2

»Die Jahre in der Sowjetunion sind entweder Rekord- oder Unkrautjahre, aber alle sind historisch«, sagte Jurij Blaschenko, nunmehr – und immer noch – einer der höchsten Beamten der höchsten Planungsstelle der UdSSR, am Abend des 4. Mai 1961. Danach umarmte er seinen Freund Jakob Formann, küßte ihn (ziemlich feucht) auf beide Wangen und murmelte erschüttert: »Neunzehnhunderteinundsechzig ist ein ganz besonders historisches Jahr für mich. Für ein paar hundert Genossen. Und für Sowjetunion.«

Es bleibt mir nichts anderes übrig, dachte Jakob und küßte zurück. (Das mit dieser Wangenküsserei unter Männern ist inzwischen überall auf der Welt Mode geworden, die Sowjets haben nur damit angefangen.)

Ausgetauscht wurden die erwähnten Zärtlichkeiten auf dem Flugplatz der Stadt Rostow am Don und daselbst am Fußende der Gangway von Jakobs ›Superconstellation‹, die ihn hierhergebracht hatte.

Das sind keine nassen Küsse, das ist etwas viel Schlimmeres, dachte unser Freund und rief erschrocken: »Du weinst ja, Jurij! Um Himmels willen, warum denn?«

»Na, weil das Jahr 1961 eben ein so besonders historisches Jahr ist für mich und ein paar hundert andere und für Sowjetunion. Ab mit uns nach Kasakstan, Wüsten bewässern«, murmelte Jurij und ließ seine Tränen fließen wie’s Bächlein auf der Wiesen.

»Reg dich nicht auf!« sagte Jakob mitfühlend und klopfte Jurij auf den breiten Rücken. »Was auch immer schon wieder passiert ist, ich bin jetzt da! Nicht verzagen, Formann fragen! Was ist also schon wieder passiert?«

»DX 330«, schluchzte Jurij.

»Was DX 330?« fragte Jakob streng. Hier mußte er streng sein zu seinem Freund, sonst heulte der immer weiter, und kostbare Zeit ging verloren.

»Haben wir nicht! Und in vier Tagen wird das Werk eröffnet, und Genosse Vorsitzender Ministerrat Chruschtschow kommt. Und da soll das Werk vollen Betrieb haben. Und ohne DX 330 können wir vollen Betrieb nicht aufnehmen, können wir gar keinen Betrieb aufnehmen und jetzt sag mir bloß noch, in Kasakstan gibt es die schönsten Mädchen der Sowjetunion!« Jurij heulte jetzt nicht mehr. Er war nur noch sehr verbittert. »Weißt du, was DX 330 ist?«

Jakob streckte sich.

»Jurij, mir tun alle Knochen weh. Das war ein verflucht weiter Flug hierher. Ich bin gekommen, so schnell es gegangen ist, um dir zu helfen. Aber jetzt mach mich nicht wahnsinnig! Ich will nicht wissen, was DX 330 ist, denn das weiß ich selber! Das ist ein Schweröl, das ihr bei der Plastikproduktion braucht. Wissen will ich, wieso ihr, Himmel, Arsch und Zwirn, das auch schon wieder nicht habt!«

Jurij Blaschenko sagte gramvoll: »Weil die Zentrale Planungsstelle in Moskau es zu einem Eisenkombinat weit hinter dem Ural geschickt hat und weil die dort schon damit arbeiten. Irgendein Idiot hat wieder einmal falsch geplant.«

»Reg dich nicht auf, Jurij, Idioten gibt’s überall.« Jakob gähnte. »Sollen die in Moskau euch doch anderes DX 330 schicken.«

»Können Sie nicht!«

»Können sie nicht?« Jakob runzelte die Augenbrauen.

»Nicht im Moment! Haben sich völlig verausgabt – und uns völlig vergessen. Für uns sind sie lieferfähig erst wieder in drei Wochen. Und in vier Tagen kommt Towaristsch Chruschtschow!«

»Ach, du liebe Scheiße!« Jakob setzte sich auf die unterste Stufe der Gangway. In der Dunkelheit sah er, auf einem Hügel der Stadt, herrlich weiß leuchtend das Riesenwerk, angestrahlt von vielen Scheinwerfern. Sein Riesenwerk! »Ausschauen tut das Ding ja wirklich schön!« meinte er.

»Nur Betrieb aufnehmen kann es nicht«, ächzte Jurij und setzte sich neben Jakob. Dann sagte er einen sehr langen und sehr komplizierten russischen Fluch auf.

»Vollkommen meiner Ansicht«, sagte Jakob. »Und wo kriegen wir jetzt das Schweröl her?«

»Die Rumänen hätten es«, antwortete Jurij mit erstickter Stimme.

»Na also, dann nix wie her damit!«

»Leicht gesagt. Gheorghiu-Dej.«

»Was heißt hier Gheorghiu-Dej?«

»Das ist Genosse Vorsitzender des Staatsrats Sozialistische Republik Rumänien.«

»Na und?«

»Na und, fragt er!« Jurij rang die Hände. »Mit dem Kerl haben wir täglich mehr Ärger.«

»Wieso?«

»Weil er eine Politik betreibt, die sein Land mehr und mehr von Moskau entfernt. Wenn wir den Gheorghiu-Dej jetzt um Schweröl bitten, kriegt der nur einen Lachanfall!«

»Das werden wir erst mal sehen«, sagte Jakob, erhob sich und stolperte die Gangway wieder hinauf.

»Wohin willst du?« erkundigte sich Jurij alarmiert.

»Wie heißt die Hauptstadt von Rumänien?« fragte Jakob neugierig. In Geographie hatte er immer nur Pintsche gehabt.

»Bukarest, Trottel!«

»Dann will ich jetzt sofort nach Bukarest«, gab Jakob freundlich winkend bekannt.

Hurra, wir leben noch
cover.html
haupttitel.html
navigation.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
chapter133.html
chapter134.html
chapter135.html
chapter136.html
chapter137.html
chapter138.html
chapter139.html
chapter140.html
chapter141.html
chapter142.html
chapter143.html
chapter144.html
chapter145.html
chapter146.html
chapter147.html
chapter148.html
chapter149.html
chapter150.html
chapter151.html
chapter152.html
chapter153.html
chapter154.html
chapter155.html
chapter156.html
chapter157.html
chapter158.html
chapter159.html
chapter160.html
chapter161.html
chapter162.html
chapter163.html
chapter164.html
chapter165.html
chapter166.html
chapter167.html
chapter168.html
chapter169.html
chapter170.html
chapter171.html
chapter172.html
chapter173.html
chapter174.html
chapter175.html
chapter176.html
chapter177.html
chapter178.html
chapter179.html
chapter180.html
chapter181.html
chapter182.html
chapter183.html
chapter184.html
chapter185.html
chapter186.html
chapter187.html
chapter188.html
chapter189.html
chapter190.html
chapter191.html
chapter192.html
chapter193.html
chapter194.html
chapter195.html
chapter196.html
chapter197.html
chapter198.html
chapter199.html
chapter200.html
chapter201.html
chapter202.html
chapter203.html
chapter204.html
chapter205.html
chapter206.html
chapter207.html
chapter208.html
chapter209.html
chapter210.html
chapter211.html
chapter212.html
chapter213.html
chapter214.html
chapter215.html
chapter216.html
chapter217.html
chapter218.html
chapter219.html
chapter220.html
chapter221.html
chapter222.html
chapter223.html
chapter224.html
chapter225.html
chapter226.html
chapter227.html
chapter228.html
chapter229.html
chapter230.html
chapter231.html
chapter232.html
chapter233.html
chapter234.html
chapter235.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html