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»Aber sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein, Theo«, sagte Jakob tags darauf. Er saß mit seinem Freund und Chauffeur Otto sowie dem ›Esquire‹-Theo an einem Tischchen des Cafés Hemesath an der Düsseldorfer Königsallee. Den Theo hatte Jakob noch nachts zuvor aus Bonn angerufen und gebeten, ihm zu helfen. Aus dem ›Esquire‹-Club, wo er Dienst tat, war sofort die Antwort gekommen: »Na klar, Herr Formann, treffen mir uns em Café Hemesath op de Kö. Dat jehört och dem Carlo. Et es wejen de Frau Martens, wat?«
»Ja. Wissen Sie, wo sie ist?«
»Nee. Awer sons en Menge.«
»Dann erzählen Sie!«
»Duert zo lange. Do es’ en Keilerei em Jang, Herr Formann, sidd net bös, ech moß do Freede stifte. Morje öm drei Uhr nommeddag? Ech moß mech doch usschlofe met min Nachtschecht.«
Jakob und Otto waren schon am Vormittag nach Düsseldorf gefahren. Da, wo einmal die Schaufenster der JULIA-MODELLE gewesen waren, fand Jakob ein Delikatessengeschäft vor. Im vierten Stock links wohnten fremde Menschen. Eine Frau Schubert öffnete. Nein, sie wisse nichts von Frau Martens, sie höre den Namen zum ersten Mal, sie sei mit ihrem Mann durch einen Wohnungsvermittler hier gelandet, früher hätten die Schuberts in Karlsruhe gelebt.
»Wann früher?«
»Na, bis vor sechs Jahren«, sagte Frau Schubert. Drei Kinder hatte sie, die eine Menge Krach machten. »1955 im September, da sind wir hier eingezogen. Seid doch mal ruhig. Kinder! Karl-Heinz, zieh der Ute nicht dauernd den Rock herunter, sonst setzt es was! Mein Mann ist bei der Steuer, wissen Sie, Herr Formann, sie haben ihn befördert und nach Düsseldorf versetzt. Tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, Herr For … Karl-Heinz! Jetzt kriegst du es aber …«
In dem Delikatessengeschäft war Jakob auch nicht weitergekommen. Die Geschäftsführerin hatte erklärt: »Wir sind eine Ladenkette, wissen Sie? Wallner-Delikatessen. Kennen Sie sicher. Über vierhundert Filialen in ganz Westdeutschland.« Die Geschäftsführerin senkte die Stimme. »Ich will ja nichts gesagt haben, aber da hat es Stunk gegeben, als der Herr Wallner diesen Laden gekauft hat von der Dame, die Sie suchen.«
»Was für Stunk?«
»Weiß ich nicht. Wegen dem Preis vermutlich. Sie haben sich dann geeinigt, heißt es …«
Absolut unergiebig erwies sich das Meldeamt. Ein magerer Mann in grauem Kittel suchte in Regalen, fand, was er suchte, und sprach zu Jakob: »Da haben wir sie ja schon! Martens, Julia, Graf-Adolf-Straße dreihundertzwölf.«
»Ja, und?«
»Und nichts. Abgemeldet am zwölften August 1955. Verzogen.«
»Wohin?«
»Woher soll ich das wissen, Herr?«
»Na, ich denke, das steht auch da, wenn man sich dann woanders angemeldet hat.«
»Nee, das steht dann nicht da! Nur, daß die Person weg ist. Und zwar weg aus Düsseldorf. Das steht fest. In Düsseldorf ist die Dame nicht mehr! Sonst hätten wir die neue Adresse. In der gleichen Stadt geht das. Aber nicht, wenn sie in eine andere Stadt gezogen ist – oder ins Ausland.«
»Wieso ins Ausland?« fragte Jakob aufgeregt.
»Wieso nicht ins Ausland, Herr? Macht eine Mark, die Auskunft …«
»Aber sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein, Theo«, sagte Jakob dann um drei Uhr nachmittag im Café Hemesath.
»Esse jo ooch net, Herr Formann. Die kann öwerall lewe, wat wesse mir? Dat se hee fott es, dat hätt ech dech jliich saje könne, Herr Formann. Nur wohenn, dat nich.«
»Warum ist sie weg?« fragte Jakob und fühlte, wie ihm das Herz weh tat.
»Na, weje der Hochziet, denk ech«, sagte Theo.
»Was für eine Hochzeit?« fragte sein Kriegskamerad Otto Radtke.
»Ihr Freund, de Schauspieler, de Herr Fromm, de hat doch die Edda jeheirat, et es de Tochter vom Direktor Mühsam von de CYRIO-Film – herrje, Herr Formann, wat haste denn da jemacht?«
Jakob hatte, weiß vor Zorn, auf den Tisch schlagen wollen und dabei seine Kaffeetasse getroffen. Der Erfolg war überwältigend. Tasse zerbrochen, Kaffee überallhin verspritzt, Anzug versaut, Hand aufgeschnitten …
Eine Kellnerin verarztete den Wortlosen. Eine andere kehrte die Scherben zusammen und wischte alles trocken. Das dauerte seine Zeit. Nachdem diese Zeit um war, sagte Jakob durch die Zähne: »Der Fromm, der Sauhund, der verfluchte. Prophezeit habe ich es dem Ha … der Julia! Klar ist mir gewesen, daß er sie nur ausnützt, der Schuft. Der Drecksack. Von Julia leben und warten, bis die Edda fünfzehn ist, und sich dann ranmachen an die … Wann war die Hochzeit, Theo?«
»Dat kann ech dech janz jenau saje, Herr Formann. Die wat am veeronzwanzigste August fünfonfuffzich. Ech weiß dat so janz jenau, weil ech am fünfonzwanzigste Geburtstag hab.«
»Herzlichen Glückwunsch. Und?«
»Und, na ja, die Hochziet … Janz fierliche Anjelejenheit! Piekfien! Es jo och ene stadtbekannte Mann, de Herr Direktor Mühsam. Die janz fiene Dösseldorfer Jesellschaft wor do, e Stadtereignis! Fotos on Berechte en de ›Rheinische Post‹ on all dene andere Ziedonge.«
»Da ist die Edda neunzehn gewesen.« Jakob nickte.
»Ja, und der Fromm, der Fromm, wie he dann met de Edda zusamme wor, da es he sofort danach in die Filmfirma vom Direktor Mühsam einjetreten, und da es he immer noch. Jetzt führt er die CYRIO-Film!« Theo räusperte sich. »Na ja, und jliech no de Hochziet, do hät de Frau Martens sech dönn jemacht. Alles öwer en Ajentur afweckele lasse, Wohnungsverkauf, Geschäftsverkauf.«
»Also, dieser Fromm, das ist schon ein Riesenschuft, Jakob, das muß ich ja sagen«, versuchte Otto seinen Chef zu trösten, der völlig erstarrt dasaß. Ach, Hase, Hase, Hase, dachte Jakob. Wie ist das alles schrecklich.