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»Verkaufen?« echote Jakob Formann.

»Und zwar gleich! Jetzt, wo Sie noch am meisten dafür kriegen! Jeder Auflage sind Grenzen gesetzt. Bei OKAY ist diese Grenze erreicht, wenn nicht schon überschritten. Die Auflage kann nur noch fallen – und wenn wir noch so gut sind! Gute Illustrierte werden bald schon nicht mehr gefragt sein, Chef! Die Zeiten haben sich auch hier geändert! Alles hat sich geändert, Chef, alles!«

»Zum Beispiel was, Schreiber?«

Schreiber sagte (in fließender Sprache und mit melodiöser Stimme), was sich zum Beispiel geändert hatte, obwohl es den Deutschen noch wie Gold ging …

Also zum Beispiel:

In der Stahlindustrie wurden Massenentlassungen für das übernächste Jahr erwogen.

Bonns jüngstes Volksaktien-Papier VEBA war auf dem besten Wege, unter die Ausgabequote zu sinken.

Das Bundeswirtschaftsministerium sagte für die Bundesrepublik Deutschland voraus, daß die Wachstumsrate von noch 4,4 Prozent auf 3,4 Prozent zurückgehen würde.

Im Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer Dortmund hieß es, daß zwar noch alles in Ordnung sei, daß indessen schon das Jahr 1966 ›erstmalig eine echte Krise‹ bringen könne. Das Investitionsklima sei schon merklich abgekühlt, außerdem müsse mit scharfen Arbeitskämpfen gerechnet werden …

»… und so weiter und so weiter«, sprach Klaus Mario Schreiber. »Diese Warnsignale für die nahe Zukunft – ich interessiere mich sehr für Wirtschaft, wissen Sie, Chef – werden sehr bald eine Wohlstandsgesellschaft beunruhigen, für die der Konsum längst nicht mehr nur der Abwehr materieller Not dient!«

Jakob war nachdenklich geworden.

»Erinnern Sie sich, Chef!« bat Schreiber. »1947 haben sich die Menschen noch mit Tonseife den Dreck vom Körper geschabt. Im nächsten Jahr, so die Voraussage, werden sie eintausendundzweiunddreißig Millionen Mark für Körperpflegemittel ausgeben. Das geht überall so! Erich Kuby, dieser prima Kerl und gescheite Autor, hat über ›die Plage mit dem Wohlstand‹ geschrieben, und daß ihretwegen die ›Zeit der schönen Not‹ vergessen worden ist! Die Alten unter den Wunderkindern sind ohnedies der Ansicht, daß das alles auf die Dauer nicht so weitergehen kann! Die erinnern sich noch an die Zeit, in der in Frankfurt Vitaminpillen verteilt worden sind und ein Göttinger Universitätsprofessor der Bevölkerung geraten hat: ›Schlaft mehr und geht früher ins Bett, denn dadurch spart ihr Kalorien!‹«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Schreiber, Sie gefallen mir nicht. Ihnen fehlt der Whisky. Besoffen waren Sie immer so lustig und optimistisch. Jetzt, nüchtern, sind Sie ein altes Klageweib, das mir Angst machen will!«

»Ich will Ihnen keine Angst machen, Chef. Ich habe Sie sehr, sehr gerne. Sie waren immer gut zu mir. Ich will Sie warnen und beschützen.«

»Das ist lieb von Ihnen, aber Sie übertreiben!«

»Ich übertreibe gar nicht!« Schreiber regte sich auf. »Erinnern Sie sich! 1947, im Hochsommer, hat man in Deutschland – einmalig in der Welt! – ein sogenanntes ›Speisekammergesetz‹ erlassen! Den letzten Brotkrümel hat man deklarieren müssen! Die feinsten Leute haben in städtischen Parks Brennholz gestohlen. Und haben eine ›Kochhexe‹ gehabt – ein abgeschnittenes Ofenrohr! Und darauf haben sie sich aus Grieß, Zwiebeln und, so sie hatten, etwas Fett in zerbeulten Töpfen die sogenannte ›falsche Leberwurst‹ gemacht! Die haben sie dann auf Soja- oder auf Maisbrot gepappt! Heute? Schauen Sie sich die anderen Großen im Land an! In zehn Jahren haben wir vierhundertfünfzig Millionen Tonnen Beton verbaut! Das würde ausreichen, eine zwei Meter hohe Mauer zweimal rund um die Erde zu ziehen! Jedermann braucht heute sein Eigenheim! Seinen Grill im Garten! Sein Auto – aber immer das neueste und teuerste!«

Jakob sah Schreiber unfreundlich an.

»Und was ist da falsch dran?«

»Daran ist noch gar nichts falsch, Chef! Aber bei uns ist die alte Volkskrankheit wieder ausgebrochen: Wir sind maßlos geworden!«

»Nun übertreiben Sie aber, Schreiber!«

»Übertreiben? Ich untertreibe, Chef! In keinem Land der Welt – außerhalb der USA und Kanadas – wird heute kürzer gearbeitet! 1952 noch achtundvierzig Stunden in der Woche! Jetzt blasen die Gewerkschaften bereits zum Sturm auf die Fünfunddreißig-Stunden-Arbeitswoche!«

»Wirklich, Schreiber, nüchtern sind Sie kaum zu ertragen!«

»Mir hat’s in diesem Land besoffen auch besser gefallen, Chef! Aber ich habe einfach aufhören müssen! Und da sehe ich jetzt zu meinem Kummer: Wir sind zu frech, wir sind zu fett, wir sind zu unverschämt geworden! Und das hat Folgen! Die Aktienkurse sinken bereits! Unser Außenhandel saust runter, daß es eine wahre Pracht ist! Stahl- und Bauwirtschaft gelten nicht mehr als impulsgebende Industrien!«

»Schreiber, jetzt hören Sie aber endlich auf, alles mies zu machen! Es geht uns so blendend wie nie zuvor«, sagte Jakob streng.

»Noch, Chef, noch! Noch haben wir genügend Gold- und Devisenreserven! Noch kommen wir mit denen auch durch eine große und lange Flaute! Nur zu lange darf die nicht dauern!«

Jakob war plötzlich nachdenklich geworden.

»Na ja«, sagte er, »das ist natürlich alles wahnsinnig übertrieben, was Sie da von sich gegeben haben, Schreiber, aber ein bißchen zu wild fahren tun wir schon. Ich muß mich auf einige große Projekte konzentrieren. Ich darf mich nicht zersplittern. Sie haben recht: Ich muß OKAY verkaufen, solange die Auflage noch so hoch ist und ich am meisten bekomme. Aber was machen Sie dann? Ich meine – entschuldigen Sie –, von Ihren Büchern können Sie doch immer noch nicht leben!«

Der Ex-Trunkenbold stand auf und blickte Jakob tragisch an.

»Was ist jetzt los?« fragte Jakob. »Was soll der tragische Blick?«

»Es bricht mir fast mein gottverdammtes Herz, Chef, aber wir haben Ihnen noch etwas zu sagen.«

»Wir? Was heißt ›wir‹?«

»Ich bin nicht allein gekommen. Ich bin zu zweit gekommen. Aber ich habe zuerst mit Ihnen allein reden wollen, um zu sehen, ob Sie auch in der Verfassung sind …«

»In was für einer Verfassung?«

»In einer genügend guten …« Schreiber war plötzlich verlegen.

»Ich bin in einer genügend guten Verfassung!« Der alte Jakob war wieder da. »Mit Ihrem blöden Witz haben Sie mir tatsächlich geholfen!«

»Sie haben keine Schuldgefühle mehr?«

»Nicht die geringsten! Morgen haue ich hier ab! Und verkitsche die OKAY! Nun sagen Sie mir schon, was Sie mir zu sagen haben! Es wird mich nicht umhauen! Holen Sie den zweiten Mann rein, mit dem Sie gekommen sind – wer immer es ist!«

Klaus Mario Schreiber nickte, ging zur Tür, öffnete sie und machte jemandem, der auf dem Gang draußen stand, ein Zeichen, einzutreten. Der zweite Mann trat ein und blieb bei der Tür stehen. Es war nur kein Mann.

Es war eine Frau. Und das haute unsern Jakob doch fast um. Ein Glück, daß er schon im Bett lag!

»Guten Tag, lieber Jakob«, sagte die blonde Claudia Contessa della Cattacasa.

Hurra, wir leben noch
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