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»Ich darf, lieber und verehrter Herr Formann, Ihnen namens und im Auftrage des Herrn Bundespräsidenten, der, wie Sie wissen, zu seinem allergrößten Bedauern verhindert ist, für Ihre Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband verleihen«, sprach der Bundesinnenminister anläßlich eines Festaktes am Nachmittag des 21. Juni 1961. Zum erstenmal im Leben hatte Jakob einen Frack anziehen müssen, und nun kennt der geneigte Leser auch den genauen Zeitpunkt, zu dem unser Freund anfing, dieses Kleidungsstück (ein Relikt – mehr: ein Fossil aus spätfeudalistisch-frühbourgeoiser Zeit wohlgemerkt!) zu hassen.

Eine illustre Gesellschaft hatte sich aus diesem Anlaß im Festsaal des Bundesinnenministeriums zusammengefunden und wurde nun Zeuge, wie Jakob Orden und Urkunde erhielt. Ein Kammerorchester spielte Vivaldi. Jakob Formann verlor zehn Worte des Dankes für die hohe Auszeichnung und machte ein beherrscht wütendes Gesicht, was keinen der Anwesenden erstaunte, denn alle Anwesenden kannten den Grund für seine üble Laune. Etwa einen Monat zuvor nämlich hatte es einen kleinen Skandal gegeben, oder eigentlich einen gar nicht so kleinen.

Das bekannte Nachrichtenmagazin der Bundesrepublik war etwa einen Monat zuvor mit einer aufsehenerregenden Titelgeschichte erschienen. Der Titel hatte ein Foto des Herrn von Herresheim gezeigt. Darunter war zu lesen gewesen: WIE LANGE NOCH?

Die Titelgeschichte beschäftigte sich mit der Tatsache, daß an wichtigen Stellen der Bundesrepublik alte Nazis saßen, und im besonderen und ausführlich wurde dabei auf Herrn von Herresheim Bezug genommen.

Vor viereinhalb Jahren hatte Jurij Blaschenko auf Jakobs Bitte hin der Bundesregierung belastendes Material über den ehemaligen Wehrwirtschaftsführer schicken lassen, der nun Persönlicher Referent des Staatssekretärs im Außenamt Seefahrt des Bundesverkehrsministeriums war und Jakob so viele Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Das Material war gut angekommen und bei der deutschen Bundesregierung viereinhalb Jahre lang gut liegengeblieben, ohne daß das geringste geschah. Viereinhalb Jahre sind eine lange Zeit, hatte Jakob nach seiner Rückkehr aus Rostow (und BAMBIS Verlust) gedacht, und man wird ihm da wohl zustimmen.

Infolgedessen hatte er Redakteure des erwähnten Nachrichtenmagazins auf das bei der Bundesregierung selig schlummernde Material gegen Herresheim aufmerksam gemacht und die Herren, wo nötig, mit Fotokopien versehen, die ihm sein Freund Jurij in freundschaftlichster Weise zuschickte. Gleichzeitig waren PRAWDA und ISWESTIJA so liebenswürdig gewesen, in zwei großen Artikeln bekanntzugeben, wie lange Material gegen ehemalige Nazigrößen bei der Bundesrepublik in Frieden ruht.

All dies hatte den Abgeordneten zum Deutschen Bundestag, Karl Höning (SPD), veranlaßt, in dieser Sache eine Große Anfrage an die Bundesregierung zu richten.

Die Sache erregte die Mitglieder des Deutschen Bundestages ungemein, und mit einer – immerhin! – Zweidrittelmehrheit stimmten sie dafür, daß die Angelegenheit des Persönlichen Referenten des Regierungssekretärs in der Außenstelle Seefahrt Hamburg im Bundesverkehrsministerium, Herrn von Herresheim, sofort vom zuständigen Herrn Minister zu bereinigen sei.

Etwa gleichzeitig hatte Jakob Gelegenheit erhalten, sein altes Wunschvorhaben einem Ausschuß von Parlamentariern zu erläutern. Es ging um den Bau eines großen luxuriösen Fahrgastschiffes! Wie er sich die Sache denn nun vorstelle, wurde er sehr liebenswürdig gefragt.

Nicht minder liebenswürdig erwiderte Jakob, er habe schon vor Jahren erläutert, wie er sich das vorstelle, wäre aber mitsamt seiner Vorstellung abgewiesen worden, nämlich von dem Herrn von Herresheim. Er sei aber gerne bereit, den Herren des Ausschusses (Jetzt habe ich dich, Herresschwein!) die Sache noch einmal zu erläutern. Besonders liebenswürdig sprach er sodann: »Ich bin bereit, das volle wirtschaftliche Risiko für den Betrieb des Schiffes zu übernehmen. Der Bau wird etwa einhundertfünfzig Millionen kosten. Ich hoffe, daß mir aus Mitteln der öffentlichen Hand vierzig Prozent Darlehen und vierzig Prozent Wiederaufbaumittel zur Verfügung gestellt werden. Zwanzig Prozent der Bausumme bringe ich selber ein.«

Das war nur eine reine Michael-Kohlhaas-Haltung (wenn Jakob natürlich auch keine Ahnung hatte, wer Michael Kohlhaas Kleistschen Angedenkens war). 1957 hatte er noch nicht Geld genug besessen, ein Passagierlinienschiff allein zu finanzieren. 1961 besaß er es – und viel mehr! Aber es ging dem Jakob hier nicht darum, daß er die Hilfe der Bundesregierung eigentlich gar nicht mehr nötig hatte, es ging ihm darum, daß er sie 1957 nötig gehabt – und nicht bekommen hatte! Es ging ihm (wie dem Kohlhaas) nicht um das Geld, es ging ihm um die Gerechtigkeit!

Nach halbstündiger Beratung stimmte der Ausschuß den Vorstellungen Jakobs zu. (Na also, Herresschwein!)

Der von Herresheim befand sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in Hamburg. Nachdem Jakob die Zustimmung zum Bau des Luxusliners und noch bevor er das Große Bundesverdienstkreuz erhalten hatte, ging er am Vormittag des 21. Juni 1961 in das Riesengebäude des Verbandes der Deutschen Unternehmer und daselbst in die Abteilung VI, um verschiedene wichtige Papiere für das Entwicklungshilfeprojekt zu holen, das er mit dem Premierminister der afrikanischen Republik Karania, Ora N’Bomba, ausgehandelt hatte. Von einer rotblonden Schönheit mittlerer Güteklasse wurde er im Zimmer des Vorstands der Abteilung VI des VDU gebeten, einen Augenblick Platz zu nehmen. Der Augenblick dauerte eine Stunde.

Jakob las eine Zeitung vom Tage aus. Er hatte Muße, sogar die Kino- und die Theaterprogramme, die Todesanzeigen und den Annoncenteil zu studieren.

Im Annoncenteil fand er dies:

ÖFFENTLICHE DANKSAGUNG

Endlich, nach genau 13 Jahren seelischer und materieller Not und beruflicher Nachteile, wurde der ›Dank des Vaterlands‹ Wirklichkeit! Nach über dreijähriger russischer Kriegsgefangenschaft habe ich heute DM 540,– sog. Heimkehrerentschädigung erhalten. Das entspricht einer Entschädigung

von pro Tag = 48 Pfennig

Dafür spreche ich meinem Vaterlande und dem Ausgleichsamt für die unbürokratische Bearbeitung meinen Dank aus.

Den jetzigen Soldaten empfehle ich, beizeiten eine Kriegsgefangenen-Versicherung abzuschließen für den Fall, daß der ›Dank des Vaterlandes‹ noch schmaler wird oder ganz ausbleibt.

Nass, Bezirksförster, Fürstenau

Gerade nachdem Jakob das gelesen hatte, öffnete sich eine Tür, und heraus ins Vorzimmer trat ein Hüne von Mann, elegant, blond und blauäugig. Wohlgenährt, gesund und kräftig. Er hielt eine Mappe.

»Hallo, mein lieber Herr Formann«, sprach der Hüne fröhlich und schlug Jakob krachend auf die Schulter.

Unser Freund plumpste in einen Sessel. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe, es wurde ihm schwarz vor den Augen, dann ermannte er sich und rief: »Herresschwein, Sie Heim …, ich meine: Herresheim, Sie Schwein, was tun denn Sie hier?«

»Aber, aber, Herr Formann, um Himmels willen, wie sprechen Sie denn?« entrüstete sich die Rotblonde (mittlerer Güteklasse).

»Lassen Sie nur, Jutta«, sagte der von Herresheim milde lächelnd. »Es ist nur die Wiedersehensfreude. Wir sind alte Bekannte. Hier, lieber Freund, bringe ich Ihnen alle Papiere, die Sie für Ihr Entwicklungshilfeprojekt benötigen.« Er drückte die Mappe Jakob in die linke Hand und schüttelte dem Erschütterten, der mit total blödsinnigem Gesichtsausdruck dasaß, markig die Rechte mit der eigenen Rechten.

»Wie kommen Sie hierher?« erkundigte sich Jakob endlich, leicht lallend.

Der von Herresheim lächelte väterlich und blickte stumm die Rotblonde (mittlerer Güteklasse) namens Jutta an.

»Herr von Herresheim ist der Persönliche Referent des Herrn Vorstands der Abteilung römisch sechs«, sagte die Jutta.

»Nun, also dann: Glück auf«, sagte der von Herresheim herzlich.

Jakob erhob sich mit der festen Absicht, dem Kerl in die ölig grinsende Fresse zu schlagen. Doch er glitt dabei aus und wäre gefallen, hätte der von Herresheim ihn nicht behutsam und schnell in seinen starken Armen aufgefangen.

»Hoppla«, sagte der von Herresheim. »Ja, ja, dieser Teppich rutscht immer, ich weiß. Also dann auf Wiedersehen, mein Lieber.«

Jakob raffte sich zu einer neuen Attacke auf, da traten wie durch Zufall zwei sehr breitschultrige Herren in den Empfangsraum und musterten ihn nachdenklich.

»Servus!« sagte Jakob Formann und machte, daß er fortkam.

Am Nachmittag des gleichen Tages wurde dann im Innenministerium Vivaldi gespielt, und Jakob erhielt das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband für ›Besondere Verdienste um den Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland‹. Der Orden war, wie schon der Name besagt, zu tragen am Großen Bande, der goldene Bruststern links.

Während das Kammerorchester sich durch das Vivaldi-Konzert für Viola d’amore, Violoncello, Flöte, Oboe und Fagott arbeitete und Jakob neben Hohen Herren des Ministeriums Platz genommen hatte, sagte der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland zu ihm: »Wundervoll, dieser Vivaldi, nicht wahr?«

Jakob nickte nur. Er konnte vor Wut nicht reden.

»Einer der großen Musiker seiner Zeit«, sagte der Minister. »Johann Sebastian Bach hat einige seiner Werke bearbeitet und ist von Vivaldi nachhaltig beeinflußt worden. Dieses Konzert haben wir eigens für Sie ausgesucht, mein lieber Herr Formann …«

Hurra, wir leben noch
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