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»I … Im … Immer wenn d … du glaubst, e … es ge … geht nicht me … mehr, k … ko … kommt ein m … mildtätiger M … Mord daher«, hatte Klaus Mario Schreiber am 6. November 1957 gesagt. Am 27. April 1961 sagte er es wieder.
Wegen der Hartnäckigkeit, mit der Schreiber an diesem seinem Diktum festhielt, hatte Jakob Formann die Grundsteinlegung eines Plastikwerkes bei Tokio vorzeitig abbrechen und nach München zurückfliegen müssen. Er flog zu dieser Zeit ununterbrochen von einem Krisenherd seines Imperiums zum andern. Diesmal gab es in München Ärger. Großen Ärger. Die gesamte Redaktionsleitung, allen voran Frau Dr. Ingeborg Malthus, hatte den Aufstand geprobt, der schon seit Jahren fällig war: den Aufstand gegen den von allen am heftigsten benötigten und am heftigsten befehdeten Klaus Mario Schreiber.
Das Jakob nach Japan übermittelte Ultimatum besagte: Entweder alle verantwortlichen Redakteure legen sofort die Arbeit nieder – oder Klaus Mario Schreiber wird sofort gefeuert. Niemand der Verantwortlichen in der Redaktion (Auflage zu dieser Zeit wöchentlich 1,7 Millionen Exemplare) war willens, sich die Eigenmächtigkeiten, die Frechheiten, den Zynismus, das Saufen und den Dünkel Schreibers noch länger gefallen zu lassen. Also entweder oder!
Direkt vom Flughafen Riem hatte Chauffeur Otto seinen Chef Jakob Formann in das imposante OKAY-Verlagshaus gefahren. Da saß er nun in dem großen Konferenzsaal mit seinen Mahagoni-Paneelen, an der Spitze eines langen Tisches, und alle Verantwortlichen saßen zu seinen Seiten, viele, die schon dabeigewesen waren, als man noch in einer halbzerstörten Wohnung an der Lindwurmstraße, die nur durch eine Leiter zu erreichen gewesen war, die erste Nummer von OKAY (in der RM-Zeit!) produziert hatte, und dazu viele später Hinzugekommene.
Am unteren Ende des Tisches hockte Klaus Mario Schreiber, eine Flasche, ein Glas und einen Becher mit Eiswürfeln vor sich. Neben ihm saß der Vertriebschef. Der Vertriebschef hatte das Recht, an jeder wichtigen Sitzung der Redaktion teilzunehmen, und er war auch stimmberechtigt. Man schrieb den 2. Mai 1961. Schwüle Hitze lastete über München. Alle waren nervös, Schreiber war voll wie eine Natter und seine Akne gerade wieder einmal im Begriff zu vernarben.
»Wir fordern, daß dieser Schmierer endlich rausgeschmissen wird!« rief, in höchster Erregung, ein nun schon reichlich betagter Herr – der Textchef Dr. Walter Drissen.
»Wenn Sie diesen Unmenschen nicht auf der Stelle entlassen, gehen alle verantwortlichen Redakteure, Herr Formann, und auch ich als Chefredakteur«, sagte Frau Dr. Ingeborg Malthus, die einst in einem Bootsschuppen am Staffelsee zu Murnau nur höchst mangelhaft behaust gewesen war.
»Sie haben den Bogen überspannt, Schreiber!« schrie Textchef Drissen und ließ seinen Armstumpf auf die Tischplatte krachen. »Mit Ihnen ist es aus!«
»Langsam«, sagte Jakob, »langsam, Drissen. Das mit Ihrem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisärmchen tun Sie nie wieder, verstanden? Ich habe einen langen Flug hinter mir. Ich bin momentan etwas geräuschempfindlich. Was fällt Ihnen überhaupt ein, mir, dem Verleger, ein solches Ultimatum zu stellen?«
»OKAY ist kein Hurenhaus …«
»Wir sind Journalisten, keine Schmierer …«
»In der ganzen Branche sind die Eskapaden dieses ewig besoffenen Lumpen das Thema Nummer eins …«
Alle redeten durcheinander.
Jakob brachte sie mit einem Tarzan-Urlaut zum Verstummen.
Dann ließ er sich die Einzelheiten berichten, die zu dem Aufstand geführt hatten.
So kurz wie möglich:
Am 1. November 1957 war die vierundzwanzigjährige, sexuell ambivalente Nutte Rosemarie Nitribitt in ihrem mit kleinbürgerlicher Prachtentfaltung (und Abhorchgeräten) aufwartenden Appartement, Frankfurt am Main, Stiftstraße 36, erwürgt aufgefunden worden. Seither – und bis zum heutigen Tag! – hatte sich die Polizei außerstande gesehen, den Mörder zu finden. Sozusagen als erste Wirtschaftswunder-Ermordete war die Dame mittlerweile zu zeitgeschichtlichen Ehren gelangt – wie man sie früher und auf höherem sozialen Niveau etwa einer Lola Montez hatte zuteil werden lassen.
Wenige Tage nach dem Mord war von Schreiber eine Serie über Rosemarie Nitribitt gefordert worden, es war gerade kein Stoff da, der die Leser vom Stuhl riß – und bei dieser Gelegenheit hatte er den eingangs erwähnten Ausspruch getan. Zum erstenmal.
Ein Verdächtiger war damals festgenommen worden. 1961 saß er noch hinter Gittern. Inzwischen ist er längst frei. Man hat ihm keinerlei Schuld nachweisen können.
Ende April 1961 gab es wieder einmal keinerlei sensationellen Vorfall, über den zu berichten sich gelohnt hätte. Also kam Schreiber prompt mit seiner fixen Idee, über die Nitribitt schreiben zu wollen, und tat den erwähnten Ausspruch zum zweitenmal.
Als dies durchsickerte, weigerten sich Regierungsmitglieder und führende Männer der deutschen Wirtschaft entschieden, OKAY Interviews zu geben, die längst zugesagt und terminiert waren, ja, einer, dem ein Titelblatt in Farben zugedacht war (OKAY brachte nun schon Bilder in Farbe!), erklärte, er werde die Erlaubnis zur Reproduktion seines Konterfeis und in einer Auflage von 1,7 Millionen Exemplaren zurückziehen, wenn er nicht bis 18 Uhr am 3. Mai 1961 die juristisch verbindliche Zusage in Händen halte, daß die von Schreiber geplante Serie nicht erscheine.
Es war jetzt 11 Uhr 37 am 2. Mai 1961, und die Chefredakteurin hatte für alle Fälle längst ein Austauschtitelblatt vorbereiten lassen, denn die Produktion eines Farbtitels dauerte seine Zeit, und die nächste Nummer erschien in sechs Tagen.
Standpunkt der Redaktion: Wenn Schreiber gestattet wird, doch über die Nitribitt zu schreiben, hat OKAY Regierung und Wirtschaft gegen sich – mit allen Konsequenzen!
Standpunkt des Vertriebschefs: Was Schreiber da vorschwebt, ist ein Bericht, in dem der Autor alles auf den Kopf stellen wird! Das habe er ja versprochen! In der Praxis wäre das dann so: Schreiber schließt einige Dinge von vornherein als absolut unsinnig und bösartige Unterstellung aus, so etwa die Möglichkeit, eine ganze Reihe von Industriebossen habe einen Killer aus Übersee angeheuert für den Mord an einer unbequemen Mitwisserin von Rüstungsgeheimnissen, die, wie man aus anderen Fällen wisse, manche Herren im Bett auszuplaudern nicht umhin könnten. Schreiber werde das als total absurd bezeichnen – aber in aller Farbenpracht ausmalen! Folge – so meine jedenfalls Schreiber: Kein Mensch könne OKAY an den Wagen fahren!
In dieser Situation des Kampfes aller gegen Schreiber also hatte die Redaktion Jakob telefonisch gebeten, schnellstens nach München zu kommen und zu entscheiden.
»Wie haben Sie sich die Serie denn vorge …«, begann Jakob, da klingelte das Telefon, das vor ihm stand.
»Ferngespräch aus Rostow, Herr Formann, dringend«, sagte ein Mädchen aus der Telefonzentrale.
Dann war Jakobs Freund Jurij Blaschenko zu hören, atemlos: »Jakob? Wieso bist du in München? Du weißt doch, daß wir hier die Einweihung des Werks haben! Du mußt sofort …«
»Ich komme ja auch sofort!«
»Sofort ist nicht schnell genug! Uns ist eine Katastrophe passiert! Wir alle sind reif für Sibirien, wenn du nicht …«
»Eines nach dem andern, Jurij. In München geht es auch drunter und drüber. Ich rufe in einer halben Stunde zurück«, sagte Jakob und legte den Hörer in die Gabel. Ein Leben führt man … ein Leben …!
Er sah Schreiber an.
»Also bitte, Ihre Vorstellung von der Serie, aber rasch, Schreiber!«
»B … Bitte, Ch … Chef!« Schreiber hielt einen Doppelbogen Layoutpapier hoch, auf dem bereits die Text- und Bildeinteilung festgelegt war und eine gezeichnete Schrift quer über beide Seiten schrie:
OKAY-LESER JAGEN DEN MÖRDER DER NITRIBITT!
»Da … Das ist die g … größte Ge … Geschichte, d … die wir je ge … gehabt haben, Ch … Chef! U … Unsere Leser als D … Detektive! Die unfähige P … Po … Polizei! Die k … korrupte Industrie! O … OKAY-Leser reißen ihnen allen die M … Maske vom Ge … Gesicht! Be … Belohnungen z … zum A … Anreiz!«
»Sie wollen damit ein Preisausschreiben verbinden?«
»Na … Natürlich. T … Tau … Tausend Preise. V … Vom Eigenheim bi … bis zu ei … ei … einem R … Roman von mir! Ch … Chef, so etwas k … kommt nie wieder! Ha … Habe ich Ihnen nicht immer g … gut geraten? De … Denken Sie an die S … Serie gegen die N … Nazis! Wie ich dagegen wa … war von A … Anfang an! Wie a … alles in E … Erfüllung gegangen ist, wa … was ich p … pro … prophezeit habe!« (Verdammt, dachte Jakob, das Belastungsmaterial gegen diesen Herresheim, das Jurij nach Bonn geschickt hat, liegt nun auch schon seine vier Jährchen dort. Sauerei. Nichts ist passiert, überhaupt nichts! Da muß ich mal ein paar SPD-Abgeordnete mit der Nase draufstoßen. Wenn man nur nicht so herumgehetzt würde …) »S … Seit Anfang an bi … bin ich hi … hier d … der F … Feu … Feuerwehrma … mann vom Dienst! Lä … Längst zusperren hätten S … Sie Ihren L … Laden sonst k … können! Mi … Mir r … reicht es jetzt! Entweder w … wi … wir b … bringen die S … Serie oder ich k … kü … kündige!«
»Wenn die Serie gebracht wird, kündigt die gesamte Redaktion«, sagte Frau Dr. Ingeborg Malthus eisig. Textchef Dr. Drissen hob seinen Arm.
»Lassen Sie den bloß unten!« sagte Jakob, gefährlich ruhig. »Unten lassen, habe ich gesagt, sonst fliegen Sie gleich!« Der Textchef senkte gehorsam sein Ärmchen.
»Na – Kornfeld?« Jakob wandte sich an den Vertriebschef, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. Er mußte nach Rostow! Da war also etwas schiefgegangen, verflucht! »Nun machen Sie schon, Kornfeld!«
Oskar Kornfeld, ein sehr großer, sehr dicker Mann, sagte: »Also, ich bin der einzige, der hinter Herrn Schreiber steht, voll und ganz. Was er da bringen will, wird unsere Auflage nur so hinaufschnellen lassen! Dagegen ist der Kerl da aus der Industrie mit seinem Farbtitelbild ein Dreck! Lassen wir den! Der bringt uns keinen einzigen Leser mehr! Aber Schreibers Story … also, da wette ich, daß wir hundert- bis hundertfünfzigtausend Leser mehr kriegen!«
»U … U … Und die Sa … Sache ist mit der R … Rechtsabteilung lä … längst wasserdicht gemacht, Ch … Chef! Ka … Kann uns k … keiner w … wa … was anhaben!«
»Aber eine Inseratensperre wird man über uns verhängen«, schrie Dr. Drissen. (Er ließ sein Ärmchen unten.)
»Das geht nicht so leicht, Herr Doktor Drissen«, sagte der Vertriebschef. »Wer unter solchen Umständen – wenn wir doch ausdrücklich Großindustrie als Urheber des Mordes ausschließen! – jetzt Inserate zurückzieht, der steht mies da, steht obermies da! Die Leute werden sich sagen: Nanu, hat der vielleicht doch Dreck am Stecken? Außerdem haben wir schließlich die Marktwirtschaft, den freien Wettbewerb! Da ist es nicht mehr so wie seinerzeit bei der Nazi-Serie! Heute ist die Konkurrenz da! Heute muß die Industrie inserieren!«
»Was soll denn bei Ihrer Serie eigentlich herauskommen, Schreiber?«
»Na, m … mehr Le … Leser na … natürlich, h … hö … höhere A … Auflage. Sie ha … haben’s doch gehört, Ch … Chef!« Behutsam goß Schreiber sein Glas wieder voll.
»Und Sie meinen, unsere Leser finden den Mörder?«
»N … Natürlich n … n … nie! Da … Das ist do … doch auch sch … scheißegal. W … Wollen Sie den M … Mörder – oder w … wollen Sie m … mehr Auflage? Mit den The … Themen, die wir zur Z … Zeit haben, fä … fällt doch die A … Auflage, ha … habe ich recht, K … Kornfeld?«
»Herr Schreiber hat recht. Hat schon unzählige Male recht gehabt. Und immer wenn es kritisch wurde, hat er eine Serie geschrieben, die uns wieder nach oben riß. Und alle Leser sind gepackt gewesen!« assistierte Kornfeld. »Und die Auflage ist gestiegen und gestiegen, Herr Formann!«
»U … Und ich ver … verdanke die … dieser A … Arbeit hier mei … meine erste E … Ent … Entziehungskur!«
»Die hat aber nur sehr kurz vorgehalten«, bemerkte Frau Dr. Ingeborg Malthus giftig.
»Hö … Hören Sie, ich s … sage ja, ich k … kann auch g … gehen!« Schreiber wurde wütend. »D … Das ist also der D … Dank f … für mei … meine Sch … Schufterei in d … diesem I … Idi … Idiotenstall!«
»Also, das ist doch …«
»Noch ein Wort, und ich vergesse mich …«
Das Telefon läutete.
»Ruhe!« brüllte Jakob, während er den Hörer nahm.
Es war wieder Jurij Blaschenko. Diesmal weinte er: »Jakob, mein Freund, mein guter Freund, du mußt augenblicklich kommen, es ist schon wieder etwas passiert. Ich kann es am Telefon nicht sagen. Aber wenn du nicht sofort hilfst, sind wir alle verloren!«
»Nicht verzagen, Formann fragen! Ich fliege in einer halben Stunde ab.« Jakob knallte den Hörer in die Gabel. »So«, sagte er. »Und wegen einer solchen Lächerlichkeit wird Jakob Formann aus Tokio gerufen, Frau Doktor Malthus?«
»Das ist keine Lächerlichkeit, Herr Formann! Wie ich Ihnen am Telefon sagte, sind wir – der ganze Redaktionsstab – entschlossen, fristlos zu kündigen, wenn Schreibers Serie von Ihnen genehmigt wird.«
Jakob lehnte sich vor.
»Schreiber!«
»Ch … Chef?«
»Sie kennen Gott und die Welt. Wie lange dauert es, bis Sie eine neue Redaktion zusammengestellt haben – aus erstklassigen Journalisten?«
»Z … Zwei, h … höchstens d … drei T … Tage, Ch … Chef.«
»Dann tun Sie’s!« Jakob sah rund um den Tisch. »Meine Entscheidung ist gefallen. Ich lasse mich von Ihnen nicht erpressen, verstanden? Ich nehme Ihre pauschale Sofortkündigung an. Heute abend sind Ihre Schreibtische geleert. Schreibers Serie kommt in die nächste Nummer!«
»Das können Sie nicht machen!« kreischte Frau Dr. Ingeborg Malthus.
»Das kann ich sehr wohl machen! Jakob Formann ist Verleger und Besitzer der Mehrheit. Sie bekommen Ihre Abfindungen, die Rechtsabteilung wird das übernehmen. Frau Kalder, die Witwe des ersten Lizenzträgers, werden wir mit einer Lebensrente beglücken, mit einer sehr hohen! Das wär’s.« Alle saßen erstarrt. Niemand brachte ein einziges Wort hervor. »Noch eine Frage? Nein, wie ich sehe. Von heute an bin ich Alleinbesitzer von OKAY! Wem’s nicht paßt, der kann vor Gericht gehen. Erreichen wird er nichts. Die Lage ist eindeutig gegen Sie alle. Sie sind gefeuert, alle miteinander! Was wollen Sie denn noch, Schreiber, ich habe es eilig, ich muß nach Rußland fliegen!«
»Jaja. I … Ich wollte s … sagen: Da … Das ist ja se … sehr nett, Ch … Chef, da … daß Sie z … zu mi … mir halten, a … aber wollen Sie es sich n … nicht doch noch m … mal überlegen? Sind doch ganz ne … nette und ganz b … begabte K … Kerle – die m … meisten wenigstens!«
»Jakob Formann hat sich alles gründlich überlegt, Schreiber! Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus! Und deshalb weiß er, daß hier jetzt frisches Blut nötig ist! Also basta. In den nächsten Tagen bin ich wieder über das Kulturhaus von Rostow am Don zu erreichen. Servus …«