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Kein Mensch in Theresienkron schlief in dieser denkwürdigen Nacht, die noch heute, dreißig Jahre später, festlich begangen wird mit Musik und Tanz, gewaltigem Fressen und noch gewaltigerem Suff. Nur die Babys und die ganz Alten und Siechen waren in Ruhe gelassen worden. Im übrigen hatte, wie Jakob bei seinem ersten Eintreffen gerührt sah, der Hase alles bis ins letzte vorbereitet. Bauern, Bäuerinnen, der Geistliche Herr, Knaben und Mädchen standen bereit, um die anrollenden Laster abzuladen. In Windeseile geschah diese Arbeit. In gleicher Windeseile wurden die einzelnen Kisten zu den einzelnen Höfen (eine in das Gärtlein hinter dem Kirchlein) gebracht – auf Leiterwagen, Kinderwagen, einem Leichenwagen mit zwei halbverhungerten Pferden. Jakob sah, wie der Hase das Entladen und Verteilen leitete. Hätte Julia den Krieg geführt anstelle unserer ach so tapferen Generäle, dachte Jakob erschrocken, dann hätten wir ihn, Gott soll abhüten, am Ende noch gewonnen! Er rief nach ihr. Sie winkte. Ach ja, dachte er, ich weiß schon, was ich habe an meinem Hasen. Wendete und fuhr zurück zum Fliegerhorst.
Als Jakob das nächste Mal Mojshe traf, hatte der Mann, der alles wußte, folgendes mitzuteilen: »Natürlich ist das Interesse an Hühnern in unserer Familie erhalten geblieben. Zu Hause« (er meinte: in Amerika) »hat man gerade festgestellt, daß Hennen besser legen, wenn Schlagermusik ertönt!«
»Blödsinn.«
»Gar kein Blödsinn, Jake! Frankie-Boy haben sie am liebsten! Das habe ich erst vorige Woche in STARS AND STRIPES gelesen. Schau mal: Bei uns in den großen Warenhäusern gibt es längst Dauerberieselung mit Fumu.«
»Mit was?«
»Funktioneller Musik. Die versetzt die Kunden in die rechte Kaufstimmung. Vor ein paar Jahren haben verschiedene Forscherteams so ein Fumu-Experiment auf Hühnerhöfen gemacht. Zwei Gruppen von Hennen getrennt, A und B. A keine Fumu. B dauernd Fumu.«
»Na und?«
»Was ich dir sage, Jake! Mittlere Werte: Unter Musikberieselung lebende Hennen haben in hundertfünfundvierzig Tagen neunhundertfünfzig Eier gelegt – hundertfünf mehr als die, die schlagerlos gelebt haben. Wie gesagt, vor allem Frank Sinatra macht müde Hennen munter! Du mußt dir unbedingt alle seine Platten besorgen und einen Plattenspieler. Viele Plattenspieler!«
»Woher?«
»Mojshe wird sehen. Mojshe wird organisieren. Mojshe weiß auch schon, wo er Platten und Plattenspieler organisieren wird!«
»Nämlich?«
»Nämlich Mojshe hat Freunde beim ›Blue Danube Network‹!« (›Blue Danube Network‹ war das österreichische Gegenstück zum ›American Forces Network‹, kurz AFN, in der US-Zone Deutschlands.) »Das nächste Mal, wenn ich frei habe und nach Wien komme, schau ich mich da mal um …«
Stunde um Stunde verrann.
Langsam leerte sich der Riesenrumpf des ehemaligen Bombers. Zahlreiche Küken wurden in diesen Stunden geboren. Die Bodenmannschaft, die das Feuerchen unterhielt, zeigte sich immer ausgelassener. (Sechs Flaschen Bourbon!) Ist doch schön, wie allen die Arbeit von der Hand geht, dachte Jakob, als er wieder einmal an der Brandstelle vorüberrumpelte.
Gegen drei Uhr früh war er gerade neuerlich beim Beladen, da schlenderte der Fluglotse Tommy Lewis heran. Er fühlte – Biologiestudent! – Verantwortung. »Sehr wichtig! Noch etwas, was du noch nicht wissen wirst. Und du mußt jetzt eine Menge wissen!« Jakob nickte gramvoll. Das war ihm schon selber klargeworden. »Die Futteraufnahme bei Hühnern ist komplizierter, als du denkst. Versuche haben erwiesen, daß Hennen im Vergleich zu Hähnen eine wesentlich höhere Pickgenauigkeit haben.«
»Sag das noch mal!«
»Ja, ich weiß, da muß man eine höllisch präzise Aussprache haben. Pickgenauigkeit! Und zwar ergeben sich die Probleme aus dem nur schwach entwickelten Bewegungsapparat der Hühneraugen!«
»Aha.«
»Das Huhn richtet immer abwechselnd ein Auge auf das entdeckte Korn und ermittelt so die Entfernung. Dann kommt es zu einer Reflexbewegung, die die Wissenschaftler ›Pickschlag‹ nennen. Der ›Pickschlag‹ erfolgt aus einer Entfernung von ein bis drei Zentimetern. Kannst dich drauf verlassen. Ich vergesse nie eine Zahl.«
»Weiß ich.«
»Na ja, und die Pickgenauigkeit bei den Hennen liegt zwischen achtundvierzig und zweiundneunzig Prozent. Die Hähne müssen ihre Hälse bis zum Sattwerden viel öfter senken. Bei ihnen beträgt die Treffsicherheit nur vierzehn bis zweiundfünfzig Prozent.«