigtausend?«

»Ja«, sagte Jakob mit einem freundlichen Blick seiner tiefdunklen Augen.

»Und du radelst sofort weiter nach Theresienkron und alarmierst sämtliche Bauern. Sie sollen sich darauf vorbereiten, daß die vierzigtausend kommen – im Lauf der Nacht!«

»Aber das ist doch Diebstahl, Bärchen!« sagte der Hase.

»Jetzt gilt Moral nur für die Sieger!«

»Da hast du natürlich auch wieder recht«, sagte der Hase.

Das Gespräch zwischen dem Bären und dem Hasen fand außerhalb des Fliegerhorsts statt, neben dem oben stromgeladenen Stacheldrahtzaun. Gleißendes Licht warfen Scheinwerfer über das ganze Gelände, über Tower, Hangars, Mannschaftsunterkünfte und draußen, weit entfernt, am Ende einer Landebahn, über die ›Fliegende Festung‹. Denn da in der Nähe, auf einem Flecken ausgedörrten Ackers, sollte nun auf Befehl des Colonel Hobson die gesamte Fracht der Eins-acht-eins mit Benzin übergossen und verbrannt werden.

Der Hase war schlank, hatte aufregende Kurven genau dort, wo sie hingehören, außerdem rehbraune Augen mit langen Wimpern und braunes Haar. Der Hase hieß Julia Martens. Er trug ein kornblumenblaues Kleid mit weißen Abnähern und weiße Schuhe. Der Hase hatte am 3. November 1946 nur ein einziges Kleid und ein einziges Paar Schuhe. Sonst besaß er noch selbstgefertigte, einigermaßen abenteuerlich aussehende Hosenanzüge. Und für seinen Bären hatte der Hase einen ebenso abenteuerlichen Anzug genäht. Derselbe war jedoch so beschaffen, daß Jakob – Multimillionär von 1965 – doch lieber in seinen eingefärbten Sachen herumlief. Im übrigen ist es jedermann bekannt, daß Verliebte sich zärtlich Tiernamen geben. Und Julia, genannt Hase, und Jakob, genannt Bär, liebten einander.

Jakob hatte aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird, seine Stellung als Dolmetscher bei der amerikanischen Militärpolizei in Wien Knall und Fall aufgeben und mit Hilfe des liebenswerten Generals Mark Clark in einer Verbindungsmaschine nach Linz fliegen müssen. Im gleichen Flugzeug: George Misaras, Mojshe Faynberg und Jesus Washington Meyer. Jakobs Problem war gewesen, in Linz eine Wohnungzu finden. Und etwas zu essen. In den großen Städten verhungerten die Menschen, als würden sie dafür bezahlt. Und im Radio konnte man hören, das ehemalige Großdeutsche Reich sei so zerstört, daß dreißig Kubikmeter Schutt auf den Kopf der Bevölkerung kamen. Und daran waren die Deutschen selber schuld und durften es nie vergessen! Schon um sechs Uhr früh standen Schlangen vor dem Wohnungsamt. Jakob stand auch da. Ein erschöpfter Beamter saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich Briefe häuften. Er war mit einer kreischenden Dame beschäftigt.

Jakob sah schnell, daß hier nichts zu holen war. Er ging. Als er aus dem Amt auf die Straße hinaustrat, fuhr ihn ein schönes, junges Mädchen in einem kornblumenblauen Kleid mit ihrem Fahrrad über den Haufen. Er war selber schuld, denn er hatte nicht aufgepaßt. Die Hübsche war furchtbar aufgeregt, aber bei Jakob fand sich nur eine Platzwunde am Schädel. Er erzählte ihr, daß er keine Bleibe habe. Sie erzählte ihm, daß sie ihm eine besorgen werde. Nicht in Linz! Außerhalb! In dem kleinen Ort Theresienkron, da beim Ami-Fliegerhorst Hörsching. In den Dörfern gab es immer noch Platz. Das Mädchen, zum Beispiel, hatte ein riesengroßes Zimmer bei der Pröschl-Bäuerin. Jakobs Platzwunde wurde verbunden, dann setzte er sich auf den Gepäckträger des Rades, das dem schönen Mädchen gehörte, und sie strampelte mit ihm nach Theresienkron zur guten Frau Luise Pröschl. Es waren nur sieben Kilometer zu strampeln, aber sie brauchten für die Reise einen halben Tag. Sie hatten nämlich gleich festgestellt, daß sie einander geistig gut verstanden. Auf der Fahrt nach Theresienkron (Jakob mußte das Mädchen um die Hüften fassen, um nicht vom Gepäckträger zu fallen), entdeckten die beiden andere Gemeinsamkeiten. Es war ein sonniger Tag. In einem kleinen Wäldchen stellten sie dann fest, daß sie einander tatsächlich auf jedem Gebiet außerordentlich gut verstanden! (Hier ist anzumerken, daß es kaum eine Frau gab, die sich nicht binnen kürzester Zeit mit unserem Jakob außerordentlich gut verstand. Kein Wunder: Jede Frau spürte, daß dieser Jakob Formann, der sich so ungezwungen gab, über ein außerordentlich gutes Verständnis für Frauen verfügte.)

Als sie endlich ankamen, sah die lebenserfahrene Pröschl-Bäuerin sogleich, daß es sich hier um einen akuten Notfall handelte und vermietete Jakob und dem Mädchen, das Julia hieß, ohne zu zögern die halbe Etage im ersten Stock ihres Hauses. Mit Küchenbenützung.

Das mit dem ›Hasen‹ und dem ›Bären‹ ergab sich dann ganz zwanglos in der folgenden Nacht.

Der Hase arbeitete in einem Verlag in Linz. Tatsächlich, es gab schon wieder Verlage! Mit dem Fahrrad strampelte der Hase jeden Morgen nach Linz, und jeden Abend strampelte er zurück. Jakob, auf seinen Gesundheitszustand bedacht in Krieg und Frieden, absolvierte täglich und bei jedem Wetter eine Tour zu Rade (Nachkriegsbeute), fünf Kilometer zum Fliegerhorst, fünf Kilometer zurück.

1946 – zaghafter Anfang

1946–1950: Demontage in Westdeutschland (Wert bis Februar 1948 bereits 12,5 Milliarden D-Mark).

Neujahr: Erste Gefangenenpost aus der Sowjetunion.

11. Januar: Nahezu auf den Tag genau 9 Monate nach Einmarsch der Amerikaner wird in Almeding, Bayern, der erste Negersprößling geboren und Lorenz getauft.

5. März: Konrad Adenauer (am 6. 10. 45 als Oberbürgermeister von Köln von den Engländern »wegen Unfähigkeit« entlassen) Vorsitzender der CDU in der Britischen Besatzungszone.

März: In der französischen Zone 1075 Kalorien täglich. Die »Entnazifizierung« wird deutschen Behörden übertragen.

1. April: Wiederbeginn der Vorlesungen an der Münchner Universität, am 8. April an der Technischen Hochschule München.

22. April: Durch Zwangsvereinigung von KPD und SPD wird in Berlin für die Sowjetzone die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gegründet.

April: Erste Modenschau der Münchner Meisterschule für Mode (53 Modelle).

10. Mai: Kurt Schumacher Vorsitzender der SPD.

Juni: An Litfaßsäulen ein Plakat: WER EINEN SCHIEBER ANZEIGT, IST KEIN DENUNZIANT!

22. Juli: Erste CARE-Pakete treffen in Bremerhaven ein.

Juli: Schwarzmarktpreise in Berlin: 1 kg Mehl RM 11,–; 1 Paar Schuhe RM 420,–; 20 amerikanische Zigaretten RM 150,–; 1 kg Bohnenkaffee RM 1100,–; 1 Ei RM 12,–; 1 Schachtel Streichhölzer RM 5,–.

Dezember: US-Soldaten dürfen deutsche Frauen heiraten.

In Vietnam ruft Ho Tschi Minh zum Kriege gegen die Franzosen auf.

ENIAC – erster voll elektronischer Computer (USA).

Volkswagenwerk Wolfsburg beginnt mit Serienproduktion des »Käfers«.

Bühne: Carl Zuckmayer, »Des Teufels General«, Uraufführung in Zürich.

Bücher: Erich M. Remarque, »Arc de Triomphe«; Theodor Plivier, »Stalingrad«; Erich Kästner, »Das fliegende Klassenzimmer«; Eugen Kogon, »Der SS-Staat«. Die ersten drei ro-ro-ro-Zeitungsdrucke: Hemingway, »In einem anderen Land«; Tucholsky, »Schloß Gripsholm«; Gide, »Die Verliese des Vatikan«.

Filme: »La Belle et la Bête« (Frankreich, Cocteau); »Die besten Jahre unseres Lebens« (USA, William Wyler); »Gilda« (USA, Charles Vidor). Erster deutscher Nachkriegsfilm: »Die Mörder sind unter uns« von Wolfgang Staudte.

Schlager: »Gib mir einen Kuß durchs Telefon.«

»George, Mojshe und Jesus machen mit«, sagte Jakob am Abend des 3. November 1946 zu Julia, vor dem Stacheldrahtzaun stehend. »Andere auch.«

»Dann kann ja nichts schiefgehen«, rief Julia aufgeregt.

»Unberufen«, sagte Jakob.

»Da kaufen wir dir aber auf dem Schwarzmarkt feste, warme Schuhe!« rief der Hase.

»Und du bekommst einen Wintermantel, einen ganz feinen«, sagte Jakob.

»Auch schwarz. Im NEUEN ÖSTERREICH wird und wird keiner zum Tausch angeboten, ich hab’ wieder im Annoncenteil nachgeschaut, bevor das Theater hier angefangen hat. Jetzt fahr aber los, Hase!«

»Okay, Bärchen!« Der Hase schwang sich auf das klapprige Rad und trat in die Pedale wie ein Sechstagefahrer.

Hurra, wir leben noch
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